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Psychische Erkrankungen

Jugendliche unter Druck

14.05.2014  09:59 Uhr

Von Hannelore Gießen, München / Die Freundin isst kaum noch etwas, der Klasenkamerad trainiert unentwegt im Fitnessstudio und der Nachbarsohn versinkt in der virtuellen Welt: Fast jeder kennt junge Menschen mit psychischen Problemen. Wann Handlungsbedarf besteht, erklärten Experten bei einem Pressegespräch in München.

Jeder fünfte bis sechste Jugendliche sei psychisch auffällig, berichtete Professor Dr. Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck am Chiemsee. »Der gesellschaftliche Druck erreicht die Jugendlichen heute früher«, erklärte der Psychiater. »Die Schulzeit und damit die Kindheit wurden verkürzt, die Medien tragen Rollenerwartungen früher an den Einzelnen heran. Oft kommen noch familiäre Probleme dazu.«

Doch nur jeder zweite erkrankte Jugendliche werde auch behandelt, zitierte Voderholzer aktuelle Daten der BELLA-Studie, die vom Robert-Koch- Institut in Auftrag gegeben worden war. Viel zu wenige spezialisierte Einrichtungen stünden zur Verfügung. Vor allem auf dem Land fehle es an spezialisierten Therapieangeboten. Die unterschiedlichen Störungen müssten gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sehr differenziert behandelt werden, um nachhaltig zu wirken.

 

Versunken in der virtuellen Welt

 

Ein relativ neues Phänomen ist die exzessive Nutzung von Internet und Smartphone, die bei jedem zehnten Jugendlichen auftritt. »Wenn Jugendliche jeden Tag acht bis zwölf Stunden mit Computerspielen verbringen und ihre Gedanken ständig darum kreisen, sind dies deutliche Alarmzeichen«, betonte Kai W. Müller, Psychologe an der Ambulanz für Spielsucht der Universität Mainz auf dem Pressegespräch der Klinik Roseneck Anfang Mai.

 

Verknüpft sei dieses Verhalten mit einem sozialen Rückzug, der meist familiäre Konflikte und schulische Probleme nach sich ziehe, berichtete Müller. »Professionelle Hilfe wird dann notwendig, wenn Jugendliche aufgrund ihrer exzessiven Internetnutzung Schule, Freunde und Pflichten vernachlässigen und selbst bei negativen Konsequenzen ihr Verhalten beibehalten«, fasste der Psychologe die Kriterien für eine Internetsucht zusammen. Viele Betroffene reagieren mit Stress und Schlafstörungen, wenn sie vorübergehend nicht online sein können. »Bei solchen Jugendlichen ist das dysfunktionale Internetverhalten nur die Spitze des Eisberges. Oft verbirgt sich dahinter noch eine Depression oder eine Aufmerksamkeitsstörung«, betonte der Experte.

 

Die virtuelle Welt bestimmt das Leben der jungen Menschen vollständig. In die Therapie ist deshalb eine sechswöchige Phase eingebaut, in der kein Computer und kein Smartphone benutzt werden. Danach wird schrittweise eine adäquate Mediennutzung vermittelt, wobei Online-Rollenspiele dauerhaft gemieden werden müssen. Ein Element der Therapie besteht im Aufbau eines gesunden Selbstbildes, das bei Jugendlichen mit Internetsucht gestört ist.

 

Müller zitierte einen jungen Patienten: »Ich bin in die Klinik gekommen, weil ich ununterbrochen am PC sitzen muss und mich auf nichts anderes konzentrieren kann. Ich weiß aber noch, wie sich ein normales Leben anfühlt und möchte das wieder haben.«

Fragiles Selbstbild, exzessiver Sport

 

Ein gestörtes Selbstwertgefühl bildet auch den Nährboden für Essstörungen. Dazu kommen gesellschaftliche Schönheitsideale und Wertvorstellungen, die junge Menschen unter Druck setzen. Zwar erkranken zehnmal mehr junge Frauen an einer Magersucht, doch die Zahl der betroffenen jungen Männer steigt. »Wenn männliche Jugendliche zu uns kommen, haben sie oft ein lebensbedrohliches Untergewicht erreicht und sind schon länger erkrankt«, berichtete Dr. Silke Naab, Chefärztin an der Klinik Roseneck. »Über Diäten und Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper sprechen junge Männer seltener. Diese Themen sind schambesetzt, was es besonders schwer macht, die Erkrankung zu erkennen und zu behandeln.« Männliche Patienten mit Essstörungen versuchen, vor allem über exzessiven Sport, ihr Körpergewicht zu kontrollieren.

