Pharmazeutische Zeitung online
Mikrobe des Jahres 2016

Multitalent Streptomyces

19.04.2016  10:33 Uhr

Von Theo Dingermann und Ilse Zündorf / Nur wenige Lebewesen können sich rühmen, gleich zweimal mit einem Nobelpreis geehrt worden zu sein. Streptomyceten gehören dazu. Sie produzieren Streptomycin (Nobelpreis 1952) und Avermectin (2015). Und ganz aktuell erhielten die Bakterien die Auszeichnung »Mikrobe des Jahres«.

Sicher hatte jeder von uns schon einmal Kontakt mit einem ihrer Produkte – bewusst oder unbewusst: als kerngesunder Spaziergänger im Wald oder als Kranker im Bett. Die vielfältigen Mikroben der Familie Streptomycetaceae ­leben streng aerob und in sehr vielen Lebensräumen. 

In Böden sorgen sie für die Bildung von Humus und den Duft frischer Erde. Im Darm von Regenwürmern, Termiten und anderen Lebewesen bauen sie schwer verdauliche Stoffe ab. Für die Pharmazie sind ihre Sekundärmetaboliten unersetzlich.

 

Etwa 70 Prozent aller aus Bakterien isolierten Antibiotika stammen von Streptomyceten. Zu dieser großen Familie gehören ungefähr 500 verschiedene Streptomyces-Arten, in denen wiederum Tausende Stämme und Isolate zusammengefasst werden. Stoffe wie Tetracyclin, Erythromycin und Daptomycin, Fungizide wie Ampho­tericin B, das Immunsuppressivum ­Rapamycin oder das Zytostatikum Bleomycin wären ohne die winzigen Synthesemeister undenkbar. Mit Streptomycin aus Streptomyces griseus konnten die Ärzte in den 1940er-Jahren endlich die Tuberkulose (TB) bekämpfen. Noch heute ist es ein Mittel zweiter Wahl bei TB. Avermectin aus Streptomyces avermitilis wurde zu Ivermectin weiterentwickelt und eröffnet Therapiechancen für Menschen mit Fadenwurm-Erkrankungen wie Onchozerkose und Elephantiasis.

Lebenszyklus einer Streptomyces-Art

Unter günstigen Bedingungen keimt eine Spore und wächst zu einer Hyphe aus, die sich auch verzweigt. Schließlich entsteht ein dichtes Mycel-Geflecht aus den vegetativ wachsenden Hyphen, häufig ohne unterteilende Zellwände, das sich über und in das Substrat ausbreitet. Gehen die Nährstoffe zur Neige, wachsen Lufthyphen in die Höhe und bilden mit der Verdopplung des Genoms auch Querwände aus. Mit einer besonderen Verdickung der Zellwand und Einlagerung von Pigmenten differenzieren sich diese einzelnen Zellen zu Konidiosporen, die in einem physiologischen Ruhezustand überdauern, bis sie in eine geeignete Umgebung gelangen, um dort wieder auszukeimen.

Frappierende Ähnlichkeit zu Pilzen

 

Auf den ersten Blick – zugegeben, man muss genauer hinsehen, am besten durch ein Mikroskop – ähneln die grampositiven Bakterien bestimmten Pilzen. In ihrem Lebensraum, sei es im Erdreich oder im Sediment von Gewässern, bilden die Winzlinge ein Pilz-ähnliches Mycel, ein dichtes Geflecht aus fädigen, sehr dünnen und teils sehr lange Zellen (Hyphen).

Ist genügend Nahrung vorhanden, wachsen die Hyphen durch Verdopplung des Genoms an den Spitzen weiter, wobei sich die Fäden immer wieder verzweigen. Keineswegs werden dabei immer Querwände eingezogen. So entstehen Kolonien mehrzelliger Gebilde, die dann auch mit bloßem Auge erkennbar werden und schnell, aber fälschlich als »Schimmelpilz« klassifiziert werden. In dieser Phase ­ernährt sich das bakterielle Geflecht – ähnlich wie die Pilze – häufig sapro­phytisch von ­organischem Material ­(Kasten).

