Pharmazeutische Zeitung online
Big Data

IT, Hippokrates und Health Care

20.04.2015  11:20 Uhr

Von Christiane Berg / Die digitale (R)evolution hat ein ungeahntes Wachstum der Möglichkeiten gebracht. Das Internet ist zum öffentlichen Raum des 21. Jahrhunderts geworden. IT dominiert mehr und mehr auch das Gesundheitswesen.

Health Care, Health Management, Health Monitoring, Health Education: »Die durch IT erschlossene Datenbestands- und -verfügungsmasse birgt große Chancen und Potenziale für die Gesundheitsversorgung mit völlig neuen Erkenntnissen, die das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft deutlich verbessern«, sagt Dr. Thilo Weichert, Leiter des Unabhängigen Landeszentrums (ULD) für Datenschutz Schleswig-Holstein, Kiel.

 

Spielregeln neu definieren

 

Die Interpretation der mithilfe von modernen IT-Infrastrukturen gewonnenen (Patienten)Daten, kurz: Big Data, fördert die medizinische Forschung und somit die Vorsorge, Prävention und Therapie vor allem chronischer und seltener Erkrankungen. Sie ermöglicht die optimierte Gesundheitsversorgung einer zunehmend älter und multimorbider werdenden Gesellschaft auch in ländlichen Regionen bei gleichzeitiger Ausschöpfung wirtschaftlicher Ressourcen, unterstrich der Kieler Datenschützer im Gespräch mit der PZ.

 

Als Riesengeschäftsfeld für neue Player im Gesundheitswesen gehe die algorithmenbasierte Sammlung und Auswertung der wachsenden Datenmengen jedoch mit einem eklatanten informationellen Machtungleichgewicht und der Gefahr des Missbrauchs einher.

 

Weichert warnt vor der medizinischen Benachteiligung, der kommerziellen Ausbeutung und der gesellschaftlichen Diskriminierung des Einzelnen durch Offenbarung körperlicher, seelischer, familiärer oder ökonomischer Notlagen.

Neue rechtliche und solidargemeinschaftliche Spielregeln seien unumgänglich. Doch hinke die Legislative den Entwicklungen hinterher. Die gesetzgeberischen Defizite seien insbesondere beim Gesundheitsdatenschutz gravierend, so der Rechts- und Politikwissenschaftler. Er sprach von einer »sich täglich verschärfenden Situation«.

 

Zwar hat der Deutsche Bundestag vor kurzem einen Ausschuss für Digitalpolitik gegründet, der die Tiefen und Strömungen des ansteigenden Datenmeeres ausloten soll. Dieser Ausschuss steht jedoch erst am Anfang und zeichnet sich weder durch gezielte Vorgehensweisen noch durch einen erkennbaren Plan, schon gar nicht im Gesundheits-, Klinik-, Arzt- und Apothekenwesen aus.

 

Hier, so Weichert, sind die Heilberufe und ihre Gremien in der Pflicht. Dringend müssten diese klare standesrechtliche Verhaltenregeln und Audits, Standard Operation Procedures (SOPs) und Best Practices entwickeln und festschreiben. Die Gesundheitspolitik müsse »in den Stand der Problemerfassung versetzt werden«. Nicht nur die Patienten, auch die Heilberufe selbst hätten viel zu verlieren.

 

Datenschatten und Schattendaten

 

Big Data wächst. Mit der schon jetzt gigantischen Datenmenge steigen die Zahl und der Umfang individueller persönlicher IT-Profile, der sogenannten Datenschatten. Das zeigt eindrucksvoll der Schatten des Grünen-Politikers Malte Spitz, den dieser im Rahmen der Recherchen zu seinem Buch »Was macht Ihr mit meinen Daten?« erstellt und im Oktober 2014 auf Spiegel-Online (1) veröffentlicht hat.

 

Über farbige Buttons lassen sich dort mit dem Mauszeiger einzelne Datenquellen hervorheben. Ersichtlich werden nicht nur Kontakte von Spitz unter anderem zur Bahn, zum Einwohnermeldeamt, zur Bank und zur Polizei, sondern auch zu seiner Krankenkasse und somit zu Apotheken und Arzt­praxen.

