Skala zur Risikobewertung |
05.09.2018 10:22 Uhr |
Von Saskia Fuhrmann und Jane Schröder / Bei der Kombination von Arzneistoffen mit anticholinergen Nebenwirkungen können sich additive Effekte ergeben. Deren Relevanz abzuschätzen, ist mitunter schwierig. Neben der ABDA-Datenbank kann eine Skala herangezogen werden, die das anticholinerge Risiko von Wirkstoffen mit einem Punktesystem gewichtet.
Ein im Rahmen der Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen (ARMIN) betreuter, 74-jähriger Patient leidet an Typ-2-Diabetes, Herzinsuffizienz, chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung, Depression und Niereninsuffizienz. Zur Behandlung von Juckreiz, Unruhe und Harninkontinenz nimmt der Patient in der Dauermedikation die Medikamente Hydroxyzin (25 mg, 1-0-½), Promethazin (25 mg, 0-0-1) und Oxbutynin (2,5 mg Tabletten unretardiert, ½-½-1) ein. Hierbei handelt es sich um drei Substanzen mit anticholinerger Wirkung. In der ABDA-Datenbank werden für die drei genannten Wirkstoffe zwei Interaktionen angezeigt:
Bei Verwirrtheit von älteren Patienten sollten auch anticholinerge Nebenwirkungen in Betracht gezogen und die Medikation entsprechend überprüft werden.
Foto: Fotolia/auremar
Auf die anticholinerge Nebenwirkung von Hydroxyzin, die durch die gleichzeitige Gabe von anderen Substanzen mit anticholinerger Wirkung in nicht vorhersehbarer Weise verstärkt werden kann, wird jedoch nicht explizit in der ABDA-Datenbank hingewiesen. Das könnte bei der Beurteilung der Medikation fälschlicherweise zu einer Unterbewertung der Bedeutung anticholinerger Nebenwirkungen führen.
Wichtige Rolle des Alters
Es stellen sich folgende Fragen: Mit welcher klinischen Relevanz sind additive anticholinerge Effekte einzustufen? Sollte, abgesehen von der Wechselwirkung durch die QT-Zeit-Verlängerung, aufgrund der additiven anticholinergen Wirkung der drei Substanzen und des hohen Lebensalters des Patienten eine kritische Indikationsprüfung aller drei Substanzen erfolgen?
Die amerikanische Interaktionsdatenbank Lexicomp® Drug Interactions warnt vor einer gleichzeitigen Anwendung von zwei oder mehr Arzneistoffen mit anticholinerger Wirkkomponente (therapeutische Intention oder Nebenwirkung): Dort werden Interaktionsmeldungen für die gleichzeitige Anwendung von Hydroxyzin und Oxybutynin sowie für Oxybutynin und Promethazin angezeigt. Das Risiko dieser Interaktionen wird als moderat eingestuft.
Die gleichzeitige Anwendung von zwei oder mehr Arzneistoffen mit anticholinerger Wirkkomponente ist oft klinisch vertretbar, jedoch ist es wichtig, das Risiko unerwünschter Effekte zu erkennen und zu beobachten. Vor allem bei älteren Patienten ist Vorsicht geboten. Bei gleichzeitiger Therapie können verstärkte anticholinerge Effekte auftreten, wie Mundtrockenheit, Obstipation, Tachykardie, Miktionsstörungen, Schweißminderung, Akkommodationsstörungen und Mydriasis. Darüber hinaus können delirante Syndrome mit Verwirrtheit, Halluzinationen und Erregungszuständen vorkommen. Vor allem bei älteren Patienten kann die kognitive Leistungsfähigkeit abnehmen.