 

Altert die Bakterienkolonie und ­gehen allmählich die Nährstoffe in der Umgebung zur Neige, bilden sich Luftmycelien aus senkrecht nach oben wachsenden Hyphen, an deren Enden zahlreiche Querwände eingezogen werden.

Daraus entwickeln sich perlschnurartig aufgereihte Sporen, sogenannte Konidien, die Trockenheit ganz gut überstehen können, aber bei Weitem nicht so stabil und widerstandsfähig sind wie die Endosporen anderer grampositiver Bakterien – man denke nur an Bacillus anthracis oder Clostri­dium tetani. Über diese Sporen können die Bakterien ungünstige Lebensbedingungen überdauern und, wegtrans­portiert durch Wind oder Tiere, neue Lebensräume erschließen.

 

Die Bildung der Luftmycelien geschieht zulasten des Substratmycels der alten Bakterienkolonie an der Basis, das umfangreich lysiert und biologisch wieder verarbeitet wird.

Somit zeichnen sich diese sehr einfachen prokaryontischen Organismen durch eine Eigen­schaft aus, die man eigentlich erst bei höheren Eukaryonten erwartet: die Möglichkeit zur Bildung eines vielzelligen Organismus, der in der Lage ist, in unterschiedliche Zelltypen zu differen­zieren, wobei ein Teil der Zellen zugunsten der Sporenbildung und somit zugunsten des Über­lebens der Art geopfert wird.

 

Diese morphologische und anatomische Ähnlichkeit mit Pilzen brachte Selman Waksman 1942 auf die Idee, diesen Bakterien den Gattungsnamen »Streptomyces« zu geben. Dieser setzt sich aus den griechischen Silben »« für »gewunden« und »« für »Pilz« zusammen.

 

Wirklich ein Bakterium und kein Pilz

 

Der wichtigste Unterschied zwischen den »gewundenen Pilzen« und den »echten« Pilzen ist, dass echte Pilze als eukaryontische Organismen über einen richtigen Zellkern verfügen, während die Streptomyceten grampositive Bakterien sind und eine dicke Mureinschicht als Zellwand mit Teichonsäuren und Lipoteichonsäuren als zusätz­liche Oberflächenstrukturen bilden. 

 

Als Prokaryonten haben sie natürlich ­keinen Zellkern. Vielmehr liegt das ­Genom als lineares Chromosom im ­Zytoplasma vor, und es fehlen auch alle anderen Zellorganellen wie die ­Mitochondrien.

 

Anders als Eukaryonten, die mit dem Endoplasmatischen Reticulum und den Dictyosomen über ein intrazelluläres Membransystem verfügen, über das unter anderem die Sekretion verschiedener Moleküle in die Umgebung gesteuert wird, haben Prokaryonten nur einen einzigen membranumhüllten Reaktions­raum. Bei Streptomyceten ist dieser Reaktionsraum zudem häufig noch vergrößert, wenn während der Wachstumsphase zwar eine Verdopplung der DNA, aber keine Zellteilung erfolgt.

 

Ungewöhnliches Genom

 

Betrachten wir Bakterien ganz allgemein, drängt sich als Modellorganismus gerne Escherichia coli als gram­negativer, stäbchenförmiger Bewohner unseres Intestinums und als wichtiger Produzent gentechnisch hergestellter Therapeutika auf.

Im Gegensatz zu E. coli, dessen Programm auf einem ringförmigen Genom von 4,7 Millionen Basenpaaren abgelegt ist, haben Streptomyceten ein deutlich größeres, lineares Chromosom von 8,7 bis zehn Millionen Basenpaaren. Damit ist das Streptomyces-Chromosom nur unwesentlich kleiner als das der Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae, einem einfach gestalteten Pilz, mit 12 Millionen Basenpaaren.

 

Der zentrale Bereich des linearen Streptomyceten-Chromosoms trägt die recht konservierten Gene des Primärstoffwechsels der Bakterien. An den ­Enden, wo sich vor allem die Gene für den Sekundärstoffwechsel befinden, unterscheiden sich die Genome verschiedener Streptomyces-Arten ganz erheblich. Diese Regionen sind besonders anfällig für genetische Neuorganisationen, also für Deletionen, Amplifikationen und Umlagerungen bestimmter Teilbereiche der DNA.

