Pharmazeutische Zeitung online
Neugeborenenscreening

Ein lebensrettender Test

02.06.2009  13:52 Uhr

Zielerkrankungen

Hyperthyreose

Adrenogenitales Syndrom

Biotinidase-Mangel

Galaktosämie

Hyperphenylalaninämie (Phenylketonurie)

Ahornsiruperkrankungen

MCAD-Mangel

VLCAD-Mangel

Carnitinzyklusdefekte

Glutarazidurie Typ I

Isovalerianazidämie

 

Im Jahr 2005 wurden sie in das nationale Vorsorgeprogramm aufgenommen und die Kosten werden von den Krankenkassen übernommen. Seitdem wird jedes Neugeborene in Deutschland auf diese zwölf Erkrankungen getestet, sofern die Eltern dem schriftlich zustimmen. Trotz der Freiwilligkeit ist die Akzeptanz groß. So nehmen in Bayern derzeit 99,6 Prozent der Eltern die Möglichkeit zum Neugeborenenscreening wahr. »Vor allem die gute Beratung durch das intensiv geschulte Krankenhauspersonal könnte für diesen Erfolg mitverantwortlich sein«, sagte Muntau.

 

Für den Screeningtest werden dem Säugling einige Blutstropfen entnommen und diese mithilfe der Tandem-Massenspektrometrie auf Aminosäuren und Acylcarnitine analysiert. Letztere sind Metabolite, die sich aus dem Fett- und Aminosäurestoffwechsel ableiten und sehr spezifische Rückschlüsse auf angeborene Stoffwechselerkrankungen erlauben.

 

Gewinner des Programms

 

Bis heute wurden allein in Bayern 1,6 Millionen Neugeborene gescreent. Dabei konnten mehr als 1000 Kinder mit einer seltenen Erkrankung frühzeitig erkannt werden. Ihr Schicksal wird auch heute noch von den Landesämtern für Gesundheitsförderung in Bayern dokumentiert und der Langzeitverlauf wissenschaftlich ausgewertet.

 

Zur großen Gruppe der Gewinner des Programms gehören Kinder, bei denen der Transport und die Oxidation von Fettsäuren in Mitochondrien gestört sind. Darunter sind Kinder, die unter einem Mangel an Medium-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase (MCAD) leiden. MCAD ist eines von zahlreichen Enzymen, die dabei helfen, Fettsäuren zu verstoffwechseln. Vor allem mittelkettige Fettsäuren können Menschen mit MCAD-Mangel nicht vollständig oder nur unzureichend abbauen. Die betroffenen Kinder kommen jedoch anscheinend gesund auf die Welt. Bis zu anderthalb Jahren entwickeln sie sich normal. Dann kommt es zu einem ersten banalen Infekt mit Fieber, Durchfall und Erbrechen. Stellen dabei die Kinder ihre Nahrungszufuhr ein, zeigt der MCAD-Mangel zum ersten Mal sein pathogenes Potenzial: Aus heiterem Himmel fallen die Betroffenen ins Koma.

 

Selbst Kinderärzte kommen nur bei den wenigsten dieser kleinen Patienten auf die richtige Diagnose. Studien zeigen, dass Fehldiagnosen mit 72 Prozent sehr häufig sind. Weitere 16 Prozent der komatös in eine Klinik eingelieferten Kinder bekommen überhaupt keine Diagnose. In der Regel stellen die Mediziner bei diesen Patienten lediglich eine Unterzuckerung fest. Sobald sie wieder aufwachen, werden sie daher nach Hause entlassen, versehen mit einem Arztbrief, in dem steht, dass sie unter einer Hypoglykämie unklarer Genese gelitten hätten. Viele dieser Kinder überleben die nächste banale Infektion nicht. »Dies ist geradezu ein klassisches Schicksal«, sagte Muntau. Bereits während der ersten Krise versterben etwa 20 Prozent der Betroffenen. Bei 40 Prozent der Überlebenden kommt es zu schweren neurologischen Schäden.

 

Doch die Therapie ist denkbar einfach, wenn die Erkrankung erkannt wird: Betroffene müssen regelmäßig Nahrung zu sich nehmen und dabei vor allem mittelkettige Fettsäuren weitgehend vermeiden. Dass diese Maßnahmen Erfolg haben, zeigen 156 Kinder, deren MCAD-Mangel beim Screening an der Ludwig-Maximilians-Universität erkannt wurde. Keines dieser Kinder ist bislang in ein Koma gefallen. Ein Kind leidet unter psychomotorischen Entwicklungsverzögerungen, zwei sind verstorben.

 

Eine sehr viel seltenere Erkrankung ist der Mangel an Long-Chain-Hydroxy-Acyl-CoA-Dehydrogenase (LCHAD). Doch auch diesen Kindern kann geholfen werden, wenn sie diätetisch mit vielen Kohlehydraten und Fettsäuren behandelt werden, die sie noch abbauen können. Unbehandelte Kinder leiden unter einer schweren Herzmuskelschwäche. Werden sie vor allem nachts über eine Sonde ernährt, normalisieren sich ihre Metabolite jedoch in kürzester Zeit.

 

Eine weitere Erkrankung, bei der die Betroffenen von der Früherkennung besonders profitieren, ist die Glutarazidurie Typ 1. Auch sie verläuft besonders dramatisch, denn bei den Betroffenen ist der Abbau von Aminosäuren, wie Lysin und Tryptophan, gestört. Die Kinder entwickeln sich bis zum ersten banalen Infekt völlig normal. Danach verlieren sie wesentliche motorische Fähigkeiten, denn der Defekt führt zu erheblichen Nervenzellverlusten. So können die Patienten nicht mehr laufen, sitzen und sprechen. Aber ihre Intelligenz bleibt nahezu erhalten. Analog zur Phenylketonurie profitieren die Betroffenen von einer eiweißarmen Diät unter Meidung der Aminosäuren, die sie nicht abbauen können. Zumeist wird sie mit einer Sonde verabreicht. Außerdem kann die Gabe von Carnitin helfen, toxische Aminosäuren auszuschleusen. Doch nicht immer haben die Mediziner damit Erfolg. »Es gibt Patienten mit einer komplizierten Cranitintransportstörung, die sehr schwer einzustellen sind«, sagte Muntau. Trotz Screening sind daher auch in München schon Patienten an der seltenen Erkrankung gestorben.

 

Noch kann beim Screening nicht zwischen leichten und schweren Verläufen unterschieden werden. So kommt es, dass einige der positiv getesteten Kinder behandelt werden, obwohl dies möglicherweise nicht notwendig wäre. Doch allein das Beispiel der 24-jährigen Studentin, die kürzlich in Hamburg auf dem OP-Tisch völlig unerwartet verstarb, zeigt, wie sinnvoll das Screening auf seltene Erkrankungen sein kann. Ihr MCAD-Mangel wurde erst post mortem entdeckt. Hätte es bei ihrer Geburt schon das Screening gegeben, wären ihr die lange Nüchternphase vor der einfachen Operation und die daraus entstandenen fatalen Folgen erspart geblieben.

Mehr von Avoxa