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Neonatales Immunsystem

Zwischen zwei Welten

22.08.2016  14:52 Uhr

Von Heidi Schooltink / Die Entwicklung des Immunsystems des Fetus beginnt bereits in den frühen Schwangerschaftswochen. Der erste Kontakt mit Krankheitserregern findet aber im Regelfall erst nach der Geburt statt. Fehlentwicklungen des Immunsystems in der prä- und postnatalen Phase sind eine lebenslange gesundheitliche Bürde.

Das oberste Prinzip unseres Immunsystems ist die Unterscheidung zwischen fremden und damit potenziell gefährlichen (Alloantigene) und körpereigenen und damit ungefährlichen Stoffen ­(Autoantigene). Pathogene Mikroorganismen oder Allergene werden mit einer Immunantwort bekämpft. Körpereigene Zellen lösen dagegen keine Immunreaktion aus – Wissenschaftler sprechen von Immuntoleranz.

Zum Schutz des Organismus gegen die Bedrohung von außen stehen dem Immunsystem verschiedene Zellpopulationen, unter anderem Makrophagen, Granulozyten und Lymphozyten, mit speziellen Funktionen zur Verfügung. Die Aktivitäten der Akteure des Immunsystems werden über direkten Zellkontakt, zum Beispiel Antigenpräsentation, oder über lösliche Mediatorsubstanzen (Zytokine) koordiniert (Grafik 1) (1). Zu diesen Zytokinen gehören Interleukine (IL), die spezifisch bestimmte Immunzellpopulationen aktivieren oder auch inaktivieren, und ­Chemokine, die Immunzellen an den Ort der Infektion locken (Chemotaxis).

 

Angeborenes und adaptives Immunsystem

 

Prinzipiell unterscheidet man beim Immunsystem einen angeborenen und einen adaptiven Anteil.

 

Als unspezifische »Allzweckwaffen« tragen die neutrophilen Granulozyten und Monozyten des angeborenen Immunsystems Pattern-Recognition-Rezeptoren (PRR) auf ihrer Zelloberfläche, die Pathogen-assoziierte molekulare Muster (PAMP) von Mikroorganismen erkennen. PAMP sind hochkonservierte Oberflächenstrukturen, die von vielen verschiedenen Spezies gebildet werden. Nach Bindung der PAMP an PRR nehmen die Immunzellen die Mikroorganismen entweder auf (Phagozytose) oder gehen mit chemischen Waffen, zum Beispiel Proteasen, gegen die ­Pathogene vor.

 

Auch bei einer Erstinfektion mit einem unbekannten Krankheitserreger sind die Zellen des angeborenen Immunsystems sofort einsatzbereit. Sie halten die Krankheitserreger so lange in Schach, bis die Antigen-spezifischen Zellen des adaptiven Immunsystems in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen.

Angeboren, aber noch ­unreif

 

Der Unterschied zwischen dem Immunsystem eines Neugeborenen und eines Erwachsenen besteht nicht ausschließlich aus der fehlenden »Erfahrung« des adaptiven Immunsystems mit körperfremden Antigenen. Auch das angeborene Immunsystem ist zum Zeitpunkt der Geburt nicht voll entwickelt. Daher ist die Bezeichnung »angeborenes Immunsystem« missverständlich.

Die Unterschiede sind weniger quantitativer (Zellzahlen) als qualitativer Natur (eingeschränkte antimikro­bielle Funktionen). Im Vergleich zu ­Erwachsenen finden sich im Blut von Neugeborenen sogar mehr neutrophile Granulozyten (2). Wissenschaftler vermuten, dass es sich um einen Versuch des angeborenen Immunsystems handelt, mit der plötzlichen mikrobiellen Exposition fertigzuwerden (3). 