 

Die 7000 bis mehr als 9000 Gene der Streptomyceten-Genome sind zum Teil als Cluster funktioneller Einheiten organisiert, die zusammen transkribiert und translatiert werden. Wenn wir uns daran erinnern, dass der Mensch »nur« ungefähr 20 000 Gene besitzt, erscheint diese Zahl geradezu gewaltig. Dieser einfache Vergleich berücksichtigt jedoch nicht, dass die Genome höherer Eukaryonten in Exons und Introns organisiert sind, die ein ­alternatives Zusammenfügen genetischer Elemente auf Ebene der mRNA zulassen; dies steigert die Variabilität der Genprodukte eines einzigen Gens deutlich.

 

Auch Streptomyceten können ihre Genprodukte variieren, jedoch als Prokaryonten eben nicht über Exon/Intron-Strukturen auf mRNA-Ebene. Stattdessen erfolgt die Variation auf Genomebene, indem ganze Gene zwischen Clustern versetzt oder amplifiziert werden. Zudem findet ein reger horizontaler Gentransfer zwischen den Bakterien statt, wobei lineare und zirkuläre Plasmide mit unterschiedlichen Informationseinheiten zwischen verschiedenen Streptomyces-Arten ausgetauscht werden.

Besondere Genprodukte und Sekundärmetaboliten

 

Für die spezielle Anpassung an ihren Lebensraum stellen Streptomyceten eine Vielzahl von Molekülen her. Während beispielsweise E. coli nur ein oder zwei Proteine sezerniert, kennt man von Streptomyces-Arten mehr als 800 Proteine, die an die Umgebung abgegeben werden. Viele Proteine sind Enzyme und dienen dazu, ganz unterschiedliche Polymere wie Cellulose aus Holz oder Chitin von Insektenpanzern oder Pilz-Zellwänden zu zerschneiden, um dann die einzelnen Bausteine wiederverwerten zu können. Diese Enzyme sind zum Teil hoch interessant für die sogenannte weiße Biotechnologie, die das immense Potenzial an Enzymausstattungen unterschiedlicher Organismen für technische Produkte erschließt.

Pharmazeutisch viel spannender sind jedoch die Sekundärmetaboliten, die Streptomyceten sezernieren. Eine wahre Fundgrube ist die Datenbank StreptomeDB, die an der Universität Freiburg gepflegt wird. Hier werden Molekülstrukturen sowie verschiedene Stämme und Mutanten aus der Familie der Streptomycetaceae gesammelt. Wer recherchiert, findet mehr als 4000 Substanzen, die von mehr als 2500 Organismen gebildet werden.

 

Man geht davon aus, dass dies nur ein Bruchteil aller Streptomyces-Metaboliten ist. Vertreten sind Moleküle aus nahezu allen Biogeneseklassen, darunter Terpene, Aminoglykoside, Glyko­peptide, nicht-ribosomal synthetisierte ­Peptide und Polyketide. Eine besondere ­Variationsvielfalt bei den Molekülstrukturen resultiert aus den Multienzymkomplexen der Polyketid-Synthasen und der nicht-ribosomalen Peptid-Synthasen. Was leisten diese Synthese-Enzyme?

 

Aminosäuren in Proteinen werden in der Regel entlang der linearen Abfolge von Codons auf der Messenger-RNA aneinandergereiht und durch Peptidbindungen an Ribosomen kovalent miteinander verknüpft. Dagegen können nicht-ribosomale Peptid-Synthasen unabhängig von einer mRNA auch ungewöhnliche Aminosäuren enzymatisch aneinanderhängen. Beispiele für nicht-ribosomale Peptide aus Streptomyces-Arten sind die Antibiotika Dactinomycin oder Daptomycin sowie das Zytostatikum Bleomycin.

 

Polyketid-Synthasen sind maßgeblich beteiligt an der Herstellung des Anti­biotikums Erythromycin, des Immunsuppressivums Rapamycin oder des Parasitenmittels Avermectin, dem Vor­läufer von Ivermectin.