 

Für jeden offensichtlich ist es Spitz vor circa zwei Jahren gesundheitlich nicht gut gegangen. So hat er im Oktober und November 2012 sowie im Januar, Februar und April 2013 mehrfach ­einen Arzt sowie die Adonis-, die Sanimedus-, die Medico-Apotheke und die Apotheke am Hauptbahnhof in Berlin aufgesucht.

 

Ob Finanz-, Internet-, Melde- oder Reisedaten: Weitere elektronische Einträge geben detailliert Auskunft über die Lebensumstände, Familienverhältnisse und Person von Spitz. Sie zeigen unter anderem, wann er wo Bücher, DVDs, CDs, Verbrauchsmaterialien und Kinderartikel gekauft oder Kontobewegungen getätigt hat beziehungsweise zu welcher Uhrzeit an welchem Tag er mit welchem Flug oder Zug in welche Stadt gereist und gefahren ist.

 

Der Bürgerrechtler betont, dass es sich bei dem von ihm nur mithilfe einer Agentur erschlossenen Datensatz lediglich um die Spitze eines Eisberges handelt. »Daten sind ein lukratives ­Geschäft. Unternehmen haben kein ­Interesse an Transparenz«. Die überwiegende Zahl der von ihm zur Datenoffenlegung aufgeforderten Firmen und Institutionen hätte sich nur kryptisch geäußert beziehungsweise ablehnend oder gar nicht reagiert.

 

Vor allem fehle in diesem Zusammenhang ein »wichtiger dicker Brocken«, nämlich die von Internet- und Mobilfunkbetreibern gespeicherten Verbindungsdaten. Selbst der unvollständige Datensatz zeige jedoch eindrucksvoll, dass »Bürger nicht länger mehr tatenlos zusehen dürfen, wenn sie weiter über ihre informationelle Selbstbestimmung und Datensouveränität verfügen wollen«, so Spitz.

 

Selbstbestimmung gefährdet

 

Behörden, Banken, Gesundheitsämter, Supermärkte, Tankstellen, Hotels: Datenquellen existieren wie Sand am Meer. Alter, Geschlecht, Einkommen, Wohngegend, Vorlieben, (Surf)verhalten? Als besonders riskant bewerten Medizininformatiker das Abzapfen von Informationen aus sozialen Netzwerken.

 

Laut Dr. Rainer Röhrig, Mitglied im Vorstand der Technologie- und Methodenplattform für vernetzte medizinische Forschung (TMF e.V.), Berlin, entstehen dabei nicht nur Datenschatten, sondern auch sogenannte Schattendaten (2). Mit anderen Worten: Es werden nicht nur die privaten Angaben der User, sondern auch die ihrer Follower, Bekannten und Freunde »ausgelesen« und zu Schattendatenbanken, also algorithmenbasierten Informationsnetzen mit Zusatzauskünften zusammengeführt.

 

Die informationelle Selbstbestimmung, so Röhrig, ist extrem gefährdet. Die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen müssten jedoch auch im IT-Zeitalter gewährleistet sein. Der klärende politische und juristische Diskurs sei daher unumgänglich. Dringend notwendig sei dieser nicht zuletzt auch angesichts der Zunahme sogenannter »weißer ­Flecken im dichten Netz« (2).

 

Je mehr Personen mit bestimmten Merkmalen und spezifischen Verhaltensmustern im Internet auffindbar sind, desto auffälliger werden Menschen, über die keine Informationen existieren. Diese, so Röhrig, drohen früher oder später Opfer des »normativen Drucks« und der gesellschaftlichen ­Diskriminierung zu werden.

 

Zu welchem Zweck gehen welche Daten an welche Institutionen? Diese Frage muss auch mit Blick auf die IT-Sammlung, -Speicherung, -Analyse und -Verwertung der Ergebnisse von Gen-Analysen beantwortet werden. Die so gewonnenen Datensätze erlauben Aussagen nicht nur über das Genom Betroffener, sondern auch über das ­ihrer Angehörigen, selbst wenn diese sich grundsätzlich gegen Gen-Analysen entschieden haben.