 

Insbesondere bei Frühgeborenen adhärieren diese Immunzellen aber schlechter an Endothelzellen, haben eine eingeschränkte Chemotaxis und reagieren weniger ausgeprägt auf inflammatorische Stimuli. Daher gelangen sie langsamer zum Ort der Infektion und können Bakterien schlechter bekämpfen (4). Auch natürliche Killerzellen, Makrophagen und dendritische Zellen sind zwar vorhanden, aber noch nicht voll einsatzfähig.

 

Die funktionellen Defizite äußern sich in einer verminderten Phagozytose und Sekretion von Zytokinen (4). Letzteres wiederum schränkt die Aktivierung des adaptiven Immunsystems ein (Grafik 1). Darüber hinaus sind die Pools an Vorläuferzellen für Monozyten und Granulozyten deutlich kleiner, was die Rekrutierung neuer Immunzellen in ­immunologischen Stresssituationen, zum Beispiel bei einer Sepsis, deutlich verlangsamt (5).

Was B- und T-Lymphozyten leisten

Bei den Zellen des adaptiven Immunsystems werden B- und T-Lymphozyten unterschieden.

 

B-Lymphozyten (im Bild) sind die Hauptakteure der humoralen Immun­antwort, die durch die Bildung von löslichen Antikörpern charakterisiert ist. Nach dem Erstkontakt mit dem Antigen differenzieren die naiven B-Lymphozyten in Antikörper sezernierende Plasmazellen. Die gebildeten Antikörper sind lösliche Formen des ursprünglichen Antigen-Rezeptors und zeigen daher eine identische Antigen-Spezifität. Antikörper-Antigen-Komplexe werden von den phagozytierenden Zellen des angeborenen Immunsystems erkannt und beseitigt.

 

Nach einer Infektion verbleiben einige der klonal expandierten B-Lympho­zyten als langlebige Zellen im Körper (Gedächtniszellen). Daher ist das adaptive Immunsystem bei einer wiederholten Infektion mit dem gleichen Erreger schneller einsatzbereit. Da das Pathogen schneller eliminiert wird, kann sich die Infektion nicht ausbreiten: Der Körper ist gegen den Erreger immun. Dieses Prinzip nutzt man bei Impfungen (1).

 

T-Lymphozyten erkennen Antigene nicht direkt, sondern ihre Bruchstücke (Peptide), die an zelluläre Oberflächenproteine gebunden sind. Man ­unterscheidet zwei Gruppen dieser Human-leukocyte-antigen-(HLA)-Pro­teinkomplexe. Die ubiquitär vorkommenden HLA-I-Komplexe präsentieren Peptide intrazellulärer Proteine und damit auch virale Peptide von infizierten Körperzellen. Sie werden von zytotoxischen T-Zellen erkannt, wo­rauf die virusbefallenen Zellen eliminiert werden. Die HLA-II-Komplexe befinden sich nur auf speziellen Antigen-präsentierenden Zellen, darunter Makrophagen und dendritische Zellen des angeborenen Immunsystems. Nach der Phagozytose von Pathogenen präsentieren diese Zellen deren Peptide über HLA-II-Komplexe auf ihrer Oberfläche.

 

Diese Komplexe werden von sogenannten T-Helferzellen (TH) gebunden, die daraufhin je nach Subpopu­lation ein unterschiedliches Set an Zytokinen produzieren. TH1-Zellen ­sezernieren Interferon-γ, Tumor­ne­kro­sefaktor-α und IL-2, die zytotoxische T-Zellen aktivieren. TH2-Zellen setzen IL-3, -6 und -12 frei, die die Immunantwort der B-Zellen fördern (Grafik 1).

 

Auch die regulatorischen T-Zellen (Treg) erkennen HLA-II-Peptidkomplexe. Anders als TH-Zellen produzieren sie aber nach Bindung an diese Komplexe Zytokine, die die Immunreaktion dämpfen, zum Beispiel IL-10 und Transforming-growth-factor-β. Treg-Zellen sind daher maßgeblich an der Immuntoleranz beteiligt (1).