 

Gemeinsam ist den nicht-ribosomalen Peptid- und den Polyketid-Synthasen, dass sie als modular organisierte Multienzym-Komplexe aufgebaut sind, die jeweils über einen Gen-Cluster codiert sind. Jedes Modul hat eine bestimmte Substratspezifität und ist für einen Syntheseschritt verantwortlich. Die Abfolge der Module bestimmt die Sequenz der Synthesebausteine in dem Produkt.

 

Im Umkehrschluss lässt sich mit einer geänderten Aneinanderreihung der Module auch das Produkt ändern. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass über die genetisch sehr variablen Enden des Streptomyces-Genoms eine Vielzahl an Sekundärmetaboliten möglich ist. Werden die einzelnen Module gezielt durch gentechnische Methoden neu organisiert, erhält man sogenannte »natural unnatural products«. Das sind Moleküle, die natürlicherweise nicht existieren, die aber von einem ­lebenden Organismus produziert werden. Hier eröffnen sich erstaunliche Möglichkeiten, beispielsweise indem man Module der Peptid-Sythasen mit denen von Polyketid-Synthasen kombiniert.

Tabelle: Einige verbreitete Antibiotika, die von Streptomyces-Arten hergestellt werden

Chemische ­Substanzklasse Trivialname Herstellender Streptomycet Zielorganismen
Aminoglykoside Streptomycin S. griseus die meisten gramnegativen Bakterien
Spectinomycin verschiedene S.-Subspezies M. tuberculosis, Penicillinase-produzierende
N. gonorrhoeae
Neomycin S. fradiae breites Wirkspektrum, wird normalerweise wegen ­seiner Toxizität nur zur örtlichen Behandlung verwendet
Tetracycline Tetracyclin, ­Chlortetracyclin S. aureofaciens breites Wirkspektrum; grampositive und gramnegative Bakterien, Rickettsien, Chlamydien, Mycoplasmen
Makrolide Erythromycin Saccharopolyspora erythraea
(früher klassifiziert als ­ S. erythraeus)
die meisten grampositiven Bakterien, wird oft anstelle von Penicillin eingesetzt; Legionella
Clindamycin S. lincolnensis obligate Anaerobier, besonders Bacteroides fragilis
Polyene Nystatin S. noursei Pilze, insbesondere Candida
Amphotericin B S. nodosus Pilze
keine Chloramphenicol S. venezuelae breites Wirkspektrum; Mittel der Wahl gegen Typhus

(aus: Madigan, M. T., et al., Brock Mikrobiologie, 2013)


Breite Wirkungsvielfalt

 

So vielfältig die Strukturen, so vielfältig sind auch die Wirkungen der Substanzen. Etliche zeigen antibakterielle, ­andere fungizide, antiparasitäre, herbizide, zytostatische oder immunsuppressive Effekte. Zudem findet man unter den Naturstoffen auch potente Enzyminhibitoren. Als Beispiel sei der Lipase-Inhibitor Lipstatin erwähnt, der als Ausgangssubstanz für die Herstellung des Lipasehemmers Orlistat (Xenical®) eingesetzt wird.

 

Im Vergleich zu den recht komplex aufgebauten Polyketiden oder den nicht-ribosomalen Peptiden ist ein sehr geläufiges Stoffwechselprodukt einiger Streptomyces-Arten eher einfach aufgebaut. Der erdige Geruch von Waldboden wird von Geosmin verursacht. Dieses Sesquiterpen entsteht durch Zyklisierung aus Farnesyldiphosphat – ein Molekül, das auch bei uns Menschen im Rahmen der Cholesterolbiosynthese entsteht. In Streptomyceten sorgt ein Enzym, das sich aus nur zwei unabhängig voneinander agierenden katalytisch aktiven Hälften zusammensetzt, für die Bildung von Geosmin.

 

Sehr komplexe Kontrolle

 

Angesichts der hoch potenten Antibiotika und Enzyminhibitoren, die von Steptomyces-Arten synthetisiert werden, stellt sich die Frage, warum Streptomyceten solche Moleküle überhaupt produzieren und wie sie der toxischen Wirkung ihrer eigenen Produkte entkommen.

