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Therapieleitlinien

Erfahrungen aus 15 Jahren

12.04.2011  15:38 Uhr

Von Iris Hinneburg, Berlin / Trotz aller Kritik gehören Leitlinien seit vielen Jahren zur guten medizinischen Praxis. Eine Bilanz zu »15 Jahre Leitlinien in Deutschland« zog das Ärztliche Institut für Qualität in der Medizin auf einem Symposium Ende März in Berlin. Ein wichtiges Thema auch für Apotheker, denn schließlich sind sie an der Nationalen Versorgungsleitlinie Asthma beteiligt.

Kochbuchmedizin, drohende Leistungseinschränkungen, Dominanz der Forscher über die Behandler: Mit diesen Schlagworten lassen sich viele Vorbehalte gegenüber der evidenzbasierten Medizin und Leitlinien zusammenfassen. Und doch sind Leit­linien aus dem Versorgungsalltag nicht mehr wegzudenken. Seit gut 15 Jahren entwickeln in Deutschland medizinische Fachgesellschaften Leitlinien als evidenzbasierte Entscheidungshilfen für Ärzte. 2002 startete zusätzlich das Programm für Nationale Versorgungsleitlinien (NVL, siehe Kasten). Federführend für die Koordinierung der Leitlinienerstellung ist das Ärztliche Institut für Qualität in der Medizin (ÄZQ) gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AWMF). In den Versorgungsleitlinien wird besonders den Schnittstellen zwischen Haus- und Fachärzten sowie anderen Einrichtungen des Gesundheitssystems Beachtung geschenkt. Welchen Stellenwert Leitlinien inzwischen haben, wurde im Rahmen des Symposiums diskutiert. Dabei ging es auch um die Nationale Versorgungsleitlinie Asthma. Seit 2009 sind die Apotheker in dieser NVL explizit mit konkreten Aufgaben in die Patientenversorgung eingebunden (siehe Kasten »Die Rolle des Apothekers...«).

Professor Dr. Günther Ollenschläger, Leiter des ÄZQ, machte auf die weltweite Relevanz der Thematik aufmerksam. »Das Thema Leitlinien ist international aktueller, als es in Deutschland wahrgenommen wird«, so Ollenschläger. Er wies darauf hin, dass das Niveau der Nationalen Versorgungsleitlinien international führend sei. Das liege auch an der Methodenentwicklung für die Erstellung von Leitlinien, die als erstes NVL-Projekt vorangetrieben worden sei. Auch die internationale Vernetzung und die Aufbereitung der Leitlinien in zielgruppengerechte Fassungen für Praktiker und Patienten in Form von Kitteltaschen- und Patientenleitlinien seien gelungen.

 

Allerdings identifizierten sich noch nicht alle Beteiligten mit dem Projekt NVL. »Von 90 kooperierenden Organisationen verweisen weniger als die Hälfte auf ihren Homepages auf die Zusammenarbeit«, sagte Ollenschläger. Auch sei die Implementierung in die Patientenversorgung noch nicht ausreichend.

 

Professor Dr. Ina Kopp als Vertreterin der AWMF zeigte, dass derzeit 108 S2-Leit­linien und 96 S3-Leitlinien existieren, von Letzteren sind 9 NVL. Sie bewertete die Leitlinien-Arbeit überwiegend positiv, da inzwischen ein kultureller Wandel eingetreten sei. »Es hat ein Umdenken stattgefunden in Richtung Evidenzbasierung«, so Kopp. Sie wies aber auch kritisch auf die Problematik der Finanzierung hin, da außerhalb der Programme für NVL und onkologische Leitlinien kaum öffentliche Gelder für die Entwicklung von Leitlinien bereitstünden.

 

Noch immer Implementierungslücken

 

Unter dem Motto »Leitlinien – wohin geht die Reise?« stand die anschließende Podiumsdiskussion, an der Vertreter von ärztlicher Selbstverwaltung und Gesundheitsinstitutionen teilnahmen. Diskutiert wurde unter anderem, warum die Anwendung von Leitlinien unter Ärzten zu wünschen übrig lässt. So wurde eine Studie im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht, nach der nur 40 Prozent der befragten 2500 Hausärzte über ein ausreichendes Wissen zur leitliniengerechten Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen verfügten.

