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Studie

Nebenwirkungen als Notfälle

18.04.2018  10:24 Uhr

Von Annette Mende / Welche Arzneimittel haben Sie genommen? Diese Frage sollten Ärzte in der Notfallambulanz jedem Patienten stellen. Neuen Daten zufolge tun sie das aber viel zu selten.

Einer aktuellen Studie zufolge steckt in mindestens 6,5 Prozent der Fälle eine unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) dahinter, wenn ein Patient zum Notarzt muss. Allerdings wurden in der Untersuchung, die jetzt im »Deutschen Ärzteblatt« erschien, nur etwas mehr als die Hälfte der Patienten überhaupt nach einer möglichen Arzneimittel­anwendung gefragt. Die Autoren um Dr. Marlen Schurig vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte rufen daher Ärzte und Patienten zu erhöhter Wachsamkeit hinsichtlich möglicher UAW auf (DOI: 10.3238/arztebl. 2018.0251).

 

Polymedikation häufig

 

Für die Analyse wurden sämtliche Pa­tienten, die binnen 30 Tagen in vier größeren Krankenhausnotaufnahmen in Ulm, Fürth, Bonn und Stuttgart behandelt wurden, erfasst. Insgesamt waren das 10 174 Behandlungsfälle, bei denen 665 UAW-Verdachtsfälle detektiert wurden. Die Autoren legten dabei die Definition der Europäischen Arznei­mittelagentur zugrunde, wonach eine UAW eine Reaktion auf ein Arzneimittel darstellt, die schädlich und unbeabsichtigt ist und bei der ein Kausalzusammenhang als mindestens möglich ­eingeschätzt wird. Auch Medikationsfehler, etwa eine falsche Dosierung oder der Einsatz eines Arzneimittels trotz bestehender Kontraindikation, sind laut dieser Definition UAW, allerdings vermeidbare.

 

Patienten mit UAW waren in der Studie meist älter als 65 Jahre und nahmen häufig mehrere Arzneimittel gleichzeitig ein – im Median sieben verschiedene Wirkstoffe, wobei die Spannweite von 1 bis 18 reichte. Die berichteten UAW betrafen oft den Magen-Darm-Trakt und das Nervensystem, zum Beispiel Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel und vorübergehende Bewusstlosigkeit (Synkopen). Häufig waren die Beschwerden unspezifisch, etwa Verschlechterung des Allgemeinzustands, Schmerz, Fieber oder Ermüdung, was die Zuordnung zur Arzneimitteltherapie und damit das Erkennen der UAW erschwert. Auslöser der UAW waren am häufigsten antithrombotische Mittel und Blutdrucksenker wie Betablocker, ACE-Hemmer beziehungsweise AT-Blocker und Diuretika. Wie es den betroffenen Patienten im Verlauf erging, wird im Rahmen der ADRED-Studie weiter erfasst und ausgewertet. So wollen die Forscher Erkenntnisse zu Ursachen, Risikofaktoren aufseiten der Patienten und potenzieller Vermeidbarkeit der UAW gewinnen.

 

Dunkelziffer vermutet

 

Bei UAW-Verdacht mussten Patienten öfter stationär aufgenommen werden, als wenn keine UAW vermutet wurde: Lediglich 11 Prozent der UAW-Verdachtsfälle wurden ausschließlich ambulant in der Notaufnahme versorgt gegenüber 51 Prozent der Gesamt­behandlungsfälle. Die Autoren vermuten, dass insbesondere UAW, die ein traumatisches Geschehen zur Folge haben, also beispielsweise Verletzungen bei Stürzen infolge von Arzneimittel-bedingtem Schwindel oder Synkopen, in Wirklichkeit noch häufiger sind, weil in der Hektik der Notaufnahme möglicherweise nicht nach der Medikation gefragt wurde.

 

»Unsere Daten unterstreichen die Bedeutung der Polypharmazie für das Auftreten von UAW«, lautet ein Fazit der Verfasser. Seniorautorin Professor Dr. Julia Stingl wies gegenüber der Zeitung »Die Welt« darauf hin, dass ab fünf gleichzeitig eingenommenen Wirkstoffen die Wahrscheinlichkeit für Wechselwirkungen aufgrund von UAW exponenziell ansteigt. Daher sei es wichtig, dass der Arzt oder Apotheker über alle gleichzeitig eingenommenen Wirkstoffe Bescheid wisse. Das sei am besten durch einen vollständigen Medikations­plan zu erreichen, den der Patient mit sich trägt. /

Kommentar

Steilvorlage

Die Ergebnisse der Untersuchung im »Deutschen Ärzteblatt« sind eine Steilvorlage für alle Apotheker, die mehr Verantwortung für die Optimierung der Arzneimitteltherapie ihrer Patienten übernehmen wollen. Denn man kann es einfach nicht oft genug wiederholen: Arzneimittel sind keine Bonbons; im Idealfall lindern sie Leiden und ermöglichen Patienten ein beschwerdefreies Leben, oft genug gibt es aber auch Komplikationen wie Neben- oder Wechselwirkungen, die den Patienten ernsthaft gefährden können. Das Schwierige daran ist, dass unerwünschte Arzneimittelwirkungen nicht immer auf den ersten Blick als solche zu erkennen sind. Wenn beispielsweise eine alte Dame gestürzt ist, braucht es jemanden, der die Ursache dafür in ihrer Medikation sieht, bevor sie sich beim nächsten Mal vielleicht den Oberschenkelhals bricht. Apotheker sind für diese Aufgabe prädestiniert. Ein stets aktueller Medikationsplan, der digital gespeichert und im Notfall leicht zugänglich ist und den Arzt und Apotheker gemeinsam pflegen, ist dafür die Voraussetzung.

 

Annette Mende 

Redakteurin Pharmazie

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