Pharmazeutische Zeitung online
Onkologie

Die Karotte des Todes

25.03.2014  16:51 Uhr

Von Sven Siebenand / Der Ruf von Thapsia garganica ist derzeit ziemlich ramponiert. Weil schon der Verzehr weniger Blätter das Vieh zur Strecke brachte, verpassten die alten Griechen der Pflanze den Beinamen Karotte des Todes. Verantwortlich für den Killer­effekt ist der enthaltene Giftstoff Thapsigargin. In abgewandelter Form soll dieser nun Krebspatienten helfen.

Thapsia garganica stammt ursprünglich aus Nordafrika, Gebieten der Türkei und des Balkan. Heute ist die Pflanze in vielen Mittelmeerländern zu finden. Sie bildet Stauden von 50 bis 120 cm Höhe. Im Sommer trägt sie gelbe Blüten, die in Doppeldolden angeordnet sind. Dass die Pflanze giftig ist, weiß man schon seit Langem. Ein Ausschlusskriterium für die Nutzung als Heilpflanze ist das aber nicht. Das dachte sich schon Kaiser Nero, der Thapsia mit Weihrauch mischte, um Prellungen und Blutergüsse zu heilen.

Bis ins frühe 20. Jahrhundert waren Bestandteile der Todeskarotte auch in einem Rheuma-Pflaster enthalten. Doch was auch immer man probierte: Das Nutzen-Risiko-Verhältnis war stets zugunsten der Nebenwirkungen verschoben. Das lag wahrscheinlich daran, dass noch zu wenig über den Wirkmechanismus des enthaltenen Giftstoffs Thapsigargin bekannt war.

 

Das Sesquiterpenlacton, das vor allem aus den Samen und der Wurzel der Pflanze gewonnen werden kann, wirkt offenbar, indem es den Calciumspeicher von Tumorzellen leert. Möglich wird das durch die Hemmung der Calciumpumpen des sarkoplasmatischen und endoplasmatischen Retikulums (Sarcoplasmic/endoplasmic reticulum calcium ATPase, SERCA), die für den Calciumionen-Transport vom Zytosol in das endoplasmatische Retikulum verantwortlich sind. Wahrscheinlich wird infolge des geleerten Calcium-Pools ein Signal ausgelöst, das wiederum die Durchlässigkeit der Zellmem­bran für extrazelluläre zweiwertige Kationen erhöht. Deren verstärktes Einströmen in die Zelle führt zum Zelltod.

 

Giftfreisetzung an richtiger Stelle

 

Gegen den therapeutischen Einsatz von Thapsigargin sprechen gleich zwei Eigenschaften. Zum einen ist die Substanz schlecht wasserlöslich, zum anderen wirkt sie nicht Tumorzell-spezifisch und würde damit im ganzen Körper mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften. Das US-amerikanische Biotechnologieunternehmen GenSpera hatte daher die Idee, Prodrugs zu entwickeln, die den Giftstoff möglichst nur im Krebsgewebe freisetzen. Beispielsweise koppelten sie ein Thapsigargin-Derivat an ein Peptid, welches Substrat des Prostata-spezifischen Antigens (PSA) ist. Das von Zellen der Prostata gebildete PSA ist somit erforderlich, um den Giftstoff freizusetzen. Auf diese Weise soll erreicht werden, dass der Giftstoff innerhalb des Tumorgewebes bei Prosta­takarzinomen freigesetzt wird und dort Krebszellen abtötet. Ganz ähnlich funktioniert die Variante, Thapsigargin an ein Substrat des Enzyms PSMA (Prostate-specific membrane antigen) anzuhängen, welches sich in großen Mengen bei Prostatakrebs und Leberkrebs finden lässt. Nur durch dieses Enzym kann der Giftstoff freigesetzt werden. Das geschieht dann wieder vor allem dort, wo viel PSMA vorhanden ist – im Tumorgewebe.

 

Klinische Studien der Phasen I und II mit den beiden genannten Prodrugs laufen bereits. So war das Überleben von Leberkrebs-Patienten, die auf die Standardtherapie nicht mehr ansprachen, in einer Phase-I-Studie um mehrere Monate verlängert. Insgesamt konnte bei rund einem Viertel der 44 Patienten mit soliden Tumoren das Fortschreiten der Erkrankung hinausgezögert werden. Die ersten Studienergebnisse sind vielversprechend, aber nur große Studien können den Nachweis bringen, dass die Arzneistoffkandidaten ausreichend wirksam sind. Ob es die Wirkstoffe tatsächlich zur Marktreife schaffen, bleibt deshalb abzuwarten.

 

Was sich jedoch bereits jetzt abzeichnet ist, dass Thapsigargin-Analoga wohl nicht jedem Krebspatienten helfen können. So konnten Wissenschaftler der medizinischen Fakultät der Saar-Universität in Homburg zeigen, dass die Tumorzellen bei etwa jedem zweiten Mann mit einem Prostatakarzinom resistent gegen die Therapie mit Thapsigargin-Analoga sind. »Der Resistenzmechanismus ist auf eine erhöhte Konzentration des Proteins Sec62 zurückzuführen«, erläutert Professor Dr. Richard Zimmermann in einer Pressemeldung der Universität. Der hohe Sec62-Gehalt bewirkt in der Zelle, dass das Protein Calmodulin die Kanäle verschließt, aus denen das Calcium aus dem endoplasmatischen Retikulum ausströmen soll.