 

Damit, so Röhrig, steht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Person, die die Speicherung ihres Genoms für spätere Therapieoptionen wünscht, dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Menschen entgegen, der sich gegen die Analyse und Speicherung seiner genetischen Daten und somit für das Recht auf Nichtwissen ausgesprochen hat (2).

 

Die »Aufdrängung von Wissen« könne nicht nur zu gesundheitlichen und seelischen Schäden für Betroffene, sondern auch zu ungewollten Auswirkungen auf ihre Lebensqualität oder -planung führen. Wie Menschen mit spezifischen Gen-Mutationen und somit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit der Entstehung oder schlechteren Prognose spezifischer Erbkrankheiten könnten früher oder später auch ihre Verwandten in Konflikte, zum Beispiel mit Versicherungen, Krankenkassen oder (potenziellen) Arbeitgebern, geraten.

 

Ungeklärt ist, ob sie im Umgang mit diesen Institutionen ihre (ungewollten) Informationen offen legen müssen oder ob sie diese verschweigen und ­damit ein falsches Zeugnis ablegen dürfen. Da sie sich durch die Unter­drückung von Informationen einen Vermögensvorteil schaffen, könnte dies gemäß Röhrig den Tatbestand des Betrugs erfüllen (2).

 

Apotheker und Ärzte gefordert

Big Data hat viele Gesichter. Die Datenflut birgt große Potenziale im Kampf gegen Leid und Schmerz. Sie geht jedoch–sollte sie sich als unbeherrschbarer Tsunami erweisen – mit schweren Folgen für die Solidargemeinschaft einher.

 

Im Gespräch mit der PZ betonte Weichert, dass Datenverarbeitung im Bereich von Health Care rechtsstaatlich und grundrechtskonform umsetzbar ist. Dazu müssten sich jedoch alle von der Vorstellung verabschieden, Big Data sei ausschließlich eine Frage der technischen Machbarkeit.

 

Die Notwendigkeit gesellschaftlicher Direktiven reiche weit über das Internet und die Möglichkeiten neuer IT-Dienstleistungen hinaus. Sie tangiere grundsätzliche Fragen der menschlichen Kultur und des sozialen Miteinanders. »Eine neue virtuell-interaktive Welt braucht neue virtuell-interaktive gesellschaftliche Übereinkünfte sowie neue virtuell-interaktive Gesetze nicht zuletzt auch, um das Abgleiten in einen Silicon-Valley-Kapitalismus zu verhindern«.

 

Angesichts der Untätigkeit des Gesetzgebers und der zuständigen Parlamente, so Weichert, müssen Apotheker und Ärzte ihre im Rahmen der Selbstverwaltung gegebene eigenständige Regulierungskompetenz nutzen, das heißt ihre in Kammergesetzen und ­Berufsordnungen festgeschriebenen Grundwerte und Datenschutzvorgaben IT-entwicklungsgerecht anpassen und ständig aktualisieren.

 

Ob am HV-Tisch oder im ärztlichen Sprechzimmer, in der Praxisanmeldung oder im Backoffice der Apotheke: »Die Umsetzung der kammerrechtlichen Vorgaben, das regelmäßige Update, die (Vorab)kontrolle und Absicherung der EDV gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines betrieblichen Datenschutzbeauftragten muss ganz oben auf der täglichen Agenda jeder Apotheke und jeder Arztpraxis stehen«.

 

Integrität in Frage gestellt


Patientendaten besitzen etwas »Schicksalhaftes und gleichermaßen Höchstpersönliches«, sagt Weichert. Ihre individuelle Einzigartigkeit und hohe Verletzlichkeit mache ihre strenge Zweckbindung und Geheimhaltung und somit insbesondere die Wahrung hippokratischer Werte und Ideale unumgänglich.

