Arzneimittel im Entzug und danach |
Brigitte M. Gensthaler |
24.07.2020 08:00 Uhr |
Ein Gläschen in Ehren kann niemand verwehren – dieser Spruch hat längst seine Harmlosigkeit verloren. Deutschland zählt international in puncto Alkohol zu den Hochkonsumländern. / Foto: Adobe Stock/lev dolgachov
»Eine medikamentöse Therapie ist immer nur ein Baustein in einem psychotherapeutischen Rahmenprogramm«, sagte Psychiatrie-Professor Dr. Norbert Wodarz vom Zentrum für Suchtmedizin der Universität Regensburg beim Web-Seminar des 19. Suchtforums. Primäres Behandlungsziel bei Alkoholabhängigkeit sei die Abstinenz, vor allem, wenn der Patient bereits an Folgen wie Leberschäden oder Pankreatitis leidet. Ist dies nicht möglich, werde eine Reduktion des Konsums angestrebt.
In der Akut-Intervention gehe es zunächst ums Überleben. »Ein Alkoholentzug kann vital bedrohlich sein, daher ist eine Behandlung nötig.« Die körperliche Entgiftung soll Entzugssymptome lindern und schwere Verläufe, zum Beispiel epileptische Anfälle oder ein Delirium tremens, vermeiden. Am besten evaluiert beim stationären Entzug sind Clomethiazol und Benzodiazepine über eine begrenzte Zeit. Clomethiazol (Distraneurin®) sei im ambulanten Bereich kontraindiziert, betonte der Suchtexperte.
Trizyklische Antidepressiva sind Wodarz zufolge nicht geeignet, da sie die Krampfschwelle zusätzlich senken. Dies gelte ebenfalls für Pipamperon. Auch Melperon sei kein Standardmedikament für den Entzug. Der selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Citalopram sei nur hilfreich bei begleitender Depression.
Die körperliche Entgiftung dauert etwa drei bis acht Tage. Nach vier Wochen seien 50 Prozent der Behandelten noch abstinent, nach einem Jahr weniger als 5 Prozent. Aufgrund dieses mäßigen Erfolgs warb der Psychiater für die »qualifizierte Entzugsbehandlung«, bei der die körperliche Entgiftung durch psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen ergänzt werde, die auf die Grunderkrankung Abhängigkeit abzielen.
Möglichst direkt an den Entzug anschließen sollte sich eine weiterführende Behandlung zur Rückfallprophylaxe. Klassiker ist Disulfiram, das eine Alkoholintoleranz induziert. Trinkt der Patient Alkohol, entstehen unangenehme Flush-Reaktionen wie Übelkeit, Brechreiz, Kopfschmerzen oder Dysphorie. »Disulfiram funktioniert nachweislich gut auch in einer ambulanten Intensiv-Langzeittherapie und eignet sich für eine kleine Gruppe von Abhängigen.« Der Patient müsse unbedingt über die Risiken informiert werden. Da die Zulassung von Antabus® in Deutschland 2011 zurückgegeben wurde, ist das Medikament nur über internationale Apotheken zu beziehen.
Gemäß der S3-Leitlinie »Alkoholbezogene Störungen: Screening, Diagnose und Behandlung« (Stand 2016, in Überarbeitung) sollten Acamprosat (Campral®) und Naltrexon in der Postakutphase eingesetzt werden, um den Patienten in der Abstinenz zu »stützen«. Wenn man neun bis zehn Patienten behandle, könne man einen schweren Rückfall vermeiden, so Wodarz.
Nalmefen (Selincro®) ist seit 2013 zugelassen zur Trinkmengenreduktion bei Männern, die mehr als 60 g Alkohol pro Tag trinken, und bei Frauen mit mehr als 40 g pro Tag. Es wird über maximal drei Monate, eventuell verlängert um drei Monate gegeben. »Damit kann man die Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken. Ziel ist die Hinführung zur Abstinenz,« so Wodarz. Nalmefen wirkt ähnlich wie Naltrexon als Antagonist an µ-Opioidrezeptoren, ist aber nicht lebertoxisch. Der Suchtexperte verwies auf einen interessanten Effekt in Studien: Die Trinkmenge sank bereits, bevor das Arzneimittel eingesetzt wurde. »Dies zeigt, dass schon die Zusage zur Studienteilnahme die Veränderungs-Bereitschaft erhöht.«
Baclofen (zum Beispiel Lioresal®) wirkt am GABA-B-Rezeptor und hilft bei schwerer Spastizität. Die zugelassene Tageshöchstdosis von 75 bis 120 mg ist in der Behandlung der Alkoholabhängigkeit (off Label) eher die Mindestdosis. Eingesetzt werden teilweise bis 240 mg pro Tag. »Einzelne Patienten profitieren davon, aber ein Cochrane-Review zeigte 2018, dass Baclofen einem Placebo nicht überlegen war.«
Der Psychiater verwies auf die besondere Verantwortung der Apotheker bei der Beratung von Alkoholkranken nach einem Entzug. »Viele Patienten beschreiben, dass schon der Geschmack von Alkohol, zum Beispiel in einer Mundspüllösung, einem Medikament oder einer Weinsauce, ein Trigger für einen Rückfall war.« Der Suchtexperte empfahl, Betroffene auf den Alkoholgehalt von Arzneimitteln hinzuweisen. Dann könnten sie selbst entscheiden, ob sie dieses oder ein alkoholfreies Präparat nehmen möchten.
Apotheker sollten zudem hellhörig werden, wenn jemand häufiger alkoholhaltige Präparate kauft, zum Beispiel Melissengeist. »Fragen Sie den Kunden, wofür er dieses Mittel nimmt und bieten Sie Unterstützung an«, riet der Suchtexperte. Eventuell gebe es Alternativen für eine behandlungsbedürftige Störung wie Unruhezustände oder Schlafprobleme. Der Apotheker als Arzneimittelfachmann könne zudem im Gespräch die Grenzen der Selbstmedikation ausloten.
Alkohol ist in Deutschland nahezu überall verfügbar und der Konsum sozial anerkannt. Obwohl der Konsum seit Jahren langsam sinkt, zählt Deutschland international zu den Hochkonsumländern. Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen trinkt durchschnittlich jeder Bundesbürger (ab 15 Jahren) 10,5 Liter Reinalkohol pro Jahr. 2018 hatten etwa 3 Millionen Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren eine alkoholbezogene Störung: 1,4 Millionen missbrauchten Alkohol und 1,6 Millionen waren abhängig. Etwa 74.000 Menschen sterben jedes Jahr durch Alkohol oder den kombinierten Konsum von Tabak und Alkohol.
Alkohol kann eine psychische und körperliche Abhängigkeit erzeugen. Diese wird in der Regel diagnostiziert, wenn während des letzten Jahres mindestens drei von sechs Kriterien der »Diagnostischen Leitlinien für das Abhängigkeitssyndrom« erfüllt sind:
Seit 1968 gilt Alkoholismus als Krankheit. Die Behandlung fällt seit 1978 in die Zuständigkeit der Krankenkassen und der Rentenversicherung.
Quelle: www.dhs.de/suchtstoffe-verhalten/alkohol.html