 

Adaptives Immunsystem muss lernen

 

Die Zellen des adaptiven Immunsystems, die Lymphozyten (Kasten), erkennen Krankheitserreger an individuellen Strukturen (Antigene). Um im Bedarfsfall ein breites Spektrum an Patho­genen bekämpfen zu können, hält der Körper zahlreiche Lymphozyten mit gegen unterschiedliche Antigene gerichtete Rezeptoren vor. Dabei trägt jeder Lymphozyt nur Antigen-Rezeptoren ­einer Spezifität. Erst bei Bindung des Antigen-Rezeptors an das Antigen vermehrt sich dieser Lymphozyt (klonale Expansion).

 

Da jede Zellteilung einige Stunden braucht, dauert es mehrere Tage, bis eine ausreichende Anzahl Antigen-spezifischer Lymphozyten zur Bekämpfung des Erregers zur Verfügung steht. Daher setzt die adaptive Immunantwort bei einer Erstinfektion mit einem unbekannten Erreger verzögert ein (1). Beim Neugeborenen ist dies aufgrund des fehlenden »Trainings« die Regel.

Früher Start

 

Die Entwicklung des fetalen Immunsystems beginnt in der Frühphase der Schwangerschaft (Tabelle 1). Zunächst in der Leber, später dann im Knochenmark differenzieren hämatopoetische Stammzellen über diverse Zwischenstufen zu den funktionell unterschiedlichen Zellen des Immunsystems.

 

In den Vorläuferzellen von B- und T-Lymphozyten kommt es in den Genen für die Antigen-Rezeptoren zur sogenannten somatischen Rekombination. Dieser Prozess, bei dem verschiedene Gensegmente rein stochastisch miteinander kombiniert werden, bildet die Grundlage für die Vielfalt der Antigen-Rezeptoren ­(theoretisch sind 109 verschiedene Antigen-Spezifitäten möglich) und Antikörper. Aufgrund der zufälligen Kombination entstehen immer auch autoreaktive Lymphozyten, die körper­eigene Strukturen erkennen.

 

Ab der siebten Woche der Schwangerschaft wandern T-Vorläuferlymphozyten in den Thymus. Hier findet die Qualitätskontrolle der Antigen-Rezeptoren statt. Dabei werden nutzlose T-Zellklone mit Rezeptoren, die nicht in der Lage sind, HLA-Moleküle zu erkennen, eliminiert. Autoreaktive T-Zellklone, die Komplexe aus körpereigenen Peptiden und HLA-Molekülen erkennen, werden entweder ebenfalls ­aussortiert oder differenzieren zu ­Treg-­Zellen. Dieser als zentrale Immuntoleranz bezeichnete Selektionsmechanismus hilft, Autoimmunerkrankungen zu vermeiden.

 

Die B-Zellklone unterliegen einer vergleichbaren Selektion im Knochenmark (1). Nach etwa einem Drittel der Schwangerschaft sind B- und T-Lymphozyten im Blut und in der Milz des Fetus nachweisbar (3).

Tabelle 1: Komponenten des Immunsystems und erstes Auftreten im Fetus in den Schwangerschaftswochen (SSW) (3, 13)

Zellen und Faktoren (Auswahl) Funktion (Auswahl) Auftreten beim Fetus (SSW)
Angeborenes Immunsystem
Monozyten/Makrophagen Phagozytose, Ausschüttung von Chemo­kinen und Zytokinen, Antigenpräsentation 4
(Neutrophile) Granulozyten Phagozytose, Sekretion antimikrobieller Substanzen 8
Natürliche Killerzellen Antigen-unabhängige Bekämpfung von virusinfizierten ­Zellen 6 bis 9
Komplement­faktoren Markierung von Krankheitserregern für Immunzellen ­(Opsonierung) 5 bis 6
Dendritische Zellen Antigenpräsentation, Aktivierung naiver T-Lymphozyten (Immunreaktion, Immuntoleranz) 6 bis 9
Adaptives Immunsystem
B- und T-Vorläuferzellen Vorstufen für reife Zellen 7 bis 8
T-Zellen (verschiedene Subpopulationen) zytotoxische T-Zellen: Bekämpfung von virusinfizierten ­Zellen T-Helferzellen: Aktivierung von ­zytotoxischen T-Zellen und B-Zellen regulatorische T-Zellen: Vermittlung von Immuntoleranz 12 bis 15
B-Zellen Hauptakteur der humoralen Immun­antwort, Synthese von Antikörpern 14 bis 15