 

Die Antwort klingt einfach – die ­Realisierung ist jedoch im Detail komplex: Die Expression der relevanten Gen-Cluster ist sehr strikt kontrolliert.

Unter normalen Wachstumsbedingungen, also während der vegetativen Wachstumsphase werden so gut wie keine Sekundärmetaboliten gebildet. Erst mit Beginn der Sporulation beginnt die Synthese von Sekundärmetaboliten, beispielsweise von Antibiotika. Aus menschlicher Perspektive kann man dies so interpretieren, dass die Bakterien damit Konkurrenten um die inzwischen spärlich gewordenen Nährstoffe ausschalten und somit den eigenen Sporen einen Überlebensvorteil bieten. Gleichzeitig schützt die relativ späte Bildung der Antibiotika auch die eigene Kolonie, denn nur in der vegetativen Phase sind die Bakterien sensitiv für die Antibiotika, die sie selber produzieren. Bei zu früher Sekretion würden sie sich selbst töten.

 

Andere Kontrollmechanismen zielen darauf ab, gemeinsam als Kolonie zu agieren und Hemmstoffe ausreichend konzentriert an die Umgebung abzugeben. Für dieses »Quorum sensing« sezerniert jedes einzelne Bakterium einen sogenannten Autoinduktor, bei Streptomyces das γ-Butyrolacton. Je höher die Zelldichte in einem Bereich, desto mehr γ-Butyrolacton ist in der Umgebung vorhanden und kann wiederum von den Bakterien aufgenommen werden. Sobald genügend Autoinduktor in der Zelle vorliegt, bindet er an ein Protein, das zunächst als Repressor die Transkription verschiedener induzierbarer Gene verhindert. Erst wenn γ-Butyrolacton an den ­Repressor gebunden hat, löst der sich vom Promotor; dadurch wird das Ablesen der entsprechenden Gene möglich, die bei Streptomyces-Arten für die ­Bildung von Antibiotika verantwortlich sind.

 

Das »Quorum sensing« gewährleistet, dass das Antibiotikum erst ab einer bestimmten Zelldichte von allen Bakterien gebildet wird und dann auch in ausreichender Konzentration vorliegt, um den Nahrungskonkurrenten tatsächlich zu schädigen.

 

Allerdings ist die Kontrolle über die Herstellung von Sekundärmetaboliten selten so einfach und direkt. Mittlerweile wurden zahlreiche Faktoren identifiziert, die das komplizierte Netzwerk an Aktivatoren und Repressoren der Genexpression steuern. Und es kommen immer noch weitere Faktoren hinzu. Tatsächlich geht man davon aus, dass noch nicht alle Gen-Cluster und ihre Endprodukte in ihrer Funktion und Bedeutung aufgeklärt sind. Nach wie vor sind einige Cluster bei verschiedenen Streptomyces-Stämmen »kryptisch« und es ist nicht bekannt, unter welchen Bedingungen diese Cluster aktiviert werden und welches Produkt daraus gebildet wird.

Die Autoren

Theodor Dingermann studierte Pharmazie in Erlangen. Nach der Approbation 1976 folgten Promotion und 1987 Habilitation. Von 1991 bis 2013 war er Geschäftsführender Direktor des Instituts für Pharmazeutische Biologie an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Jetzt ist er Seniorprofessor der Universität. Dingermann war von 2000 bis 2004 Präsident der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft und arbeitete in zahlreichen wissenschaftlichen Gremien, unter anderem bei BfArM. Die Apotheker kennen ihn als Referenten, Autor und Co-Autor von wissenschaftlichen Fach- und Lehrbüchern. Seit April 2010 ist er externes Mitglied der Chefredaktion der PZ.