 

Apotheker- und Arzt-Geheimnis, Schweigepflicht, Diskretion, Zuverlässigkeit? Der Datenschützer warnt vor einer »Kompromittierung der Integrität« der Heilberufe, sollte es nicht gelingen, diese hippokratischen Werte und Ideale ins IT-Zeitalter zu transformieren. »Müssen Patienten annehmen, dass sie sich auf die Vertrauenswürdigkeit ihrer Apotheker und Ärzte nicht mehr verlassen können, nimmt nicht nur die Akzeptanz und Anerkennung der Heilberufe Schaden. Auch die zwischenmenschliche Basis und somit die Grundlage jedes heilberuflichen Wirkens wird zerstört«.

 

Vor diesem Hintergrund, so Weichert, sind Anlässe für Medienberichte wie die über Apotheker- und Ärzte-Panel in der »Zeit«-Ausgabe vom 31. Oktober 2013 absolut kontraproduktiv.

 

Unter der Überschrift »Behandelt und verkauft« berichtete die überregionale Wochenzeitung über »dicke Geschäfte« zwischen Heilberuflern und Marktforschungsunternehmen. Zwar gäben Apotheker und Ärzte Paneldaten anonymisiert, pseudonymisiert und aggregiert weiter. Doch stünden die Daten(sätze) nie für sich allein.

Es sei die von Marktforschungsunternehmen »unter dem Deckmantel der Wissenschaft« professionell praktizierte Entschlüsselung und Re-Identifizierung, also die methodische Kombination aller zur Verfügung stehenden Quellen und Daten, die für den Patienten gefährlich werden kann. Dieser werde zum »gläsernen Kranken« und Wirtschaftsfaktor gemacht.

 

Auch der »Zeit«-Beitrag hebt die Bedeutung der hippokratischen Werte hervor. »Was ich sehe und höre bei der Behandlung oder außerhalb im Leben der Menschen, so werde ich von dem schweigen, was niemals nach draußen dringen soll«, hat der Urarzt schon 400 vor Christus gelobt. Die Schweigepflicht sei heilig und gelte bis heute.

 

Das scheine jedoch niemanden mehr zu interessieren. Im Gegenteil: Mit Krankheits- und Patientendaten, so heißt es, werden jährlich allein in Deutschland 30 Millionen Euro Umsatz gemacht. »Erst behandelt, dann vermarktet – Millionen Leidensgeschichten werden zum großen Geschäft«, schreibt die »Zeit«.

 

Für Apotheker und Ärzte, so Weichert, sind derartige Berichte äußerst nachteilig, vermitteln sie doch den Eindruck, dass das Vertrauen in die Heilberufe nicht mehr gerechtfertigt ist.

 

Hybris und Phlegma

Big Data erzeugt gemischte Gefühle. Das Thema ist von Hybris und Phlegma, aber auch von Unwissenheit und Fahrlässigkeit geprägt. Großes Unverständnis zeigte der Kieler Datenschützer nicht nur angesichts »unkluger« apothekerlicher und ärztlicher Verhaltensweisen. Befremden äußerte er auch in Anbetracht des »digitalen Exhibitionismus« und der Neigung vieler User, selbst ihre intimsten Geheimnisse im Internet preiszugeben. Auch die kritiklose Übernahme und Forcierung des derzeit aus den USA nach Europa schwappenden Trends des »self-trackings« im Rahmen der »quantified-self-Bewegung« sei nicht nachvollziehbar.

 

Derzeit werden circa 100 000 eHealth-Apps auf dem Markt angeboten. Niemand weiß, was mit den Daten geschieht. Die überwiegende Zahl der Anbieter informiert nur lückenhaft über ihren Datenschutz oder potenzielle Interessenskonflikte (Sponsoren, Werbung). Nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass nur die wenigsten App-Anbieter für Transparenz im Umgang mit den Userdaten sorgen, sei allergrößte Zurückhaltung und Datensparsamkeit angezeigt.

