»Wie sie glänzen und sich bewegen« |
15.08.2018 10:03 Uhr |
Von Ulrike Abel-Wanek, Ingelheim / Neuer Name, neues Haus und das bewährte Konzept, Weltklasse-Kunst an den Rhein zu holen: Nach zweijähriger Sanierungspause melden sich die Internationalen Tage Ingelheim zurück im Alten Rathaus. Mit neugestalteten, modernen Räumen und einer spektakulären Skulpturenausstellung.
Picasso, Nolde oder Wahrhol: Man muss keine internationalen Museen besuchen, um große Kunst zu sehen. Das Alte Rathaus im rheinhessischen Ingelheim hat sich seit 1984 mit den Ausstellungen der ganz Großen aus Kunst und Kultur einen Namen gemacht. Der imposante, aber auch in die Jahre gekommene Bau des Alten Rathauses, errichtet 1861, wurde am vergangenen Samstag unter dem neuem Namen »Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus« wiedereröffnet.
»Tänzerin« von Max Beckmann, 1935 (oben) und Auguste Rodins »Eva« aus dem Jahr 1881.
Fotos: Städel Museum (U. Edelmann), Artothek
Von Grund auf saniert und mit der packenden Ausstellung »Mensch! Skulptur«, die die künstlerische Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper zum Thema hat. Zu sehen sind rund 60 figürliche Werke von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er-Jahre. Dass die Wahl zur Wiedereröffnung des Alten Rathauses auf Skulpturen fiel, ist laut Kurator Dr. Ulrich Luckhardt kein Zufall. »Skulpturen brauchen Streiflicht, um ihre Wirkung zu entfalten«, weiß der Leiter der Internationalen Tage Ingelheim. Tatsächlich scheinen sie zum Leben zu erwachen im wechselnden Licht, das durch die großen Rundfenster fällt – und der Betrachter ist erstaunt über eine Interaktivität zwischen ihm und der Skulptur, die ganz ohne digitale Tricks auskommt. Die Präsentation ist pur, man ist mit der Figur allein, Wandtexte fehlen. »Man soll um die Skulpturen herumgehen, soll selbst erfassen, wie sie glänzen und sich bewegen«, sagt Luckhardt. Informationen gibt es in einem Heft mit Künstlerbiografien, das jeder Besucher mit dem Eintritt an die Hand bekommt.
Die Internationalen Tage Ingelheim sind ein Kulturengagement von Boehringer Ingelheim. Am Anfang stand die Idee, im Umfeld eines international tätigen Unternehmens Ausblicke auf Leben und Kultur anderer Nationen und Völker zu geben. Der Leitgedanke kultureller Offenheit und Fortbildung veranlasste 1959 Dr. Ernst Boehringer, ein Kulturfestival auszurichten.
Die ersten Internationalen Tage waren dem Nachbarn Frankreich gewidmet und umfassten eine kleine Ausstellung sowie ein buntes Programm von Vorträgen bis hin zu kulinarischen Spezialitäten. Der Grundstein für die Zukunft war damit gelegt, und die Internationalen Tage entwickelten sich mit bemerkenswerter Dynamik.
Die Ausstellungen wurden bald zum Kernpunkt der nun mehrwöchigen Veranstaltung. Seit über vier Jahrzehnten eröffnen die Internationalen Tage Einblicke in die Kunst und Kultur unserer Welt, wenn das Alte Rathaus in Ingelheim am Rhein alljährlich zum Schauplatz thematischer oder monographischer Ausstellungen wird. Lange schon finden die Ausstellungen auch Beachtung in internationalen Fachkreisen.
Der menschliche Körper steht im Mittelpunkt der Ausstellung, und 12 Künstler führen den Formenreichtum der Skulptur der letzten hundert Jahre vor Augen, darunter Max Beckmann, Edgar Degas, Alberto Giacometti, Henry Moore, Pablo Picasso und Auguste Rodin. Stehende und tanzende Figuren, kauernde und liegende oder einzelne Fragmente wie Kopf und Hände – aus Marmor, Messing, Bronze und Terrakotta, erzählen Geschichten über die, die sie erschufen.
Über die bedrängte Existenz von Beckmann beispielsweise, von den Nazis als entartet diffamiert, dessen »Tänzerin« jede Leichtigkeit vermissen lässt. Im Gegensatz dazu die filigranen Ballarinas von Degas, der auch als Maler Motive aus Oper und Ballett bevorzugte. Auch der »Mann mit gebrochener Nase« hat einen Platz in der Ingelheimer Ausstellung. Der von Rodin geschaffene Bronze-Kopf eines Pariser Arbeiters schaffte es 1864 zwar nicht zur Ausstellung im Pariser Salon, machte den Künstler fünf Jahre später aber weltberühmt.
Nach umfangreicher Grundsanierung und Erweiterung präsentiert sich das Alte Rathaus neu.
Foto: Stefan Hirtz
Ob der Harlekin von Picasso, dessen Motive aus der Malerei häufig auch Eingang fanden in sein Werk als Bildhauer, die betenden Hände von Georg Kolbe als Ausdruck der Trauer um seine verstorbene Frau oder Alexander Archipenkos konstruktivistischer Kopf: Anhand der verschiedenen Motiv- und Themengruppen dokumentiert die Ausstellung die künstlerische Entwicklung von der anfänglich realistischen, dreidimensionalen Körperlichkeit bis hin zur Abstraktion und Reduktion. Ungewöhnlich in der Kunstgeschichte ist Archipenkos Werk, das den umgekehrten Weg nahm – weg von der Abstraktion seiner frühen Werke hin zur realistischen Figur bei seinen späteren Arbeiten.
Skulpturen-Ausstellungen fristen im Vergleich zu Bilder-Ausstellungen ein eher stiefmütterliches Dasein in Museen. Vielleicht, weil man in Zeiten visueller Reizüberflutung irgendwann verlernt hat, sich einzulassen auf einen »stillen Dialog« mit der Figur. »Skulpturen erfordern mehr als Bilder«, sagt Luckhardt. Die Ingelheimer Ausstellung aber erfordert eigentlich nur eines: Hinzugehen und sich die wunderschönen, tanzenden, trauernden, selbstbewussten und nachdenklichen Skulpturen anzuschauen – und sich von ihnen berühren zu lassen. /
Ausstellung:
Mensch! Skulptur
12. August bis 21. Oktober 2018
Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus
François-Lachenal-Platz 1
55218 Ingelheim am Rhein
Öffnungszeiten:
Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag
11 bis 19 Uhr
Samstag, Sonntag und an Feiertagen
11 bis 18.Uhr