 

Ilse Zündorf studierte Biologie von 1984 bis 1990 an der Universität Erlangen. Nach einem Forschungsaufenthalt an der University of Kentucky, Lexington, USA, wurde sie 1995 am Institut für Pharmazeutische Biologie der Universität Frankfurt promoviert. Zunächst als Akademische Rätin, seit 2001 als Akademische Oberrätin arbeitet sie am Institut für Pharmazeutische Biologie der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschungsthemen betreffen Herstellung und Charakterisierung monoklonaler Antikörper, Herstellung und Modifikation rekombinanter Antikörperfragmente sowie die Etablierung von zellulären Testsyste­men zur Wirkstoffsuche.

 

E-Mail: Dingermann@em.uni-frankfurt.de

Im Fokus der Pharmaforscher

 

Etwa 70 Prozent aller aus Bakterien isolierten Antibiotika stammen von Streptomyceten (Tabelle). Diese Quelle für möglicherweise interessante Verbindungen gilt keineswegs als erschöpft. Bisher sind ungefähr 150 Genome aus der Bakteriengattung charakterisiert, die jeweils 20 bis 50 Gen-Cluster für ­Sekundärmetaboliten enthalten. Allein aus diesen genetischen Informationseinheiten werden etwa 100 000 Verbindungen postuliert, aber nur von 4 Prozent kann man die Struktur vorhersagen.

 

Bedenkt man nun, dass mehr als 500 verschiedene Spezies der Streptomyceten sicher beschrieben sind, die jeweils wahrscheinlich auch über entsprechende Gen-Cluster verfügen, bleibt noch viel zu entdecken. Zudem kommen durch die rege genetische Variation an den Enden des Streptomyces-Chromosoms vermutlich weitere Strukturvariationen hinzu. Die Organisation der Synthasen aus modularen Einheiten stellt quasi einen riesigen Baukasten an Enzymfunktionen dar, deren Gene immer wieder neu gemischt werden. Dies passiert auf natürlichem Weg. Aber auch akademische und industrielle Forschungsabteilungen erkunden das Kombinationspotenzial dieser »Baukästen«.

 

Streptomyceten sind streng aerob und können gut in Flüssigkultur unter kräftigem Schütteln gezüchtet werden. Der Nachteil ist, dass sie dann ­keine Sporen bilden. Da die Synthese vieler sezernierter Moleküle jedoch an eine Sporenbildung gekoppelt ist, lassen sich in einfacher Schüttelkultur ­keine Antibiotika gewinnen. Dieses Problem kann man zum Teil umgehen, indem geeignete Signalmoleküle zugefüttert werden. Alternativ lässt sich durch eine Co-Kultur mit anderen Organismen eventuell die Produktion der gewünschten Sekundärmetaboliten induzieren. Und schließlich versucht man auch, komplette Gen-Cluster aus Streptomyces zu isolieren und in einem anderen Organismus zu exprimieren.

 

Zweifelsohne sind die pharmazeu­tischen Fantasien, die sich um das »Streptom« ranken, keineswegs erschöpft. Das lässt hoffen – auch in Zeiten, in denen dringend neue Antibiotika benötigt werden. /

 

Literatur 

  • Chater, K. F., et al., The complex extracellular biology of Streptomyces. FEMS Microbiol Rev. 34 (2010) 171-198. 
  • Chater, K. F., Streptomyces inside-out: a new perspective on the bacteria that provide us with antibiotics. Phil. Trans. R. Soc. B 361 (2006) 761-768. 
  • Flärdh, K., Buttner, M. J., Streptomyces morphogenetics: dissecting differentiation in a filamentous bacterium. Nat Rev Microbiol 7 (2009) 36-49. 
  • Jiang, J., He, X., Cane, D. E., Biosynthesis of the earthy odorant geosmin by a bifunctional Streptomyces coelicolor enzyme. Nat Chem Biol. 3 (2007) 711-715. 
  • Demain, A. L., How do antibiotic-producing microorganisms avoid suicide? Ann N Y Acad Sci. 1974 May 10; 235 (0) 601-612. 
  • Klementz, D., et al., StreptomeDB 2.0 – an extended resource of natural products produced by streptomycetes. Nucleic Acids Res 44 (2016) D509-D514. 
  • Schrempf, H., Keller, U., Streptomyceten: Relevanz für Ökologie, Medizin und Biotechnologie. BioSpektrum 22 (2016) 22-25.

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