Toleranz zwischen Mutter und Fetus

 

Die Schwangerschaft stellt eine »immunologische Ausnahmesituation« dar, da in der Plazenta fetale und ­maternale Zellen direkt aufeinandertreffen. Aufgrund der genetischen Unterschiede – die Hälfte der gene­tischen Information des Fetus stammt vom Vater – sind die Zellen des Fetus und der Schwangeren zum Teil mit ­unterschiedlichen Oberflächenmolekülen ausgestattet. Folgerichtig müsste das maternale Immunsystem den Fetus als fremd erkennen und ähnlich wie ein Transplantat abstoßen. Di­verse maternale Toleranzmechanismen in der Plazenta verhindern dies (6).

 

Das sich entwickelnde fetale Immunsystem wiederum kommt im Uterus in der Regel nicht mit Krankheitserregern in Kontakt. Die Alloantigene, mit denen es sich auseinandersetzen muss, sind meist maternalen Ursprungs, die nicht bekämpft werden müssen und dürfen. Diese einmalige Situation spiegelt sich in der fetalen Lymphozyten-Population wider. Charakteristisch sind eine Dominanz von Treg-Zellen und eine eingeschränkte TH1-Immunantwort.

 

Mit der Geburt ändern sich die ­Anforderungen an das Immunsystem radikal. Ab sofort ist jedes Alloantigen eine potenzielle Gefahr. Die Anpassung der Lymphozyten-Populationen an ­diese neue Herausforderung braucht dagegen Zeit (Grafik 2).

 

Wie die Zellen des angeborenen Immunsystems sind auch die Zellen des adaptiven Immunsystems bei einem Neugeborenen zahlenmäßig relativ gut vertreten. Allerdings überwiegt bei den B- und T-Zellen der naive Phänotyp, da sie noch keine Gelegenheit hatten, mit fremden Antigenen in Kontakt zu treten (2). Der Anteil der Treg-Zellen ist deutlich höher als bei Erwachsenen. Erst ein bis zwei Jahre nach der Geburt erreicht die TH1-Immunantwort ein »normales« Niveau (7). Eine abgeschwächte TH1-Immunantwort ist für den Fetus im Uterus überlebenswichtig, da eine übermäßige Produktion des inflammatorischen Zytokins TNFα durch TH1-Zellen das Risiko für einen Abort erhöht (5).

 

Die B-Lymphozyten von Neugeborenen sind ebenfalls noch nicht voll einsatzfähig. Unter anderem ist die Expression der Co-Rezeptoren, die die Zellen für ihre Aktivierung durch TH2-Zellen benötigen, deutlich vermindert. Beim Antigenkontakt kommt es daher zu einer abgeschwächten B-Zellantwort (4).

 

Zudem binden Antikörper von Neugeborenen im Vergleich zu Antikörpern von Erwachsenen mit einer deutlich geringeren Affinität an ihr Antigen. Die Gene der Antigen-Rezeptoren der B-Lymphozyten weisen Bereiche mit einer hohen Mutationsfrequenz auf. Bei der klonalen Expansion der B-Lymphozyten nach dem Antigenkontakt können so über Punktmutationen in den Nachfolgegenerationen Antigen-Rezeptoren und Antikörper mit einer ­abweichenden Affinität entstehen. B-Lymphozyten mit Rezeptoren, die das Antigen nicht mehr binden, sterben ab. B-Zellklone mit einer mutationsbedingt höheren Affinität des Antigen-Rezeptors werden dagegen positiv selektiert, da sie besser Kontakt mit dem Antigen aufnehmen und sich dadurch bevorzugt vermehren.

