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Polymedikation im Alter

Start low, go slow

12.02.2014  10:13 Uhr

Die alten Menschen in Deutschland werden nicht nur immer mehr, sie werden auch immer älter. Sie leiden oftmals an fünf oder mehr Erkrankungen und nehmen bis zu zehn Präparate gleichzeitig. Dabei ist die medikamentöse Therapie von Senioren eine große Herausforderung.

»Evidenz ist bei der medikamentösen Therapie alter Menschen allenfalls ein hypothetisches Konstrukt«, sagte Professor Dr. Roland Hardt vom Katholischen Klinikum Mainz. Die Polypharmakotherapie im Alter sei in jedem einzelnen Fall »eine klinische Studie mit der Probandenzahl n gleich eins. In den meisten klinischen Studien seien die Probanden oder Patienten deutlich jünger als die Patienten, die die Medikamente nach der Zulassung einnehmen. Während Probanden in der Regel ein Alter von 50 bis 60 Jahren hätten, seien die Patienten mit den klassischen Alterskrankheiten wie Herzinsuffizienz, Schlaganfall, Demenz, Arthrose oder Krebs oftmals 75 Jahre und älter. Die Erkenntnisse solcher Studien ließen sich auf diese Altersgruppe nicht übertragen. Generell sei es wichtig, die Therapie vorsichtig mit einer niedrigen Dosierung zu starten und diese nur langsam zu erhöhen (»start low, go slow«).

»Bei der medikamentösen Behandlung von alten Menschen muss eine ganze Reihe verschiedener alterstypischer Besonderheiten betrachtet werden«, sagte Hardt. So reagierten Senioren oft deutlich empfindlicher auf Medikamente, zum Beispiel Opioide. Das Einschleichen der Medikation sei hier dringend notwendig. Pharmakokinetische Relevanz hat zum Beispiel die Abnahme der Nierenfunktion und damit der glomerulären Filtrationsrate. Um bis zu 40 Prozent könne sie bei Senioren sinken. Auch die Leberfunktion lässt um einen ähnlichen Wert nach, was den Abbau vieler Pharmaka deutlich verzögert. Der Anstieg des pH-Werts im Magen und eine zeitlich verlängerte Passage der Arzneistoffe durch den Darm haben ebenfalls Einfluss auf die Wirkung.

 

Priscus-Liste lediglich eine Orientierungshilfe

 

Weitere für die Pharmakotherapie relevante altersbedingte Veränderungen im Körper sind die Abnahme des Körperwassers und der Extrazellular-Flüssigkeit, was vor allem die Wirksamkeit wasserlöslicher Medikamente beeinflusst. Konsequenzen hat auch der relative Anstieg des Körperfetts. Fettlösliche Arzneistoffe könnten dort in größerer Menge eingelagert werden, etwa Benzodiazepine.

 

Angesichts der Vielzahl eingenommener Medikamente seien Interaktionen bei Senioren ein erhebliches Problem, sagte der Mediziner. Die Gefahren würden jedoch oftmals erst spät erkannt, weil die meisten Patienten mehr als einen Arzt hätten. Wenn dann noch mehrere Selbstmedikationsarzneimittel hinzukämen, gebe es keinen Fachmann, der den Überblick über die Medikation behalte.

 

Die altersbedingten Veränderungen ließen sich auch nicht zuverlässig beherrschen, wenn jede einzelne Erkrankung leitliniengerecht behandelt werde, sagte Hardt. Ein Patient, der an Herzinsuffizienz leidet und gleichzeitig eine Schmerztherapie erhält, habe dennoch ein hohes Risiko für schwere Interaktionen. Selbst die Beachtung der eigens für die Behandlung von Senioren entwickelte Priscus-Liste reiche nicht aus. Die Liste sei zwar eine wichtige Orientierungshilfe, entbinde aber den Arzt nicht davon, Nutzen und Risiken einer Behandlung patientenindividuell zu bewerten.

 

Risikominimierung als Ziel

 

Bleibt für Ärzte und Apotheker also nur, die Therapierisiken bei multimorbiden Patienten so gut wie möglich zu reduzieren. Dazu steht für Hardt an erster Stelle die Definition des Behandlungsziels. Dazu müsse der Arzt zusammen mit dem Patienten eine Hierarchie aufstellen, welche Erkrankungen und Symptome vorrangig behandelt werden sollen, welche Pharmaka der Patient nehmen soll und auf welche womöglich zugunsten geringerer Interaktionen verzichtet werden kann. Zudem sollte der Arzt Medikamente mit geringem Nebenwirkungs- und Interak­tionspotenzial auswählen. Und natürlich sei es wichtig, dass die Senioren ihre Arzneimittel auch einfach aus der Packung und dem Blister nehmen können und sie einen gut lesbaren Medikamentenplan bekommen.

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