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Lipidsenkung mit Statinen

Zwei Leitlinien, zwei Empfehlungen

16.02.2016  15:28 Uhr

Von Ulrike Viegener / US-Amerikaner und Europäer sind nicht immer auf einer Linie. Das gilt auch für die Leitlinien zur lipid­senkenden Therapie. Die Basisstudien sind dieselben, die daraus abgeleiteten Empfehlungen unterschiedlich.

Statine sind die weltweit am meisten verordneten Medikamente. Dazu dürfte die gemeinsame Leitlinie des American College of Cardiology (ACC) und der American Heart Association (AHA) zur lipidsenkenden Therapie nicht unwesentlich beigetragen haben. Diese hatte Ende 2013 für einiges Aufsehen gesorgt und die Diskussionen sind bis heute nicht verstummt. Auch beim letzten Kongress des Weltapothekerverbands FIP wurde sie im Rahmen eines Seminars über evidenzbasierte Pharmazie kritisch unter die Lupe genommen.

 

Interpretationsspielraum bei höchster Evidenzstufe

 

Genau darum geht es: um evidenzbasierte Medizin beziehungsweise Pharmazie. Empfehlungen müssen heutzutage evidenzbasiert sein, also durch saubere wissenschaftliche Studien – am besten randomisiert und doppelblind – untermauert werden. Liegt eine solide Datenbasis aus randomisierten kontrollierten Studien vor, ist das 1a, die höchste Evidenzstufe.

 

Wird darauf basierend im Einzelfall eine 1a-Empfehlung ausgesprochen, sollte man meinen, dass diese objektiv, verbindlich und unanfechtbar ist. Die Diskussion um die Leitlinien zur lipidsenkenden Therapie hat jedoch gezeigt, dass es ganz so einfach nicht ist. Kommen doch die US-amerikanischen Experten zu ganz anderen Aussagen als ihre europäischen Kollegen, obwohl beide Gremien dieselben Studien ausgewertet haben.

 

Denn wissenschaftliche Daten sind keineswegs eindeutig, sondern sie sind interpretationsfähig. Offenbar wollten die Amerikaner diesen Interpretationsspielraum so klein wie möglich halten. In ihrer gemeinsamen »Leitlinie zur Therapie des Blutcholesterols zur Senkung des atherosklerotischen kardiovaskulären Risikos« übersetzten ACC und AHA die vorliegenden Studien quasi eins zu eins in Empfehlungen und berücksichtigten dabei ausschließlich randomisierte kontrollierte Studien. Was darin nicht ausdrücklich geprüft wurde, kann nicht empfohlen werden, so die Methodik der Amerikaner. Die Studien werden isoliert betrachtet, als wäre keinerlei wissenschaftlicher und erfahrungsmedizinischer Kontext vorhanden.

 

Dieses Vorgehen hat natürlich Konsequenzen. Ein bedeutsames Novum der amerikanischen Empfehlungen ist die Tatsache, dass nicht mehr auf definierte Zielwerte hin behandelt werden soll. »Fire and forget« wird diese Strategie genannt. Es werden Patientengruppen definiert, die laut den Studien von einer Lipidsenkung profitieren, und für diese Patientengruppen wird je nach kardiovaskulärem Ausgangsrisiko entweder eine hochpotente oder eine mittelpotente Langzeittherapie mit Statinen empfohlen.

 

Dosierungen, keine Zielwerte

 

Andere lipidsenkende Wirkstoffklassen werden in dieser Leitlinie nicht genannt, denn für sie gebe es keine ausreichende Evidenz. Zielwerte kommen ebenfalls nicht vor. Diese seien nicht Gegenstand der klinischen Prüfung gewesen, lautet die Begründung. In den vorliegenden Studien seien kardiovaskuläre Ereignisse unter unterschiedlichen Dosierungen und nicht in Abhängigkeit von Zielwerten verglichen worden.

 

Wie es schon der Titel der amerikanischen Leitlinie andeutet, ist eine Hyper­cholesterolämie keine zwingende Voraussetzung für eine Lipidtherapie. Folgende Patientengruppen sollen langfristig mit Statinen behandelt werden:

 

  • Patienten mit manifesten atherosklerotischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen
  • Patienten mit LDL-Werten von mehr als 190 mg/dl
  • Typ-1- und Typ-2-Diabetiker im Alter zwischen 40 und 75 Jahren
  • Personen, bei denen ein statistisches Risiko von 7,5 Prozent und mehr besteht, dass sie in den nächsten zehn Jahren einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt erleiden werden.