 

Diese sogenannte Affinitätsreifung kann mehrfach hintereinander ablaufen, sodass die Affinität der Antigen-Rezeptoren/Antikörper sukzessive zunimmt. Mit zunehmendem Alter des Kindes wird die humorale Immunantwort stärker (4).

Tabelle 2: Maternale Faktoren und ihr Einfluss auf das fetale und neonatale Immunsystem sowie potenzielle Langzeitrisiken*

Einflussfaktor* Auswirkungen auf das fetale und neonatale Immunsystem potenzielle Langzeiteffekte
Pränatale Phase
Mangel­ernährung Zink Thymus- und Milzgröße ↓ B- und T-Zellaktivität ↓ Infektionsrisiko ↑­
Vitamin A gestörte Bildung sekundärer lymphatischer Organe Infektionsrisiko ↑­
Vitamin D TH1-Immunantwort­ ↑­ Treg-Funktion ↓ Gefährdung der maternal-fetalen Immuntoleranz Typ-1-Diabetes­ ↑ Atopische Dermatitis­ ↑ Asthma­ ↑
Adipositas Lymphozytenzahl ↓ Antikörperproduktion ↓ Adipositas­ ↑ Asthma ↑­
Rauchen Treg-Zellzahl ↓ Zytokinproduktion Antigen-präsentierender Zellen ↓ Typ-1-Diabetes ↑­ kongenitale Herzerkrankung ↑­
Alkohol umfangreiche Störungen des angeborenen und adaptiven Immunsystems Frühgeburt­ ↑ Infektionsrisiko­ ↑
Stress, Angststörungen Einfluss auf die Lymphozyten-Entwicklung Zytotoxizität NK-Zellen ↓ Asthma­ ↑ Allergien­ ↑
Immunotoxine (Schwermetalle, organische Verbindungen) abhängig von der chemischen Natur geringes Geburtsgewicht­ ↑ Frühgeburt­ ↑ Typ-1-Diabetes ↑­ Tumoren­ ↑
Infektionen mit Helminthen (Würmer) TH1-Immunantwort ↓ Verschiebung der Zytokinproduktion in Richtung TH2 postpartale Infektionen↑
mikrobielle Exposition auf einem Bauernhof Treg-Zellzahlen­ ↑ Aktivität der Treg-Zellen ↑­ TH2-Immunantwort ↓ Asthma ↓ Allergien ↓
Perinatale Phase
Geburtsmodus (vaginale Geburt mit Wehenexposition) Anzahl Monozyten und NK ↑­ Aktivität neutrophiler Granulozyten ↑­ Synthese von TNFα, IL-12, IFN-γ­ ↑
Postnatale Phase
Ernährung mit Muttermilch Unterstützung des adaptiven Immunsystems durch ­maternale Immunzellen und Antikörper Erhöhung der Toleranz durch maternales IL-10 und TGF-β Infektionen ↓

*) Viele Einflussfaktoren modulieren nicht nur das fetale Immunsystem, sondern die fetale Entwicklung generell. Daher ist eine multifaktorielle Genese der Langzeiteffekte wahrscheinlich. IFN: Interferon, IL: Interleukin, NK: natürliche Killerzellen, TGF: Transforming growth factor, TH1, TH2: T-Helferzellen (Subpopulationen), TNF: Tumor­nekrosefaktor, Treg: regulatorische T-Zellen

Mutters Einfluss auf das ­fetale Immunsystem

 

Die Entwicklung des fetalen Immunsystems wird maßgeblich durch seine Umgebung und damit durch mütterliche Faktoren (Ernährungsstatus, Stress, Rauchen, Alkohol) bestimmt (2). Schon kleine »Kursänderungen« können langfristige Folgen haben und sind mit der Entwicklung chronischer Autoimmun­erkrankungen wie Typ-1-Diabetes, Adipositas, Asthma und Allergien asso­ziiert (3; Tabelle 2).