 

Der Self-Tracking-Boom erweckt den Eindruck, dass die Abschätzung möglicher Folgen der schnellen IT-Entwicklungen wie von der Politik auch von den Nutzern vernachlässigt wird. Dem jedoch, so Weichert, widerspricht sowohl die Vielzahl besorgter Anfragen beim ULD als auch die umfangreiche belletristische Literatur und Fülle an Beststellern, die berechtigte Denkanstöße zum Thema Big Data geben.

In »Corpus delicti – Ein Prozess« beschreibt die preisgekrönte Schriftstellerin Juli Zeh einen Zukunftsstaat, der Kondition und Konstitution gemäß normierter Vital- und Verhaltenswerte zur höchsten Bürgerpflicht erhoben hat. Nicht nur plötzliche Einbrüche im Leistungsprofil oder Fehlstandsanzeigen am Hometrainer, auch der Missbrauch toxischer Substanzen wie Alkohol und Nikotin wird geahndet.

 

Krankheit ist nicht länger mehr ­Privatsache. Die Durchsetzung des ­»methodenrechtlichen Anspruchs auf Gesundheit« wird als große gesellschaftliche Errungenschaft betrachtet. Das Justizdrama, in dem die »Seele zur Adoption freigegeben und der Körper zum Tempel, Altar, Götzen und Opfer« erhoben wird, endet in der mensch­lichen Apokalypse.

 

»Sie wissen, was Du tust«: Auch die von Marc Elsberg in dem Cyber- und Politthriller »Zero« geschilderte Zukunftswelt ist von der schleichenden Kontrolle des täglichen Lebens durch ausgefeilte Computerprogramme, Fitness- und Act­Apps sowie virtuelle Coaches geprägt.

 

In »The Circle« als »Pageturner über die Abgründe des derzeitigen Vernetzungswahns« (Zeit Online) schildert Dave Eggers einen Alltag, der nicht nur von allgegenwärtigen Minikameras, Iris- und Gesichtsscanning, sondern auch von oralen Sensoren zur lückenlosen Protokollierung biometrischer Werte beherrscht wird. Aufgezeigt wird die Entstehung einer Gesundheitsdiktatur, in der nach und nach nicht nur das Persönlichkeits- und Selbstbestimmungsrecht, sondern auch die Gedankenfreiheit auf der Strecke bleiben.

Glossar

IT: Informationstechnik, Überbegriff für Informations- und Datenverarbeitung sowie die dafür genutzte Hard- und Software

 

Big Data: Schlagwort für das Sammeln, Speichern, Analysieren und Verwerten der weltweit gigantischen Datenmengen mittels moderner IT-Kommunikations-, Sensoren- und Vernetzungstechnologien

 

Self tracking: Selbstvermessung; Sammlung, Analyse und Speicherung von Vital- und Verhaltenswerten mithilfe digitaler Technik

 

Quantified-self-Bewegung: 2007 in den USA ins Leben gerufene Bewegung von self-trackern, die mithilfe digitaler Technik gewonnene personenbezogene Daten aufzeichnen und analysieren, um sich persönlich, gesundheitlich und/oder sportlich zu optimieren

 

Wearables: Computersysteme und alle Formen elektronischer Geräte, die am oder im Körper getragen werden und über spezifische Sensoren Vital- und Verhaltensdaten protokollieren

 

Disruptive Technologie: engl.: disrupt – unterbrechen, zerreißen; innovative Technologie, die eine bestehende Technologie, ein bestehendes Produkt oder eine bestehende Dienstleistung verdrängt

Neue Machtverhältnisse

 

»Die größte Gefahr von Big Data ist die Rückführung in selbstverschuldete Unmündigkeit«, betont Professor Albrecht von Müller, Philosoph an der Ludwig-Maximilians-Universität, München (2). Auch er warnt vor der Abschaffung freiheitlicher Grundwerte und dem Rückfall in die (IT)-Despotie.

