Rekombinante Wirkstoffe in Europa |
14.09.2010 15:13 Uhr |
Von Theo Dingermann und Ilse Zündorf / Wir leben im Zeitalter der »biologischen Revolution«. Nirgendwo anders wird das deutlicher sichtbar als in der Medizin. Wohl eine der konsequentesten Anwendungen des gentechnologischen Methodenrepertoires sind die rekombinanten Wirkstoffe.
Seit 1982 mit der Einführung des rekombinanten Insulins (siehe dazu Insulin: Hormon aus Bakterien, Hefen und Pflanzen) als erstem gentechnisch hergestellten Medikament bereichern diese Wirkstoffe stetig unseren Arzneimittelschatz. Mittlerweile sind mehr als 100 Wirkstoffe (siehe dazu Kasten weiter unten) in Europa zugelassen und jährlich kommen fünf bis zehn neue hinzu.
Substitutionstherapeutika
Die große Sprunginnovation, die durch die gentechnischen Medikamente vollzogen wurde, war die Einführung sicherer Substitutionstherapeutika. Waren die Naturstoffe und synthetisch hergestellten Wirkstoffe lediglich in der Lage, Fehlfunktionen an Biomolekülen zu modulieren, so sind praktisch nur Proteine mit offensichtlich viel größeren Molekulargewichten in der Lage, fehlende Funktionen zu ersetzen oder zu ergänzen. Zwar wurden auch schon vor der Ära der gentechnischen Arzneimittel Protein-Therapeutika, zum Beispiel in Form der Insuline vom Schwein, Pferd oder Rind, genutzt. Mit deren Einsatz waren aber oft schwere Nebenwirkungen oder nicht akzeptabel anmutende Risiken verbunden. Wir erinnern uns nur ungern an die Katastrophen mit Blutgerinnungsfaktor-Konzentraten, die mit HIV oder HCV kontaminiert waren, oder an hypophysäre Wachstumshormonpräparate, durch die sich Hunderte von Kindern mit der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit infizierten.
Diese Risiken bestehen bei rekombinanten Wirkstoffen nicht. Denn es ist die große Besonderheit dieser Wirkstoffe, dass sie – obwohl es in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle humane Proteine sind – nicht aus dem Menschen, sondern aus Mikroorganismen oder Säugerzellen isoliert werden, die mit den menschlichen Genen für diese Proteine ausgestattet wurden.
Immerhin gibt es in Deutschland heute gut 100 gentechnisch hergestellten Arzneistoffe in mehr als 140 Arzneimitteln, die zusammen einen Umsatz von knapp 5 Milliarden Euro auf dem deutschen Arzneimittelmarkt erzielen – Tendenz steigend! Und längst sind rekombinante Wirkstoffe nicht mehr ausschließlich Substitutionswirkstoffe.
Offensichtlich sind Biopharmazeutika nicht symmetrisch über alle Indikationsgebiete verteilt. Umsatzanteilig besonders stark vertreten sind diese Wirkstoffe mit 67 Prozent in der Immunologie, mit 32 Prozent im Bereich Stoffwechsel, mit 29 Prozent in der Onkologie und mit 22 Prozent in der Hämatologie. Der BCG-Report »Medizinische Biotechnologie in Deutschland 2010« weist aus, dass 27 Prozent der 2009 neu zugelassenen Wirkstoffe Biologika waren und dass sich 468 derartige Wirkstoffe 2009 in der klinischen Entwicklung befanden, sodass mit vielen weiteren Produkten zu rechnen ist. Bemerkenswert ist auch, dass rund zwei Drittel aller Biopharmazeutika auch oder ausschließlich für Kinder zugelassen sind.
Der Prozess ist das Produkt
Rekombinante Wirkstoffe herzustellen, ist eine Herausforderung. Dem Herstellungsprozess kommt eine im Vergleich zur Herstellung »klassischer« Wirkstoffe überproportional wichtige Bedeutung zu. Tatsächlich hat die Einführung dieser neuen Wirkstoffklasse zu einer Neubewertung des Wirkstoffbegriffs geführt. »Der Prozess ist das Produkt«, heißt die neue Devise, im Gegensatz zur klassischen Definition »Das Molekül ist das Produkt«. Es wird genau darauf geachtet, dass die Moleküle unterschiedlicher Chargen nicht nur genauso beschaffen sind, wie die klinisch getesteten. Sie werden exakt so hergestellt, wie die, die ihre Wirksamkeit und Sicherheit in klinischen Studien bewiesen haben. Für die Patienten bedeutet das einen erheblichen Gewinn an Sicherheit.