 

In diesem Zusammenhang spielen sogenannte epigenetische Modifika­tionen eine große Rolle. Es handelt sich um Veränderungen der Desoxyribonukleinsäure (DNA), die die Expression der Gene beeinflussen und bei der Mitose an die Tochterzellen weitergegeben werden. Obwohl die DNA-Sequenz nicht verändert wird, es sich also nicht um Mutationen handelt, können epigenetische Modifikationen den Phänotyp einer Zellpopulation nachhaltig verändern.

 

Ein Paradebeispiel dafür ist der Methylierungsstatus der Promotorregion des FoxP3-Gens (Forkhead-Box-Protein P3). Die Methylierung führt zu einer verringerten Expression dieses Transkrip­tionsfaktors und in Folge zu einer ­gestörten Entwicklung der Treg-Zellpopulation, was wiederum die Entwicklung von Allergien begünstigt.

 

Die Ergebnisse zahlreicher Studien lassen vermuten, dass maternale Faktoren den Methylierungsstatus von FoxP3 des Fetus und damit das spätere Allergierisiko beeinflussen. Eine ausgedehnte mikrobielle Exposition der Mutter, zum Beispiel durch das Leben auf dem Bauernhof, führt in Immunzellen des ­fetalen Blutes zu einer präferenziellen Demethylierung des FoxP3-Promotors und zu einer erhöhten Treg-Zellzahl (2).

 

Auch der Geburtsmodus spielt für die Entwicklung des Immunsystems eine Rolle. Während der Wehen werden im Fetus Stresshormone ausgeschüttet, die vor allem den Phänotyp des ­angeborenen Immunsystems verändern (3).

Frühzeitig impfen

Früher enthielten Impfstoffe abgeschwächte oder nicht mehr reproduk­tionsfähige (tote) Krankheitserreger. Heute werden zunehmend nur noch ausgewählte Antigene der Pathogene eingesetzt. Da das adaptive Immunsystem schon bei der Geburt bereitsteht, entwickeln auch Säuglinge gegen diese verimpften Antigene Antikörper, die ­ sie vor einer nachfolgenden Infektion mit dem Pathogen schützen.

 

In Deutschland empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) des Robert-Koch-Instituts auf der Basis ­wissenschaftlicher Evidenzen (Verfügbarkeit, Wirksamkeit, Verträglichkeit), zu welchem Zeitpunkt Impfungen gegen welche Erkrankung erfolgen sollten. Säuglinge sollten nach diesem Impfkalender bereits im Alter von sechs Wochen (Rotaviren) sowie zwei Monaten (Sechsfachimpfstoff gegen Diphtherie, Haemophilus influenzae Typ b, Hepatitis B, Pertussis, Polio, Tetanus; zusätzlich Impfung gegen Pneumokokken) die ersten Impfungen erhalten. Erkrankungen wie Keuchhusten sind im Säuglings­alter häufig von schweren Komplikationen wie Atemstillstand begleitet. Daher ist ein derartig früher Impf­zeitpunkt sinnvoll. Abweichungen vom Standardschema aufgrund eines individuellen Risikoprofils sind möglich (14).

Anfälliger für Infektionen

 

Zumindest in den ersten Lebensmonaten wird die Abwehr des Säuglings von maternalen Antikörpern unterstützt, die während der Schwangerschaft die Plazentaschranke überwunden haben. Doch damit ist es aufgrund der begrenzten Halbwertszeit der Antikörper nach spätestens sechs Monaten vorbei (8). Auch die Muttermilch enthält antimikrobielle Peptide, Antikörper und Komplementfaktoren. In einer afrikanischen Studie sank die Sterblichkeit der Neugeborenen um 22 Prozent, wenn die Mütter direkt nach der Geburt mit dem Stillen beginnen (9).