     

Für besonderen Diskussionsstoff sorgt bis heute der letzte Punkt. Zur Berechnung des individuellen kardiovaskulären Risikos soll nämlich ein neuer Score verwendet werden, der offenbar gar nicht ausreichend validiert ist und laut einer Vielzahl kritischer Einwände zu einer Überschätzung der Risiken führen kann. Auch europäische Meinungsbildner haben sich in diesem Sinne geäußert. Wohlgemerkt soll dieser zweifelhafte Score dazu dienen, das kardiovaskuläre Risiko von gesunden Menschen einzuschätzen, um ihnen auf dieser Basis eine langfristige medikamentöse Intervention zu verordnen.

 

Vorwurf des Interessenskonflikts

 

Das ist ein krasser Widerspruch zur eigenen Herangehensweise: Einerseits wird die Forderung nach Evidenz auf die Spitze getrieben und andererseits nimmt man es mit der Evidenz nicht so genau, wenn es um die entscheidende Frage des individuellen kardiovasku­lären Risikos geht. Kein Wunder, dass den amerikanischen Experten angesichts dieser Gießkannenempfehlung Verbandelungen mit der Pharmaindustrie unterstellt wurden.

Die Europäer propagieren eine andere, differenziertere Strategie. Im Jahr 2011 hatten die European Society of Cardiology (ESC) und die European Atherosclerosis Society (EAS) eine gemeinsame Leitlinie zum Management von Dyslipidämien herausgegeben und von diesem Empfehlungen ist man bis heute nicht abgewichen. »Treat to target« lautet hier der Grundsatz. Das heißt: Der Einsatz lipidsenkender Medikamente ist auf individuell definierte Zielwerte ausgerichtet, die je nach kardiovaskulärem Ausgangsrisiko unterschiedlich sind. Je höher das Risiko, desto niedriger der Zielwert.

 

Im Gegensatz zu den Amerikanern sehen die Europäer die relevanten klinischen Studien nicht isoliert, sondern eingebettet in einen medizinischen Kontext. Die Bedeutung randomisierter kontrollierter Studien als Evidenzbasis werde niemand bezweifeln, aber es gebe auch jenseits dieser Studien noch ein Erkenntnispotenzial, heißt es sinngemäß in einer kritischen Stellungnahme der EAS zur amerikanischen Leitlinie.

 

In einem Statement verweist die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie speziell auf die epidemiologisch gut belegte Korrelation zwischen der Höhe des LDL-Werts und der Höhe des kardiovaskulären Risikos. Es sei richtig, dass die Statindosis in keiner Studie nach (den) Zielwerten titriert wurde, aber ein Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der LDL-Senkung und der Anzahl kardiovaskulärer Ereignisse lasse sich aus den klinischen Studien sehr wohl ablesen. Diese Erkenntnisse in die empfohlenen Strategien der Primär- und Sekundärprävention mit einzubeziehen, wie es die europäische Leitlinie tut, sei daher sinnvoll.

 

Keine Eins-a-Empfehlung trotz Evidenzklasse 1a

 

Eines macht diese Diskussion deutlich: Eine Empfehlung der Evidenzklasse 1a ist nicht automatisch eine Eins-a-Empfehlung. Auch Empfehlungen, die auf höchstem wissenschaftlichen Niveau abgesichert sind, sollten kritisch hinterfragt werden. Der heute bisweilen inflationär verwendete Begriff der Evidenz ist kein Gütesiegel, das weiteres Nachdenken überflüssig macht. Die Polarisierung in evidenzbasierte und eminenzbasierte Medizin mag ein schönes Wortspiel sein, tatsächlich aber sind dies keine Antipoden. Es braucht die Kompetenz und auch die persönliche Erfahrung ausgewiesener Experten, um die großen Mengen wissenschaft­licher Daten zu durchleuchten und in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Die europäische Leitlinie tut dies, die amerikanische nicht. /

 

Quellen: 
 

2013 ACC/AHA Guideline on the Treatment of Blood Cholesterol to Reduce Atherosclerotic Cardiovascular Risk in Adults. »Circulation«, 2013 (DOI: 10.1161/01.cir.0000437738.63853.7a)


ESC/EAS Guidelines for the management of Dyslipidaemias. »European Heart Journal«, 2011 (DOI: 10.1093/eurheartj/ehr158)


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