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Sportpsychologie

Alles fit?

31.03.2015  13:17 Uhr

Von Annette Mende, Berlin / Gesundheit ist mehr als das Fehlen körperlicher Beschwerden. Diese Erkenntnis ist nicht neu, doch scheint sie sich zumindest im Spitzensport noch immer nicht durchgesetzt zu haben. Gerade hier ist die Fixierung auf die körperliche Leistungsfähigkeit jedoch kontraproduktiv, denn auf Dauer bleibt sie nur erhalten, wenn auch das psychosoziale Umfeld des Athleten stimmt.

Vom Pfälzer Radprofi Udo Bölts ist überliefert, dass er seinen Mannschaftskollegen Jan Ullrich beim Team Telekom einmal mit den Worten »Quäl dich, du Sau!« angefeuert haben soll. Ullrich gewann in jenem Jahr die Gesamtwertung der Tour de France – wie wir heute wissen wohl nicht ohne unerlaubte Hilfsmittel. Dennoch ist die Bereitschaft, die eigenen Grenzen nicht nur zu erreichen, sondern regelmäßig auch zu überschreiten, die Voraussetzung für jeden Erfolg im Spitzensport.

 

Dazu sind nur Menschen mit stabilem Gesundheitszustand in der Lage. Wie es um diesen bei deutschen Nachwuchs-Spitzensportlern bestellt ist beziehungsweise wie er sich langfristig sichern lässt, wird an der Universität Tübingen im Zuge der GOAL-Studie untersucht. Es handelt sich um eine repräsentative Befragung von Nachwuchs-Leistungssportlern aller olympischen Sportarten. Berücksichtigung finden dabei neben dem körperlichen Zustand der Athleten auch deren subjektives Wohlbefinden und die soziale Funktionalität, denn alle drei Aspekte gehören gemäß dem biopsychosozialen Krankheitsmodell zusammen.

 

In der Praxis werden psychosoziale Faktoren allerdings meist komplett ausgeblendet, wie Professor Dr. Ansgar Thiel vom Tübinger sportwissenschaftlichen Institut beim Kongress für psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Berlin erläuterte: »Leistungsfähigkeit hat im Spitzensport bei allen gesundheitsbezogenen Entscheidungen höchste Priorität.« Die Athleten seien bereit, extreme Gesundheitsrisiken zu akzeptieren – und verschwiegen dabei sehr häufig auch Schmerzen, um trainieren oder an Wettkämpfen teilnehmen zu können.

 

Schmerzen verheimlicht

 

In ihren Gesprächen fanden Thiel und Kollegen beispielsweise heraus, dass fast alle Mitglieder einer weiblichen Hockey-Spitzenmannschaft bereits mindestens einmal massive Schmerzen vor dem Trainer verheimlicht haben, weil sie spielen wollten. Die unabhängig davon befragten Trainer gingen jedoch davon aus, dass das noch keine getan habe. »Das heißt, der Athlet will es nicht sagen und der Trainer will es nicht wissen«, brachte Thiel es auf den Punkt.

 

Mit der Zeit entwickeln die jungen Sportler unbewusst eine so große Angst, Schmerzen zuzugeben, dass ihnen ihr individuelles Schmerzsenso­rium gänzlich abhandenkommt. »Sie verlieren die Fähigkeit, zwischen einem gerade noch erträglichen Schmerz und einem, der zum Pausieren zwingt, zu unterscheiden, denn in diesem Grenzbereich befinden sie sich sowieso die ganze Zeit«, so Thiel. Die Entscheidung überließen sie den Trainern – was vor dem Hintergrund, dass diese über das wahre Ausmaß der körperlichen, aber auch psychischen Beschwerden ihrer Schützlinge eigentlich gar nicht richtig Bescheid wüssten, natürlich problematisch sei.

 

Thiels Fazit lautete denn auch: »Den psychosozialen Faktoren der Entstehung von Verletzungen und Krankheit ist gerade im Spitzensport künftig viel mehr Aufmerksamkeit zu widmen.« Doch ist das überhaupt im Sinne der Sportnation Deutschland? Werden deutsche Sportler nicht international abgehängt, wenn sich hier die Prioritäten verschieben? Schließlich ist schwer vorstellbar, dass man etwa in China zimperlicher mit seinen Sportlern umgeht als hierzulande.

 

Das Gegenteil ist der Fall, wie Thiel betonte. Studien hätten ergeben, dass Athleten in Systemen, in denen viel kommuniziert wird, auf Dauer genauso erfolgreich sind, aber weniger chronifizierte Verletzungen haben. Hilfreich sei es beispielsweise, wenn Trainer mit ihren Sportlern feste Zeiten vereinbaren, in denen sie körperliche Beschwerden, aber auch seelische Probleme besprechen. »Diese Sportler bringen genau die gleiche Leistung, aber seltener unter Schmerzen«, sagte Thiel.

 

Wie schlimm es enden kann, wenn nicht ausreichend berücksichtigt wird, dass in den durchtrainierten Körpern von Spitzensportlern ja auch eine Psyche wohnt, zeigte vor einigen Jahren der Suizid des Fußballtorwarts Robert Enke. Der Deutsche Fußballbund, der Ligaverband und Enkes ehemaliger Bundesligaclub Hannover 96 gründeten daraufhin eine Stiftung, die unter anderem über Depressionskrankheiten aufklären will. Eines der unterstützten Projekte ist die Initiative »Mental Gestärkt« an der Sporthochschule Köln.

Sport und Stress

Stressabbau für Trainer und Sportler

 

»Wir vermitteln Leistungssportlern den Kontakt zu Sportpsychologen, Psychotherapeuten oder Psychiatern in ihrer Nähe, die schnell ein Coaching oder eine Therapie anbieten können«, erklärte Marion Sulprizio von der Sporthochschule Köln. Ratschläge, wie Sportler und Trainer im wettkampforientierten Leistungssport ihre mentale Stärke und psychische Gesundheit bewahren können, sind in der Broschüre »Kein Stress mit dem Stress« zusammengestellt. Sie kann unter www. psyga.info kostenlos bestellt werden.

 

Sulprizio wies darauf hin, dass jugendlichen Leistungssportlern aufgrund der hohen Trainingsumfänge und häufigen Wettkämpfe nur sehr wenig Raum zur persönlichen Entfaltung bleibt – und das in einer ohnehin sensiblen Lebensphase. Sie ist sich sicher: »Leistung kann auf Dauer nur erbracht werden, wenn man die Persönlichkeitsentwicklung des jungen Sportlers respektiert und seine psychische Gesundheit sicherstellt.« Eine Erkenntnis, die sich in unserer in allen Bereichen immer mehr auf Leistung ausgerichteten Gesellschaft ohne Weiteres verallgemeinern lässt. /

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