 

Säuglinge und Kleinkinder erkranken aufgrund der »schwachen Konstitution« ihres Immunsystems deutlich häufiger an Infekten als ihre älteren Geschwister oder Eltern. Spitzenreiter sind die Atemwegsinfekte – durchschnittlich schnupfen und husten Kinder in den ersten vier Jahren achtmal jährlich. Den Kontakt des Säuglings mit Mikroorganismen durch übertriebene hygienische Maßnahmen zu minimieren, wäre aber kontraproduktiv. Die Auseinandersetzung mit Krankheitserregern ist für die Entwicklung des Immunsystems unverzichtbar. Nur so können beispielsweise Gedächtniszellen gebildet werden, die bei einer ­Sekundärinfektion die Bereitschaft und Effektivität des adaptiven Immunsystems erhöhen, und nur so gelingt eine adäquate Kolonisation des Darms mit Mikroorganismen.

 

Zur Vermeidung von Nahrungsmittelallergien wurde jahrzehntelang empfohlen, eine Allergen-Exposition (Beispiele Kuhmilch, Eier, Erdnüsse) durch Nahrungsmittel oder Muttermilch in den ersten Lebensmonaten zu umgehen. Neuere Untersuchungen lassen jedoch vermuten, dass eine frühe Exposition bei manchen Allergenen das Risiko sogar senken kann (10).

 

Training im Darm

Obwohl nach der Geburt Pathogene allgegenwärtig sind, darf nicht jedes neue Alloantigen vom Immunsystem des Säuglings bekämpft werden. Insbesondere muss es die Besiedlung des Darmes mit fremden Mikroorganismen zulassen. In den ersten drei Lebensjahren ist die Zusammensetzung des gas­trointestinalen Mikrobioms – auch Darmflora genannt – noch variabel; erst danach stabilisiert sich diese Lebensgemeinschaft. In dieser Zeit zeigen die in der Mukosa des Darms vorkommenden Immunzellen gegenüber fremden Antigenen eine erhöhte Toleranz. Vermittler dieser Toleranz sind wiederum Treg-Zellen, deren Antigen-Repertoire durch eine Exposition mit unterschiedlichen Mikroorganismen sukzessive erweitert wird (11).

 

Die Zusammensetzung des gastrointestinalen Mikrobioms hängt von zahlreichen Faktoren ab. Direkt nach der Geburt gilt: Wer zuerst kommt, ­siedelt zuerst (12). Bei einer vaginalen Geburt wird die Haut des Säuglings zunächst von der Vaginalflora der Mutter bedeckt, bei per Sectio geborenen Säuglingen sind es (maternale) Hautkeime. Diese Unterschiede beeinflussen auch die Besiedelung des Darms. Weiter beeinflusst die Ernährung des Säuglings (Stillen) die Artenzusammensetzung seines gastrointestinalen Mikrobioms.

 

Seit Langem ist bekannt, dass das aus etwa 100 Trillionen (1014) Organismen bestehende Mikrobiom uns beim Verdauen der Nahrung hilft, Vitamine bereitstellt und die Ansiedlung pathogener Keime verhindert (11). Neuere Forschungen belegen zusätzlich eine wichtige Funktion als »Trainer« des Immunsystems. Steril gehaltene Tiere, die keine Mikroorganismen beherbergen, weisen weitreichende Änderungen des angeborenen und erworbenen Immunsystems auf (12). Solche Tiere zeigen eine erhöhte Suszeptibilität für entzündliche Darmerkrankungen, Asthma und Nahrungsmittelallergien.

