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Big Data

Deutschland im Zugzwang

28.09.2016  09:27 Uhr

Von Christina Hohmann-Jeddi, Frankfurt am Main / Big Data ist dabei, die Medizin gravierend zu verändern. Diesen Trend hat Europa bislang verpasst. Über die aktuelle Situation und Zukunftschancen für Deutschland sprachen Experten auf einer Podiumsdiskussion bei der Jahrestagung House of Pharma in Frankfurt am Main.

Big Data hat das Zeug, die Medizin zu revolutionieren. Durch ärztliche Untersuchungen, Krankenhaus- und Apothekenbesuche sowie Selftracking etwa durch sogenannte Wearables fallen täglich immense Mengen an Gesundheitsdaten an. Deren Analyse birgt ein großes Potenzial für die medizinische Forschung.

In den USA hat man dies früh erkannt. »Dort wurden im vergangenen Jahr 4,8 Milliarden Dollar in digital health investiert«, berichtete Ernst Hafen, Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. »Diese Entwicklung haben wir in Europa völlig verpasst.« Georg Rosenfeld von der Fraunhofer-Gesellschaft bestätigte, dass Amerikaner gerne solche Pionier-Projekte vorantreiben. Die Deutschen beziehungsweise Europäer müssten kluge Strategien dagegensetzen und vor allem auf Kooperation setzen.

 

Auch Bernd Montag von Siemens Healthineers sieht in Deutschland noch Nachholbedarf. Big Data werde nicht nur technologische Neuerungen bringen, sondern zu einem Paradigmenwechsel in der Medizin führen. Das gesamte Gesundheitssystem müsse an diese neue Medizin angepasst werden. »Diesen Schritt haben wir in Deutschland noch nicht wirklich verstanden.« Ein hierzulande spezifisches Problem sei die Fragmentierung des Gesundheitssystems, das keine übergreifende Datenerfassung und -sammlung erlaube.

 

»Entitäten endecken«

 

Bessere Möglichkeiten bestünden zum Beispiel in Schweden, berichtete Peter-Andreas Löschmann, Medizinischer Direktor bei Pfizer Deutschland. Dort erhält jeder Bürger bei Geburt eine Identifikationsnummer, der alle Daten, auch die Gesundheitsdaten, zugeordnet werden. Diese sind vollständig abrufbar und stehen prinzipiell für Forschungszwecke zur Verfügung. »Allein durch die Analyse von großen Datensätzen lassen sich neue Entitäten entdecken«, so Löschmann.

 

Diese Art von Forschung behindern in Deutschland sowohl technische als auch datenschutzrechtliche Barrieren. Dabei sei die Ablehnung in der Bevölkerung gar nicht so groß, machte Hafen deutlich. Einer eigenen Umfrage zufolge seien 60 Prozent der Befragten bereit, ihr Genom für Forschungszwecke analysieren zu lassen. Bei chronisch Kranken liege der Anteil sogar bei 80 Prozent. »Gerade kranke Menschen wollen ihre Daten nicht nur dem behandelnden Arzt, sondern auch der Forschung zugänglich machen«, so Hafen. Er kritisierte, dass man sich datentechnisch noch im Mittelalter befände, wo Feudalherren über die Daten und deren Weitergabe bestimmen könnten. Seiner Ansicht nach sollte jeder einzelne Herr über seine eigenen Daten sein. »Jeder braucht ein Datenkonto und entscheidet über die Weitergabe selbst.«

 

Um dieser Vorstellung näher zu kommen, hat Hafen die Plattform Mida­ta.coop gegründet, bei der Bürger ihr eigenes Datenkonto anlegen können. Diese wird genossenschaftlich und demokratisch geführt, unabhängig von Wirtschaftsinteressen. »Gesundheitsdaten sind ein neuer Wert, von denen alle Menschen gleich viel haben.« Die Bevölkerung sollte sich auf ihre digitale Selbstbestimmung besinnen.

 

Deutschland hintenan

 

Deutschland dürfe sich in der Entwicklung nicht abhängen lassen, darin waren sich die Experten einig. Das sei nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht wichtig, wie Montag verdeutlichte. »Wenn wir das nicht schaffen, werden wir in Deutschland weniger gesund sein als in anderen Teilen der Welt.« Eigentlich sei die Medizintechnik eine Industrie, wissensbasiert und ressourcenarm, die Deutschland auf den Leib geschneidert sei. Auch Löschmann ist optimistisch, dass die technischen Hindernisse beseitigt werden können. Bei der Datengenerierung sei das schon schwieriger. Hier sei auch die Politik gefragt, entsprechende Strukturen zu entwickeln, sagte Montag. Er verglich die Situation mit der Einführung der ersten Autos. »Da wurde auch nicht jedem selbst überlassen, sich eine eigene Straße zu bauen.« /

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