Wirtschaftliche Halbwertszeit
Und dennoch können gentechnisch hergestellte Wirkstoffe auch eine sehr kurze wirtschaftliche Halbwertszeit besitzen. Denn es besteht immer die realistische Gefahr, dass die hohen Erwartungen an den Wirkstoff in der klinischen Routine zerplatzen – sei es wegen nicht ausreichender Wirksamkeit oder wegen nicht akzeptabler unerwünschter Wirkungen.
Erst kürzlich wurde das Segment der gentechnisch hergestellten Arzneimittel um eine weitere Unterklasse erweitert. Biosimilars werden zumindest in Europa schnell in den Markt drängen. Mit klassischen Generika sind diese Wirkstoffe nicht zu vergleichen. Denn wegen der besonderen chemischen und physikalischen Eigenschaften von Proteinen und wegen der großen Bedeutung, die, wie oben erwähnt, dem Herstellungsprozess beigemessen wird, müssen Biosimilars auch in klinischen Studien getestet werden. Eine Zusammenstellung aller zugelassenen gentechnisch hergestellten Wirkstoffe findet man unter www.vfa.de/gentech. /
Angiogenesehemmer
Bevacizumab (Avastin®)
Ranibizumab (Lucentis®)
Pegaptanib (Macugen®)
Antiasthmatika
Omalizumab (Xolair®)
Antianämika
Epoetin alfa (Eprex®, Erypo®)
Epoetin alfa, Biosimilar (Epoetin alfa Hexal®, Binocrit®, Abseamed®)
Epoetin theta (Biopoin®, Eporatio®)
Epoetin zeta, Biosimilar (Silapo®, Retacrit®)
Epoetin beta (Neorecormon®)
Epoetin delta (Dynepo®)
Darbepoetin alfa (Aranesp®, Nespo®)
Methoxy-Polyethylenglycol-Epoetin beta (Mircera®)
Antidiabetika
Humaninsulin, rekombinant (zum Beispiel Insuman®, Actraphane®, Insulin Human Winthrop®)
Insulin lispro (Humalog®)
Insulin aspart (NovoRapid®)
Insulin glulisin (Apidra®)
Insulin glargin (Lantus®, Optisulin®)
Insulin detemir (Levemir®)
Glucagon (Glucagen®)
Exenatide (Byretta®)
Liraglutid (Victoza®)
Antiinfektiva/Atemwegstherapeutka
Interferon-alfa-2a (Roferon A®)
Peginterferon-alfa-2a (Pegasys®)
Interferon-alfa-2b (Intron A®)*
Peginterferon-alfa-2b (Pegintron®, Viraferonpeg®, Vitron®)
Interferon gamma-1b (Imukin®)
Palivizumab (Synagis®)
Enfuvirtide (Fuzeon®)
Antipsoriatika
Efalizumab (Raptiva®)
Alefacept (Amevive®)
Ustekinumab (Stelara®)
Infliximab (Remicade®)*
Adalimumab (Humira®)
Etanercept (Enbrel®)
Antirheumatika
Rituximab (MabThera®)
Infliximab (Remicade®)
Adalimumab (Humira®)
Golimumab (Simponi®)
Certolizumab pegol (Cimzia®)
Etanercept (Enbrel®)
Anakinra (Kineret®)
Abatacept (Orenica®)
Tocilizumab (Roactemra®)
Canakinumab (Ilaris®)
Antithrombotika/Fibrinolytika
Streptokinase (Streptase®)
Urokinase (Corase 500.000®)
Abciximab (Reopro®)
Antithrombin alfa (Atryn®)
Lepirudin (Refludan®)
Desirudin (Revasc®)
Bivalirudin (Angiox®)
Alteplase (Actilyse®)
Reteplase (Rapilysin®)
Tenecteplase (Metalyse®)
Gerinnungsfaktoren
Eptacog alfa (aktiviert) (Novoseven®)
Octocog alfa (Recombinate®, Advate®, Helixate®, Kogenate®)
Moroctocog alfa (Refacto®)
Nonacog alfa (Benefix®)