3 Punkte (stark erhöhtes Risiko) | 2 Punkte (erhöhtes Risiko) | 1 Punkt (moderates Risiko) |
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Amitriptylin | Amantadin | Levodopa/Carbidopa |
Atropin | Baclofen | Entacapon |
Chlorphenamin | Cetirizin | Haloperidol |
Cyproheptadin | Cimetidin | Methocarbamol |
Diphenhydramin | Clozapin | Metoclopramid |
Fluphenazin | Loperamid | Mirtazapin |
Hydroxyzin | Loratadin | Paroxetin |
Imipramin | Nortriptylin | Pramipexol |
Oxybutynin | Olanzapin | Quetiapin |
Perphenazin | Pseudoephedrin | Ranitidin |
Promethazin | Tolterodin | Risperidon |
Thioridazin | Selegilin | |
Tizanidin | Trazodon | |
Ziprasidon |
Eine Gruppe um Dr. James L. Rudolph vom Veterans Affairs Boston Healthcare System entwickelte 2008 eine Risikoskala für häufig verschriebene Arzneistoffe mit anticholinerger Wirkkomponente anhand von Medikationsdaten für Patienten ab 65 Jahren (»Archives of Internal Medicine«, DOI: 10.1001/archinternmed.2007.106.) Diese Skala kann herangezogen werden, um das individuelle Risiko für anticholinerge unerwünschte Effekte abzuschätzenn. Die einzelnen Arzneistoffe wurden mit 1 bis 3 Punkten eingestuft (siehe Tabelle).
Dreimal sehr hohes Risiko
Die drei genannten Wirkstoffe Hydroxyzin, Oxbutynin und Promethazin sind in der Gruppe mit dem höchsten Risiko eingestuft. Bereits ein Arzneimittel dieser Gruppe verursacht bei mehr als 70 Prozent der Patienten zwei oder mehr anticholinerge Nebenwirkungen. Die peripheren und zentralen anticholinergen Wirkungen der Arzneistoffe summieren sich sogar noch. Demzufolge hat der beschriebene ARMIN-Patient ein deutlich erhöhtes Risiko für anticholinerge unerwünschte Effekte.
Hydroxyzin und Oxybutynin sind zusätzlich auf der Priscus-Liste, da sie im Expertenkonsens als potenziell inadäquate Medikation bei älteren Menschen eingestuft wurden. Als therapeutische Alternative für Hydroxyzin werden nicht sedierende/ weniger anticholinerg wirkende Antihistaminika genannt, zum Beispiel Cetirizin, Loratadin oder Desloratadin. Anstelle von Oxybutynin könnten nicht medikamentöse Therapien wie Beckenbodengymnastik, Physio- und Verhaltenstherapie oder Trospium verordnet werden. Oxybutynin in der unretardierten Form wird auf der Forta-Liste sogar in die Kategorie D (Don’t) eingestuft. Entsprechend dieses Klassifikationssystems sollte dieses Arzneimittel bei älteren Patienten unbedingt vermieden werden.
Die Therapie mit Anticholinergika soll grundsätzlich besonders sorgfältig überwacht und die Notwendigkeit der einzelnen Arzneistoffe regelmäßig überprüft werden. Vor allem ältere Patienten sollen auf ihre kognitive Leistungsfähigkeit hin beobachtet werden. Bei andauernder Obstipation sollen Patienten ihren Arzt informieren. Auch wenn Neuroleptika, zum Beispiel Promethazin, unterhalb der neuroleptischen Schwellendosis oder Antihistaminika als Tranquillanzien eingesetzt werden, ist mit einer Verstärkung der anticholinergen Effekte zu rechnen.
Im vorliegenden Fall sollte der behandelnde Arzt auf die Interaktionen und das erhöhte Risiko für anticholinerge Wirkungen aufmerksam gemacht werden. Er sollten Indikation aller drei Substanzen und die Möglichkeit der Verordnung von Therapiealternativen überprüfen. /
Literatur bei den Verfasserinnen
Die Autorinnen
Saskia Fuhrmann und Dr. Jane Schröder sind Apothekerinnen und beim Arzneimittelberatungsdienst der Klinik-Apotheke am Universitätsklinikum an der TU Dresden tätig. Dort unterstützen sie an der Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen teilnehmende sächsische Apotheker und Ärzte bei fachlichen Fragen. Die Beratung wird von der Sächsischen Landesapothekerkammer, der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen und der AOK PLUS finanziert.