Sensible Porträts medizinischer Waisen |
08.03.2011 10:48 Uhr |
Von Conny Becker, Berlin / An einer chronischen seltenen Erkrankung leiden in Deutschland rund vier Millionen Menschen. Eine Fotoausstellung in Berlin schildert in sehr intimen Bildern, wie Betroffene trotz ihres Schicksals ihr Leben meistern.
Ute Palm ist perfekt zurechtgemacht; Make-up, Frisur, alles sitzt – und dabei sieht die Rentnerin nur durch einen stecknadelkopfgroßen Ausschnitt. Ihr Tunnelblick war nicht immer so ausgeprägt, doch mit der seltenen Netzhautdegeneration Retinitis pigmentosa kam sie schon zur Welt. Ihre starke Sehbehinderung vertuschte sie jedoch lange Zeit gekonnt. »Mein Leben habe ich rund um die Krankheit organisiert«, beschreibt Palm in einem persönlichen Kommentar zu einer Serie von Fotografien, die sie und ihr Leben mit der Krankheit porträtieren. Die Bilder sind derzeit in Berlin zu sehen, als Teil einer Wanderausstellung, die vergangene Woche anlässlich des »Tages der seltenen Erkrankungen« eröffnet wurde.
Das Make-up sitzt, dabei sieht Ute Palm nur durch einen stecknadelkopfgroßen Ausschnitt.
Foto: Kathrin Harms/Achse e.V.
Die Idee zur Ausstellung geht auf die Fotografin Verena Müller zurück, die Patienten mit seltenen Erkrankungen durch eine Auftragsarbeit kennen lernte. »Mich haben ihre Schicksale sehr berührt, und so entstand zusammen mit Christoph Klein von der Care-for-Rare-Stiftung die Idee eines Fotoprojekts, um den Menschen mit seltenen Erkrankungen Gehör zu verschaffen und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren.« Von Müller stammen zwei Serien mit den wohl eindringlichsten Bildern der Ausstellung, für die sie zwei Familien mit betroffenen Kindern über einen langen Zeitraum begleitete. So entstanden von der fünfjährigen Josephine, die am Williams-Beuren-Syndrom leidet, sehr persönliche Fotografien, die nicht nur ihren Schmerz durch die mit dem Syndrom assoziierte Neurodermitis festhalten, sondern ebenso die Lebensbejahung eines Kindes, das Musik liebt und für sein Leben gerne tanzt.
Die Musikalität und ein freundliches, kontaktfreudiges Wesen gelten als charakteristisch für die seltene Erkrankung, die auf einen Verlust genetischen Materials bei der Bildung von Keimzellen zurückgeht und deren Inzidenz bei 1:20 000 bis 1:50 000 liegt. Auch aufgrund der typischen kobold- oder elfenhaften Kopfform schloss Josephines Mutter nach einer Internet-Recherche selbst auf die Diagnose. Es sollte aber noch einige Jahre und zahlreiche Arztbesuche dauern, bis diese tatsächlich bestätigt wurde. Eine solche Odyssee bildet bei Menschen mit seltenen Erkrankungen geradezu die Regel, da Medizinern hier die Erfahrung und manchmal wohl auch die nötige Offenheit fehlen. Und so bereitet die Diagnose den Betroffenen und ihren Angehörigen häufig Erleichterung, da sie sich nun mit Spezialisten oder Selbsthilfeorganisationen austauschen können und mit der Erkrankung nicht mehr allein sind.
Im besten Fall existiert für die Krankheit eine kausale Therapie, wie beim sechsjährigen Felix, der mit dem Wiskott-Aldrich-Syndrom zur Welt kam. Verena Müller hat ihn während seiner Behandlung an der Medizinischen Hochschule Hannover fotografisch begleitet, als Professor Dr. Christoph Klein ihm vor zwei Jahren Stammzellen entnahm, ihn einer Chemotherapie unterzog und schließlich ein gesundes Gen über einen viralen Vektor ins Knochenmark des Jungen schleuste. Die Fotos vermitteln einen Eindruck von den Entbehrungen und Strapazen der Behandlung, aber auch vom familiären Zusammenhalt, von Freundschaft und Liebe, und erzählen letztlich eine Erfolgsgeschichte: Felix ist fast gesund und kann ohne große Einschränkungen am Leben teilnehmen.
Bei seltenen Erkrankungen bestehen aber weiterhin viele Wissenslücken, die nur mühsam geschlossen werden, was gerade deshalb große Anerkennung verdient. So erhielt Klein für seine bahnbrechende Forschung zur Stammzell-Gentherapie nach dem Leibniz-Forschungsförderpreis 2010 auch vergangene Woche den mit 50 000 Euro dotierten Eva-Luise-Köhler-Forschungspreis für seltene Erkrankungen. Die Namensgeberin und Frau des ehemaligen Bundespräsidenten engagiert sich schon seit Jahren für dieses Waisenthema und ist Schirmherrin der Achse – der Allianz chronischer seltener Erkrankungen, die die Ausstellung als Beitrag zum diesjährigen Wissenschaftsjahr »Forschung für unsere Gesundheit« mitorganisiert hat. /
»Waisen der Medizin: Leben mit einer seltenen Erkrankung«, bis zum 14. März 2011, täglich von 7 bis 22 Uhr
Galerie im Einstein
Unter den Linden 42
10117 Berlin
Die Ausstellung wird voraussichtlich auch in München, Frankfurt am Main und weiteren Städten zu sehen sein (www.achse-online.de).