Hämolyse-Inhibitor
Eculizumab (Soliris®)
Hormone bei Fertilitätsstörungen
Follitropin beta (Puregon®, Fertavid®)
Follitropin alfa (Gonal-f®)
Corifollitropin alfa (Elonva®)
Lutropin alfa (Luveris®)
Follitropin alfa/Lutropin alfa (Pergoveris®)
Choriogonadotropin alfa (Ovitrelle®)
Immunmodulatoren (Multiple Sklerose)
Interferon beta-1b (Betaferon®, Extavia®)
Interferon beta-1a (Rebif®, Avonex®)
Natalizumab (Tysabri®)
Glatirameracetat (Copaxone®)
Immunsuppressiva (Transplantat- Abstoßungsprophylaxe)
Anti-human-T-Lymphozyten-Globulin aus Kaninchen (ATG-Fresenius® S)
Anti-Thymozyten-Globulin aus Kaninchen (Thymoglobuline®)
Basiliximab (Simulect®)
Daclizumab (Zenapax®)
Impfstoffe
Hepatitis-B-(rDNA)-Impfstoff (HBVAXPRO®, Fendrix®, Engerix®-B)
Humane Papillomvirus-Impfstoffe (Cervarix®, Gardasil®)
Pneumokokken-Konjugatimpfstoff (Synflorix®)
Oraler Cholera-Impfstoff (Dukoral®)
Knochenwachstumsfaktoren
Dibotermin alfa (Inductos®)
Eptotermin alfa (Osigraft®)
Mucoviszidose-Therapeutika
Dornase alfa (Pulmozyme®)
Osteoporose-Therapeutika
Teriparatid (Forsteo®)
Parathyroidhormon (Preotact®)
Lachs-Calcitonin (Forcaltonin®)
Denosumab (Prolia®)
Sepsis-Therapeutika
Drotrecogin alfa (Xigris®)
Substitutionstherapeutika
Imiglucerase (Cerezyme®)
Agalsidase alfa (Replagal®)
Agalsidase beta (Fabrazyme®)
Laronidase (Aldurazyme®)
Idursulfase (Elaprase®)
Galsulfase (Naglazyme®)
Aglucosidase alfa (Myozyme®)
Thrombozytenwachstumsfaktor
Romiplostim (Nplate®)
Tumortherapeutika
Aldesleukin (Proleukin®)
Tasonermin (Beromun®)
Interferon alfa-2a (Roferon®-A)
Interferon alfa-2b (IntronA®)
Cetuximab (Erbitux®)
Panitumumab (Vectibix®)
Nimotuzumab (Theraloc®)
Trastuzumab (Herceptin®)
Pertuzumab (Omnitarg®)
Ertumaxomab (Rexomun®)
Rituximab (MabThera®)
Ibritumomab-Tiuxetan (Zevalin®)
Tositumomab (Bexxar®)
Alemtuzumab (MabCampath®))
Bevacizumab (Avastin®)
Asparaginase (Asparaginase medac®)
Pegaspargase (Oncaspar®)
Filgrastim (Neupogen®)
Filgrastim, Biosimilar (Biograstim®, Filgrastim Hexal®, Filgrastim ratiopharm®, Ratiograstim®, Zarzio®, Tevagrastim®)
Pegfilgrastim (Neulasta®)
Lenograstim (Granocyte®)
Palifermin (Kepivance®)
Rasburicase (Fasturtec®)
Thyrotropin alfa (Thyrogen®)
Ofatumumab (Arzerra®)
Wachstumshormone
Somatropin (Humatrope®, Genotropin® MiniQuick, NutropinAq®, Zomacton®, Norditropin Nordiflex®, Norditropin Simplexx®, Saizen®, Omnitrope®, Valtropin®)
Mecasermin (Increlex®)
Pegvisomat (Somavert®)
Wundheilung
Becaplermin (Regranex®)
Liste nach Th. Dingermann, Th. Winckler, I. Zündorf unter Mitarbeit von H. Ch. Mahler, Gentechnik/Biotechnik, Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart (modifiziert); Anmerkung: Wird ein Wirkstoff von verschiedenen Herstellern produziert, wird er jeweils als eigener Wirkstoff betrachtet, da die Herstellungsverfahren und daher auch die Wirkstoffe unterschiedlich sind.