Das Programm Nationale Versorgungsleitlinien

Bisher sind NVL zu Asthma, COPD, unipolarer Depression, Herzinsuffizienz, KHK, Kreuzschmerz sowie drei Module zu Typ-2-Diabetes erschienen. In Arbeit beziehungsweise Planung befinden sich die Themen Diabetische Neuropathie, Schulung bei Typ-2-Diabetes, Therapieplanung bei Typ-2-Diabetes, Demenz und Hypertonie. Neben den Langfassungen der Leitlinien werden auch Kurzfassungen und Praxishilfen sowie Informationen in patientengerechter Sprache (Patientenleitlinien und Wartezimmerinformationen) erarbeitet. Unter www.versorgungsleitlinien.de sind die Nationalen Versorgungsleitlinien abrufbar.

Dr. Franziska Diel von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung machte deutlich, dass Leitlinien dringend gebraucht werden: »Leitlinien sind bei der Wissensflut durch die steigende Anzahl der Publikationen eine Hilfestellung, um auszuwählen, was seriös ist«, so Diel. Durch Leitlinien sei die individuelle Entscheidung des Arztes nicht ausgeschaltet. Sie regte an, die Implementierung in den Versorgungsalltag durch die Inte­gration der Leitlinien in die Praxissoftware zu unterstützen. Professor Dr. Karl-Heinz Rahn, Präsident der AWMF, betonte als Vorteil der Leitlinien ihre Aktualität gegenüber Lehrbüchern und Monographien. Er benannte als Hinderungsgrund für die Implementierung den Umfang vieler methodisch hochwertiger Leitlinien: »Ein kurativ tätiger Arzt kann S3-Leitlinien mit 150 bis 200 Seiten nicht komplett durchlesen.« Deshalb würden Kurzfassungen wie die Kitteltaschenversionen zunehmend wichtiger.

 

Thematisiert wurde auch die Herausforderung, in Leitlinien die Situation von multimorbiden Patienten zu berücksichtigen. Wichtig sei es, diese Patientengruppe nicht zu übermedikalisieren, sondern vielmehr Prioritäten in der Pharmakotherapie zu setzen, sagte Diel. Rahn mahnte an, bei multimorbiden Patienten besonders auch die Problematik von Arzneimittelinteraktionen in den Blick zu nehmen – ein wichtiges Thema für Apotheker.

 

Ob Leitlinien zu einer Verbesserung der Versorgung geführt haben, wurde kontrovers diskutiert. So sei die Versorgung von depressiven Patienten immer noch unzureichend, wie eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung des Gemeinsamen Bundesaussschusses (GBA) gezeigt hatte. Die Einführung von interdisziplinären Tumorkonferenzen führte Kopp aber als Beispiel einer verbesserten Versorgung an. Die Diskussionsteilnehmer waren sich einig, dass zukünftig noch stärker als bisher Qualitätsindikatoren aus den Leitlinien abgeleitet werden sollen, mit denen sich eine Verbesserung der Versorgung messen lässt.

Im zweiten Teil der Veranstaltung kamen Vertreter von Fachgesellschaften zu Wort, die an Nationalen Versorgungsleitlinien beteiligt waren. Professor Dr. Martin Schulz, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Apotheker (AMK), hat an der Erstellung der NVL Asthma mitgewirkt. Er gab einen kurzen Einblick in die Leitlinien-Arbeit. Schulz begrüßte besonders den multiprofessionellen Charakter der NVL: »Ich bin ein starker Verfechter der Kooperation zwischen Ärzten und Apothekern«. Er bezeichnete die Beteiligung der Apotheker an der NVL Asthma als einen Erfolg »auf dem noch langen Weg zur evidenzbasierten Pharmazie«.

 

In der NVL Asthma liegt der Schwerpunkt für die Apotheker auf der Beratung und Schulung der Patienten, besonders in Bezug auf die Inhalationstechnik. »Die Kooperation ist in der Praxis vor allem für die Patienten sehr sinnvoll«, betonte Schulz und verwies darauf, dass es aus mehreren Studien Evidenz für die Wirksamkeit der pharmazeutischen Intervention gebe (siehe dazu Asthma: Patienten wollen mehr Informationen). Schulz machte auch Vorschläge zur Verbesserung der Implementierung. So regte er an, die Inhalte der Leitlinie nicht nur in die Verordnungssoftware der Ärzte, sondern auch in die Warenwirtschaftssysteme der Apotheken zu integrieren. Schulz berichtete, dass bisher mehr als 4000 Apotheker die Zertifikatsfortbildung Asthma absolviert haben, bei der die Leitlinieninhalte berücksichtigt werden. »Auch zukünftig wollen die Apotheker sich aktiv in das NVL-Programm einbringen«, sagte Schulz. So besteht bereits eine aktive Mitarbeit im Modul Strukturierte Schulungsprogramme der NVL Typ-2-Diabetes. Die ABDA wird dort von Dr. Uta Müller vertreten.

