Gefährliche Zappelphilipp-Therapie |
28.09.2006 10:30 Uhr |
Gefährliche Zappelphilipp-Therapie
Von Bettina Wick-Urban
Medikamente zur Behandlung von Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) können bei Kindern und Erwachsenen zum plötzlichen Herztod führen. Die amerikanische Zulassungsbehörde hat deshalb kürzlich die Hersteller aufgefordert, die Produktwarnhinweise zu verschärfen.
Bereits die bislang gültigen Gebrauchsinformationen wiesen auf das Risiko eines plötzlichen Herztodes bei Kindern mit strukturellen Herzanomalien hin. Von der Einnahme von Stimulanzien wie Methylphenidat (zum Beispiel Ritalin®) und Amphetaminen wurde abgeraten. Zukünftig werden Ärzte und Eltern davor gewarnt, »Kindern und Jugendlichen mit vorliegenden strukturellen Herzanomalien, Kardiomyopathien, schwerwiegenden Herzrhythmusstörungen oder sonstigen schwerwiegenden kardialen Störungen, Stimulanzien zu verabreichen. Da diese eine erhöhte Empfindlichkeit für die symphathomimetischen Effekte von Stimulanzien haben«. Weiterhin sollten alle Patienten vor der Verordnung eines Stimulanz auf kardiovaskuläre Erkrankungen untersucht werden. Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) hat auch Lilly, den Hersteller von Atomoxetin (Strattera®) aufgefordert, den Warnhinweis zu verschärfen. Der genaue Wortlaut ist noch nicht bekannt. Er unterscheidet sich vermutlich jedoch von dem der Stimulanzien aufgrund des unterschiedlichen Wirkmechanismus von Atomoxetin (1).
Grundlage für diese Maßnahmen war eine Analyse der kardiovaskulären Nebenwirkungen, die der Behörde für die betroffenen Präparate gemeldet wurden. Im Zeitraum von Januar 1999 bis Dezember 2003 wurden für Methylphenidat über acht Fälle von plötzlichem Herztod berichtet, bei denen ein ursächlicher Zusammenhang vermutet wurde. In sieben Fällen waren die Patienten jünger als 18 Jahre. Für den gleichen Zeitraum wurden für Amphetamine 17 Fälle gemeldet, davon zwölf bei Kindern und Jugendlichen. Weiterhin registrierte die Behörde 19 beziehungsweise 35 schwerwiegende kardiovaskuläre Nebenwirkungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall für Methylphenidat und Amphetamine (2). Sieben Atomoxetin-Patienten starben durch plötzlichen Herztod im Zeitraum von November 2002 bis Februar 2005 (3). Die Komplikationsraten bezogen auf 100.000 Patientenjahre lagen mit 0,2 bis 0,5 niedriger als für eine unbehandelte pädiatrische Population (1,3 bis 8,5 Fälle von plötzlichem Herztod bezogen auf 100.000 Patientenjahre). Jedoch ist von einer hohen Dunkelziffer ungemeldeter Fälle auszugehen. Studien zeigten, dass nur 1 bis 10 Prozent aller schwerwiegenden Nebenwirkungen bei der FDA eingehen (4).
Als Ursache für die Todesfälle wird die herzfrequenz- und blutdrucksteigernde Wirkung der Stimulantien angenommen. In placebokontrollierten Studien beobachteten die Behandelnden einen Anstieg des systolischen Blutdrucks von rund 5 mm Hg bei Gabe von Methylphenidat und Amphetaminen (5). Ein Blutdruckanstieg in dieser Größenordnung erhöht, besonders bei chronischer Therapie, das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko. Eine erhöhte Herzfrequenz über längeren Zeitraum führte bei Tieren mit dilatierter Kardiomyophathie zu chronischem Herzversagen (6).
Bei Atomoxetin ist der zugrunde liegende Auslöser für die beobachteten Todesfälle weniger klar. Atomoxetin ist ein selektiver nicht-stimulierender Inhibitor des präsynaptischen Noradrenalin-Transporters. In placebokontrollierten Studien wurden mäßige Pulserhöhungen von sechs Schlägen pro Minute und Blutdrucksteigerungen von 2 bis 3 mm Hg beobachtet (7-9).