 

»Im Internet herrscht das Mittel­alter. Und wir sind die Knechte und ­Untertanen«, so formuliert es Bruce Schneier, US-amerikanischer Experte für Computersicherheit. Im Wettbewerb um Profit, so Schneier, missbrauchen die »neuen Lehnsherren Google & Co. ihre zunehmende Machtfülle und die Privatsphärenregelungen ihrer Nutzer aufs Gnadenloseste«. Es sei dringend an der Zeit, sich zu wehren, zumal die »schiere Definition von Macht in Veränderung begriffen ist und damit verbundene Probleme weit über das ­Internet und die Beziehungen zu ­IT-Dienstleistern hinausreichen« (3). Langfristig müssten »wir alle daran ­arbeiten, das Machtungleichgewicht wieder auszubalancieren«.

 

»Die derzeitigen Entwicklungen dürfen nicht länger mehr nur hingenommen werden. Sie müssen differenziert auch mit Blick auf das Spannungsverhältnis und die unterschiedlichen Auffassungen zum Schutz von Grundrechten wie Vertraulichkeit, Integrität und Privatsphäre diesseits und jenseits des Atlantiks betrachtet werden«, unterstreicht Weichert. Es gelte, in der Tradition der europäischen Aufklärung stehende humanistische Grundwerte und hier auch den Erhalt der freien Persönlichkeitsentfaltung zu verteidigen.

 

Der Datenschützer zeigte sich optimistisch. »Wir müssen im Kampf der Kulturen nicht zwangsläufig der Amerikanisierung unterliegen. Im Gegenteil: Es wird uns gelingen, unsere europäischen Gesellschaft- und Bildungsideale in die Diskussion einzubringen und zur Zivilisierung von Facebook, Google, Amazon und Co. beizutragen«, konstatierte er. »Deutschland kann die internationalen Tendenzen lenken, indem es mit gutem Beispiel vorangeht«.

 

Wer schützt die Privatsphäre? Wem gehören die Daten? Wer hat das Recht, sie zu sammeln, zu bündeln und auszuwerten? Wie verändert das ständige Vernetztsein den Menschen und seine Kultur?

 

Das sind Fragen, die beantwortet werden müssen, bevor sich die IT-Entwicklungen »im blühenden Geschäft auf beiden Seiten des Atlantiks« von selbst überholen, unterstreicht auch Steffan Heuer, US-amerikanischer Korrespondent für deutsche Wirtschaftsmagazine, der wie Weichert für mehr »gesunde Skepsis« plädiert (4).

 

»Big Data ist Big Business«: Auch Heuer befürchtet eine unkontrollierte »Big Data-Landnahme« des menschlichen Körpers sowie völlig neue Formen der Benachteiligung und Ausgrenzung des Einzelnen, die von der Vorenthaltung von Informationen bis hin zur genetischen und sozialen Stigmatisierung reichen.

 

Die gesellschaftliche Debatte über Risiken und Nebenwirkungen der von Big Data initiierten und unterhaltenen »vernetzten Nabelschau« müsse geführt werden, »bevor die Unternehmen, die davon profitieren, vollendete Tatsachen schaffen, mit denen sich der Einzelne dann nur noch arrangieren kann« (4).

 

Disruptive Kraft


Die von Heuer vorhergesagte Big Data-Landnahme des Körpers ist im vollen Gang und wird nicht mehr nur von PCs, Tablets, Smartphones und Apps getragen.

 

Gewicht, Schlaf, Blutfluss, Herz- und Atemfrequenz, Hautwiderstand, Menge des täglich konsumierten Trinkwassers, Zahl der Schritte? Die gleichzeitige Nutzung verschiedener Wearables und auch von Sensoren in Textilien, Schuhen, Ohrhörern, Datenbrillen und Smartwatches wird zur Bildung von »Body Area Netzwerken« führen, die die kontinuierliche Analyse spezifischer Biometriken möglich machen. Das prognostiziert Florian Schumacher, Gründer der Quantified Self Deutschland und Trendscout bei Wearable Technologies AGs (2).

 

Mithilfe von Pflastern und Mikronadeln wird es zukünftig unter anderem gelingen, die Interstitialflüssigkeit der äußersten Hautschicht zu analysieren und so noch tiefere Einblicke in die Biochemie des Körpers zu nehmen. Dann, so der Design Thinker mit eigenem Blog (igrowdigital.com), wird auch die permanente Überwachung von Körperfunktionen mithilfe kleiner, unter der Haut einsetzbarer Implantate möglich sein.