 

In den Statements der anderen NVL-Gruppen wurde deutlich, dass das NVL-Programm die Kooperation zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufen stärkt. Positiv wurde auch das Bemühen um Konsens bewertet. Falls dieser nicht erreicht werden konnte, sei ein Dissens explizit benannt und dargelegt worden. Umstritten ist bei den Konsensusprozessen der Leitlinienerstellung jedoch noch, ob tatsächlich alle Vertreter von Berufsgruppen das gleiche Stimmrecht haben sollten. Kritisch betrachtet wurde die relativ große Arbeitsbelastung bei der Leitlinienerstellung, die bisher in der Regel ehrenamtlich erfolgte.

 

Explizite Patientenbeteiligung

 

Im Rahmen der NVL waren bei der Leitlinenentwicklung neben Vertretern von ärztlichen und nicht-ärztlichen Fachgesellschaften immer Patientenvertreter beteiligt. »Gerade das Feedback aus den Patientengruppen ist für uns Ärzte hilfreich«, betonte Ollenschläger. Die anwesenden Vertreter von Selbsthilfegruppen machten deutlich, dass gerade die Patienten von strukturierten und evidenzbasierten Leitlinien profitieren. Gerade die Patientenleitlinien werden als Orientierungshilfe für das Arztgespräch geschätzt und ermöglichen es den Betroffenen, zu »Experten in eigener Sache« zu werden: »Deshalb ist die Akzeptanz der Leitlinien bei Patienten vielleicht noch größer als bei den Ärzten«, sagte eine Patientenvertreterin. Aber auch für Ärzte könnten die Patientenleitlinien die Arbeit erleichtern, weil Patienten dann valide Informationen und kein abstruses Wissen aus dem Internet mitbrächten.

 

Positives Fazit

 

Die Teilnehmer zogen überwiegend eine positives Bilanz des NVL-Programms. So hätten die NVL nicht nur positive Auswirkungen auf die Versorgung der Patienten, sondern förderten auch die multiprofessionelle Zusammenarbeit und die Reflektion innerhalb der eigenen Fachgesellschaften. Durch die Aufarbeitung der wissenschaftlichen Literatur werde auch der Forschungsbedarf zu bestimmten Fragestellungen konkret. Dr. Günther Jonitz von der Bundesärztekammer fasste die bestehenden Herausforderungen in einem Bild zusammen: »Mit den NVL ist der Rohbau fertig – jetzt müssen wir dafür sorgen, dass die Leute einziehen.« / 

Die Rolle des Apothekers in der NVL Asthma

Die Aufgaben des Apothekers bei der Betreuung von Asthma-Patienten finden sich in der NVL Asthma im Kapitel »Versorgungsmanagement und Schnittstellen«. Dort wird betont, dass Ärzte und Apotheker gemeinsam dafür sorgen können, dass bei Asthma-Patienten inhalative Medikamente wirksam und sicher sind. Für die Auswahl des Inhalationssystems und Schulung des Patienten in der richtigen Inhalationstechnik ist primär der behandelnde Arzt zuständig. Eine entsprechende Überprüfung kann bei Bedarf zusätzlich durch den Apotheker erfolgen. Dass Patienten ihre Inhalationstechnik durch pharmazeutische Beratung verbessern können, haben einige Studien wie etwa die VITA-Studie gezeigt (siehe dazu NVL Asthma: Apotheker sind mit eingebunden, PZ 08/2010). Entsprechende Beratungsmaterialien stehen auf der Website der ABDA bereit (www.abda.de/leitlinien0.html).

 

Empfehlungen werden in der NVL Asthma auch für die Aut-idem-Substitution von inhalativen Medikamenten gegeben. So sollte der Arzt – sofern er keinen Austausch des Inhalationssystems wünscht – auf dem Rezept »Aut idem« ankreuzen. Fehlt das Kreuz und machen die Rabattverträge einen Austausch des Systems erforderlich, sollte der Apotheker Rücksprache mit dem Arzt halten. Die NVL Asthma ermutigt die Apotheker auch, von der Möglichkeit der »Pharmazeutischen Bedenken« Gebrauch zu machen und dem Patienten einen Wechsel des Inhalationssystems zu ersparen.

 

Seit März 2011 gibt es in Baden-Württemberg das Projekt Asthma.aktiv zwischen dem LAV und der Schwenninger Krankenkasse auf Basis der NVL Asthma, bei dem Apotheker honorierte Schulungen für Asthma-Patienten durchführen.

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