 

Jedoch muss das für die Karriere der Karotte des Todes nicht das Ende bedeuten. Im Fachjournal »BMC Cancer« veröffentlichte Zimmermanns Arbeitsgruppe nämlich Ergebnisse von Zellkultur-Versuchen, die möglicherweise zur Lösung dieses Problems beitragen können (doi: 10.1186/1471-2407-13-574). So konnten die Forscher in Tumorzelllinien zeigen, dass das Phenothiazin Trifluo­perazin, das früher als Neuroleptikum eingesetzt wurde, an Calmodulin bindet und dadurch dieses am Verschließen der Kanäle hindert. Die Wirkung von Thapsigargin-Analoga wäre damit wieder hergestellt. Die Homburger Forscher schlagen daher eine kombinierte Behandlung mit Trifluoperazin und Thapsigargin-Analoga vor. Sie wollen ihre Ergebnisse in den nächsten Jahren in weiteren Studien im Labor überprüfen, bevor an eine klinische Erprobung gedacht werden kann.

 

Zellmigration wird gestoppt

 

Eine solche Kombinationsbehandlung könnte für Krebspatienten auch dann eine Option darstellen, wenn sie mit Thapsigargin allein nicht therapierbar sind. So verweisen die Forscher von der Universität des Saarlandes darauf, dass Sec62 nicht nur beim Prostata-, sondern auch beim Schilddrüsen- und Lungenkarzinom ein wichtiger Tumormarker ist. Sie bringen das Protein mit einer aggressiveren Erkrankung und somit einer schlechteren Prognose in Verbindung. Auch bei Tumoren, die bereits Metastasen gebildet hatten, fanden sie einen erhöhten Sec62-Gehalt.

 

»Calcium ist ein wichtiges Signalmolekül für die Wanderung von Zellen, die sogenannte Zellmigration, die Voraussetzung für die Bildung von Metastasen ist«, erklärt Dr. Markus Greiner, Forscher aus Zimmermanns Arbeitsgruppe. Calcium sorgt in der Zelle dafür, dass diese ihre Bewegungsrichtung erkennen kann. Auch hier könnte das Neuroleptikum Trifluoperazin in Kombination mit Thapsigargin hilfreich sein. Denn werden die Tumorzellen damit behandelt, so leert sich der Calciumspeicher, die Zelle verliert sozusagen die Orientierung. »Dies führt zu einem fast vollständigen Stopp der Zellmigration«, erklärt der Molekularbiologe. /

Die Wissenschaftler entwickelten daher eine mit IL-4 besetzte Oberfläche, die zum Beispiel für antiinflammatorische Wundauflagen genutzt werden kann (»ChemBioChem« 2016, DOI: 10.1002/cbic.201600480). Dabei designten sie den Wirkstoff so, dass die Bindestelle für den Linker weit entfernt von der Rezeptorbindestelle lag, sodass der auf der Oberfläche fixierte Wirkstoff dauerhaft aktiv war.

 

Eine nicht dauerhafte, sondern gezielte Aktivierung am Wirkort will man dagegen bei der systemischen Applikation von IL-4 erreichen. Hierfür wird das Zytokin über einen Linker so auf einem Polymer-Nanopartikel fixiert, dass die Rezeptorbindungsstelle verborgen ist. Sie wird erst zugänglich, wenn Proteasen im Zielgewebe den Linker spalten und das Zytokin freisetzen.

 

Ein mögliches Einsatzgebiet für bioresponsive Arzneifreigabesysteme sind auch Antibiotika. Denn bei einer Therapie befinden sich zwar große Mengen des Wirkstoffs im Körper, die Konzentration am Wirkort ist jedoch nicht ausreichend hoch. Das fördere die Resistenzbildung, so Meinel. »Es wäre von erheblichem Vorteil, wenn der Wirkstoff seinen Wirkort gezielt finden könnte.« Ein entsprechendes System beschrieb der pharmazeutische Technologe für das atypische Tetracyclin Chelocardin. Um es in mit Staphylococcus aureus infiziertem Gewebe anzureichern, wird der Wirkstoff über eine Peptidkette an einem Polymer-Partikel befestigt. Dabei ist die Peptidkette so gewählt, dass sie nur von dem bakteriellen Enzym Aureolysin gespalten wird, das von Staphylococcus aureus produziert und freigesetzt wird. Die Aktivierung erfolgt somit nur in befallenem Gewebe, da nur hier das Enzym vorliegt.

 

Diagnostika zum Kauen

 

Dasselbe Prinzip lässt sich auch zu einem Diagnostikum umwandeln, berichtete Meinel. Auf die Idee brachte seine Arbeitsgruppe die Anfrage eines Zahnimplantat-Herstellers, der einen Nachweis von bakteriellen Infektionen an Implantaten benötigte. Die Forscher entwickelten daraufhin einen Kaugummi, der ein entsprechendes Freigabesystem, allerdings dieses Mal für einen Geschmackstoff, enthält. Dieser ist wiederum über einen spaltbaren Linker an einem Polymer befestigt. Sind die zu diagnostizierenden Bakterien im Mundraum vorhanden, setzen sie spezielle Proteasen frei, die den Linker spalten und den Geschmacksstoff freisetzen. Die Infektion kann somit geschmeckt werden.

 

Entsprechende Diagnostik-Kaugummis könnten für verschiedene medizinische Indikationen genutzt werden wie zum Nachweis von Grippeviren, Streptokokken bei Halsschmerzen oder Streptococcus mutans, dem Leitkeim von Karies. Hierfür müsste lediglich die Peptidkette auf den jeweiligen Erreger beziehungsweise auf dessen Proteasen angepasst werden. Für ein Startup-Unternehmen zur Produktion der Diagnostik-Kaugummis habe man bereits einen Businessplan fertig gestellt, berichtete Meinel. Nun müsse man abwarten, wie schnell die Produkte auf den Markt kommen. /

Mehr von Avoxa