 

Plötzliche Auslöser

 

Wie es zu der Erkrankung kommt, ist in vielen Punkten noch nicht verstanden. Das ständige Überangebot an Essen trage jedoch zu einem Entgleisen des normalen Essverhaltens bei, erläuterte die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. In den Nachkriegsjahren sowie in ärmeren Kulturen träten kaum Essstörungen auf.

 

Aus einem problematischen Essverhalten kann eine Essstörung werden, wenn auch nur eine einzige Irritation hinzukommt: Schon eine negative Bemerkung des Sportlehrers könne einen jungen Menschen in eine Essstörung treiben, mahnte Naab. Mobbing durch die Mitschüler hätten ihn in eine massive Krise gestürzt, bestätigte Tobias B., ein 17-jähriger Patient, der im letzten halben Jahr stationär in der Klinik Roseneck behandelt wurde. Zunächst habe er begonnen, massiv Sport zu betreiben und schließlich immer weniger gegessen. Dann habe er sich von den regelmäßigen Mahlzeiten seiner Familie zurückgezogen und innerhalb von neun Monaten rund 40 Kilogramm abgenommen. Erst eine zweite längere stationäre Therapie habe ihm geholfen, aus der Krise herauszufinden, berichtete der junge Mann.

Essstörungen nehmen zu

PZ / Die Zahl der stationären Therapien von Essstörungen hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, wie das Bayerische Landesamt für Statistik mitteilt. Den Daten des Amtes zufolge wurden im Jahr 2012 in bayerischen Krankenhäusern 2891 Behandlungen von Patienten mit psychisch bedingten Essstörungen durchgeführt. Dies sind 12,3 Prozent mehr als 2011 und 31,0 Prozent mehr als zwölf Jahre zuvor. Betroffen waren fast ausschließlich Mädchen und junge Frauen (93,1 Prozent). In 54,4 Prozent der Fälle (1573 Behandlungen) waren die psychisch bedingten Essstörungen eine Anorexia nervosa (Magersucht) und in 22,0 Prozent der Fälle (637 Behandlungen) eine Bulimia nervosa (Ess-Brechsucht). Die durchschnittliche Behandlungsdauer aller psychisch bedingten Essstörungen war mit 50,5 Tagen um 43,1 Tage länger als beim Durchschnitt aller vollstationären Behandlungen. Insgesamt wurden nach Angaben des Robert-Koch-Instituts im Jahr 2012 in deutschen Krankenhäusern rund 11 500 Patienten wegen Essstörungen behandelt. /

Frühe Therapie verhindert Manifestation

 

Die Symptome sind bei beiden Geschlechtern ähnlich, aber die Diagnostik und Therapie ist bei Männern schwieriger. Da das Thema schambesetzt ist, kommt es sehr darauf an, spezifisch auf die jungen Männer und ihre Situation einzugehen. Ihm habe besonders die Gruppentherapie mit anderen Jungen geholfen, fügte Tobias hinzu.

 

Handlungsbedarf sieht Naab bei einem Body-Mass-Index unter 17,5 und einer eingeschränkten Alltagskompetenz. »Eine Anorexia nervosa ist eine schwere psychiatrische Erkrankung. Jeder zehnte der jungen Patienten stirbt an ihren Folgen«, machte die Expertin deutlich. Sie riet deshalb, lieber zu früh als zu spät Alarm zu schlagen. »Viele Chronifizierungen könnten durch einen frühen Behandlungsbeginn verhindert werden. Wenn die Tochter oder der Sohn plötzlich nicht mehr frühstücken und erklären, sie würden in der Schule essen, ist dies auffällig«, erklärte Naab.

 

Am gefährlichsten sei eine Anorexia nervosa mit Purging, betonte die Fachärztin. Dabei werden Abführmittel- und Entwässerungsmittel missbräuchlich eingesetzt, um schneller abzunehmen. Purging trete fast ausschließlich bei jungen Mädchen und Frauen auf. Der Medikamentenmissbrauch könne erhebliche Elektrolytverschiebungen nach sich ziehen und zu Herzrhythmusstörungen führen.

 

Die Jugendpsychiaterin wünschte sich deshalb von den Apothekern eine erhöhte Aufmerksamkeit, wenn junge Frauen häufig Abführ- oder pflanzliche Entwässerungsmittel kaufen. Im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung empfahl sie, möglichst behutsam über die möglichen Probleme dieses Medikamentenkonsums zu sprechen. Gerade leichte Entwässerungsmittel stünden häufig am Anfang eines massiveren Substanzmissbrauchs. /

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