Diskussion ist kontrovers
Die beschlossenen Maßnahmen werden von Experten kontrovers diskutiert. Dr. Steven Nissen, Cleveland (USA), war einer der FDA-Experten, der für einen verschärften Warnhinweis und eine zusätzliche Patientenbroschüre plädierte. Er argumentierte im Fachmagazin »New England Journal of Medicine« (NEJM), dass »die blutdruck- und herzfrequenzsteigernde Wirkung der Stimulantien, die schwerwiegenden Nebenwirkungen von Ephedra (mit den Inhaltsstoffen Ephedrin und Pseudoephedrin) und Phenylpropanolamin als inzwischen verbotene Vertreter dieser Stoffklasse und die rasch größer werdende Zahl von Patienten, die mit ADHS-Präparaten behandelt werden, ein rasches und konsequentes Handeln erforderten (10). Ähnlich besorgt äußerte sich Leszek Wojnowski, Universität Mainz, in seinem Leserbrief an das NEJM, dass immer häufiger die Diagnose ADHS gestellt werde und die medikamentöse Behandlung der betroffenen Kinder stark zunehme. Diese Entwicklung ist nicht nur in USA, sondern auch in Deutschland zu beobachten. Im Jahr 2004 wurden laut Arzneiverordnungsreport 26 Millionen Methylphenidat-Tagesdosen verordnet, ein Anstieg um das Zwanzigfache innerhalb von zehn Jahren (11, 12). In derselben Ausgabe des NEJM befürchteten Dr. Thomas Anders (Amerikanische Akademie für Kinder- und Jugendpsychiatrie) und Dr. Steven Sharfstein (Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft), dass »durch die verschärften Warnhinweise Patienten und ihre Familien entmutigt werden, ein effektives Medikament einzunehmen«. Sie wiesen darauf hin, dass Patienten mit unbehandelter ADHS ein höheres Risiko haben, in der Schule zu versagen, drogenabhängig zu werden oder einen Autounfall zu verursachen (13).
Auch die Deutsche Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte wies in ihrer Stellungnahme zu den von der FDA geplanten Maßnahmen auf »die hervorragende Nutzen/Risiko-Relation von Stimulantien insbesondere Methylphenidat« hin. Weiterhin hält sie die Aufnahme zusätzlicher Warnhinweise in der Gebrauchsinformation und die Empfehlung bei jedem Patienten vor der medikamentösen Einstellung ein EKG und EEG durchzuführen, für nicht sinnvoll. Jedoch sollte jeder Patient vor der medikamentösen Einstellung gemäß den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft ADHS sorgfältig untersucht werden (14, 15).
In der deutschen Fachinformation von Ritalin®, das seit Januar 1997 in Deutschland zugelassen ist, findet sich ein Warnhinweis, wonach bei »Kindern mit strukturellen Herzanomalien im Zusammenhang mit der Anwendung von Stimulantien (. . .) über plötzliche Todesfälle berichtet wurde. Ein ursächlicher Zusammenhang mit Stimulanzien konnte nicht festgestellt werden, da einige strukturelle Herzanomalien an sich mit einem erhöhten Risiko für einen plötzlichen Tod einhergehen. Generell sollten Stimulantien bei Patienten mit bekannten strukturellen Herzanomalien nicht angewendet werden« (16). In der Fachinformation von Strattera®, das seit Dezember 2004 in Deutschland zugelassen ist, ist keine entsprechende Warnung aufgeführt. Jedoch wird darauf hingewiesen, dass Atomoxetin vorsichtig eingesetzt werden sollte bei vorliegender Hypertonie, Tachykardie, kardiovaskulären Erkrankungen oder Arrhythmien (9). Amphetamine sind in Deutschland nicht als Fertigarzneimittel im Handel. Sie können als individuelle Rezeptur verordnet werden.
Die Diagnose ADHS wird in Deutschland bei Kinder und auch Erwachsenen immer häufiger gestellt. Die an ADHS leidenden Kinder und Jugendlichen zeigen Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie körperliche Unruhe und einen starken Bewegungsdrang. Zudem neigen sie zu impulsivem und unüberlegtem Handeln. Die Symptome können unterschiedlich stark ausgeprägt sein, wobei die Hyperaktivität mit zunehmendem Alter abnimmt. Im Erwachsenenalter sowie bei weiblichen Patienten aller Alterstufen ist die Aufmerksamkeitsstörung das vorherrschende Symptom. Es wird geschätzt, dass in Deutschland 2 bis 6 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter ADHS leiden, wobei Jungen drei- bis neunmal häufiger davon betroffen sind. ADHS-Patienten haben oft zusätzliche Erkrankungen, wie Störungen des Sozialverhaltens, Angststörungen, Depressionen, Tic-Störungen, Lern- und Koordinationsstörungen.
Ein Zusammenspiel von vererbten neurobiologischen und psychosozialen Faktoren wird als Auslöser der Krankheit vermutet. Durch einen verminderten Dopamingehalt im Gehirn kommt es zu einer fehlerhaften Informationsverarbeitung zwischen Frontalhirn und Basalganglien. Dadurch sind Koordination, emotionale Steuerung und Aufmerksamkeit gestört. Ob es bei Kindern mit einem erhöhten Risiko für ADHS zum Ausbruch der Krankheit kommt, hängt im Wesentlichen von den Lern- und Umweltbedingungen ab, in denen die Kinder aufwachsen. Reizüberflutung durch häufiges Fernsehen und vor dem Computer sitzen sowie Bewegungsmangel verstärken die Symptome. Bei 5 bis 10 Prozent der Kinder verschlimmern bestimmte Nahrungsmittel die Krankheit. Bei ADHS wird ein multimodales Behandlungskonzept verfolgt, bestehend aus Psychotherapie, pädagogischen und psychosozialen Hilfestellungen und eventuell einer medikamentösen Therapie, in das auch Bezugspersonen wie Eltern und Lehrer einbezogen werden (15, 17-19).
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