 

Die ständige Erfassung von Sensor- und Verhaltensdaten eröffne neue Optionen auch in der medizinischen Diagnostik. Die Vielzahl der auf den Servern der Hersteller gespeicherten Daten könne an Ärzte weitergeleitet werden. So werde unter anderem die Früherkennung von Stress und Burnout, Depressionen oder Alzheimer als Erkrankungen erleichtert, die sich durch spezifische Veränderungen der Stimme und des Bewegungsverhaltens kenntlich machen.

 

Im Kommen sind zudem Gesundheitsscanner und -sensoren für Stühle, Tische und Betten, die die Erfassung und Kontrolle von Vital- und Bewegungswerten im Wohnraum und schließlich – im Gesamtkontext – die vollautomatische Diagnose und Verlaufskontrolle von Krankheiten wie ­Ohreninfektionen, Diabetes Typ II oder Schlaf-Apnoe erlauben.

 

Die Quantified-self-Bewegung, so Schumacher, ist Basis einer Vielzahl neuer, weit über den Gesundheitsbereich hinausreichender Anwendungen und Dienste, die ungeahnte Perspektiven nicht nur für Wirtschaft, Politik und Unternehmen, sondern insbesondere für den User und Patienten bringen (2).

 

»Niemand will und kann den Mehrwert durch IT-Fortschritt und -Wettbewerb aufhalten«, sagt Weichert mit Blick auch auf die immer wieder von Startup-Unternehmern und Firmengründern erhobenen Vorwürfe, der Datenschutz dürfe »nicht stets nur auf die Bremse treten« und »nach Kontrolle schielen«. Gerade weil die beschriebenen Perspektiven weit über das Thema Gesundheit hinaus reichen, müssten diese solidargemeinschaftlich durchdacht und geprüft werden. Eine pluralistische Willensbildung sei unumgänglich. »Ein im gesellschaftlichen Konsens definiertes verbindliches Regelwerk ist unverzichtbar, damit Transparenz gewährleistet und Missbrauch ausgeschlossen wird«.

 

Ob Health Care oder Quantified self: Die Digitalisierung der Gesundheit erfordert den verstärkten Diskurs aller Heilberufe. »Diese sind sowohl dem Patienten als auch sich selbst verpflichtet«, betont Weichert. »Die standespolitische Verifizierung der digitalisierten Gesundheit auf Basis informierter Entscheidungen ist unerlässlich, damit ­Patienten, Apotheker und Ärzte der ­disruptiven Kraft von Big Data gewachsen sind.« /

 

Literatur: 

  1. http://www.spiegel.de/netzwelt/web/datenschutz-der-datenschatten-von-malte-spitz-a-999554.html
  2. Big Data in Medizin und Gesundheitswirtschaft – Diagnose, Therapie, Nebenwirkungen; Hrsg: Peter Langkafel, medhochzwei Verlag GmbH, Heidelberg, 2014
  3. https://www.bpb.de/dialog/netzdebatte/169183/im-internet-herrscht-das-mittelalter-und-wir-sind-die-knechte
  4. Digitalkompakt LfM: Kleine Daten, große Wirkung; www.lfm-nrw.de/nrwdigital/digi talkompakt.html

Die Autorin

Christiane Berg studierte Pharmazie an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel und wurde 1984 in der Abteilung Toxikologie des Zentrums Klinisch-Theoretische Medizin II (Leitung: Professor Dr. Otmar Wassermann) promoviert. Im selben Jahr ging sie als Redakteurin der Pharmazeutischen Zeitung nach Frankfurt am Main. Es folgte eine zweijährige Tätigkeit in einer Frankfurter PR-Agentur. Seit Gründung des norddeutschen Redaktionsbüros der Pharmazeutischen Zeitung 1989 lebt und arbeitet Berg in Hamburg.

 

Dr. Christiane Berg

Alte Rabenstraße 8

20148 Hamburg

E-Mail: chris-berg@t-online.de

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