 

Epidemiologische Studien am Menschen belegen, dass in einer bäuerlichen Umgebung aufgewachsene Kinder ein geringeres Risiko für allergische Erkrankungen tragen – möglicherweise aufgrund einer größeren Vielfalt ihres gastrointestinalen Mikrobioms. Für einen solchen Zusammenhang spricht auch, dass eine Antibiotika-Therapie in den ersten Lebensmonaten die Suszeptibilität für eine ganze Reihe chronischer Erkrankungen wie Allergien, Asthma, Adipositas und entzündliche Darmerkrankungen erhöht. Aufgrund ihrer veränderten Mikrobiom-Komposition haben auch Kinder, die per Sectio geboren wurden, ein erhöhtes Risiko (12).

 

Welche Spezies des gastrointesti­nalen Mikrobioms und welche Mechanismen für das Training des Immun­systems wichtig sind, wird intensiv ­beforscht. Ebenso stellen sich Wissenschaftler die Frage, wie die Änderungen des neonatalen Immunsystems über Jahrzehnte erhalten bleiben und welche Rolle epigenetische Mechanismen dabei spielen. Nicht zuletzt suchen sie nach Möglichkeiten, das Immunsystem in der frühen Lebensphase so zu beeinflussen, dass das Langzeiterkrankungsrisiko sinkt. /

 

Literatur 

  1. Murphy, K. M., Travers, P., Walport, M., Janeway Immunologie. Heidelberg Springer-Spektrum 7. Aufl. 2014.
  2. Goenka, A., Kollmann, T. R., Development of immunity in early life. J Infect. 71 (2015) S112-S120.
  3. Gollwitzer, E. S., Marsland, B. J., Impact of Early-Life Exposures on Immune Maturation and Susceptibility to Disease. Trends Immunol 36 (2015) 684-696.
  4. Simon, A. K., Hollander, G. A., McMichael, A., Evolution of the immune system in humans from infancy to old age. Proc R Soc B 282 (2015) 1–9.
  5. Levy, O., Innate immunity of the newborn: basic mechanisms and clinical correlates. Nat Rev Immunol. 7 (2007) 379-390.
  6. Guleria, I., Sayegh, M. H., Maternal acceptance of the fetus: true human tolerance. J Immunol. 178 (2007) 3345-3351.
  7. MacGillivray, D. M., Kollmann, T. R., The role of environmental factors in modulation immune responses in early life. Frontiers in Immunology 5 (2014) 1-12.
  8. Basha, S., Surendran, N., Pichicero, Immune Response in Neonates. Expert Rev Clin Immunol 10 (2014) 1171-1184.
  9. Edmond, K. M., et al., Delayed breastfeeding initiation increases risk of neonatal mortality. Pediatrics 117 (2006) 380-386.
  10. Wang, J., Sampson, H. A., Food allergy. J Clin Invest 121 (2011) 827-835.
  11. Round, J. L., Mazmanian, S. K., The gut microbiome shapes intestinal immune responses during health and disease. Nat Rev Immunol 9 (2009) 313-323.
  12. Gensollen, T., et al., How colonization by microbiota in early life shapes the immune system. Science 352 (2016) 539-544.
  13. Friese, K., Mylonas, I., Schulze, A. (Hrsg.), ­Infektionserkrankungen der Schwangeren und des Neugeborenen. Heidelberg, Springer-Verlag 2013.
  14. Robert Koch Institut, www.rki.de/DE/Home/homepage_node.html

Die Autorin

Heidi Schooltink studierte Biologie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen. Dort wurde sie 1992 am Institut für Biochemie der Medizinischen Fakultät mit einer Arbeit über den he­patischen Interleukin-6-Rezeptor promoviert. Danach arbeitete sie am Deutschen Krebs­forschungs­zentrum in Heidelberg über rekom­binante Antikörper. Die Autorin ist seit 2002 als freiberuf­liche Wissenschaftsjournalistin und Lektorin tätig.

 

Dr. Heidi Schooltink

Theodor-Heuss-Weg 6

24211 Schellhorn

E-Mail: hschooltink@aol.com 

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