Am besten vermeiden, möglichst lindern |
Trockene Augen und Sehstörungen können unerwünschte Effekte einer anticholinergen Medikation sein. / Foto: Getty Images/Prostock-Studio
Internationalen Studien zufolge nehmen drei von vier Patienten zwischen 75 und 90 Jahren regelmäßig Arzneimittel mit anticholinergen Wirkungen ein und bis zu 70 Prozent berichten von anticholinergen Nebenwirkungen (1). Geriatrische Patienten sind eine vulnerable Patientengruppe, sodass bei typischen Symptomen wie Gedächtnisstörungen, Gangunsicherheit oder Mundtrockenheit geprüft werden sollte, ob es sich um Nebenwirkungen einer anticholinergen Therapie handeln könnte, insbesondere wenn solche Symptome neu aufgetreten sind (2). Dies ist hochrelevant, da die anticholinerge Medikation potenziell bei mehr als der Hälfte der Patienten abgesetzt oder umgestellt werden könnte (3).
In den letzten Jahren wurde in Drug-Safety-Mails der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft wiederholt dringend zur Vorsicht bei der Einnahme von anticholinerg wirksamen Arzneistoffen aufgerufen. Beispielsweise wurde für das Antipsychotikum Clozapin eine Hemmung der Darmbewegung – vermutlich aufgrund seiner anticholinergen Aktivität – beschrieben, was zu einem lebensbedrohlichen Darmverschluss führen kann. Auch apothekenpflichtige Arzneimittel sind betroffen. 2021 wurde ein erhöhtes Risiko für Gleichgewichtsstörungen, Stürze und Verwirrtheitszustände unter Einnahme von Antihistaminika der ersten Generation, zum Beispiel von Doxylamin und Diphenhydramin, festgestellt, da diese die Blut-Hirn-Schranke (BHS) überwinden und somit ins Zentralnervensystem (ZNS) gelangen können.
Wie hoch das Risiko für anticholinerge Nebenwirkungen im Einzelfall wirklich ist, hängt von verschiedenen Einflussfaktoren ab und muss für jeden Patienten individuell beurteilt werden. Grundsätzlich sind hierbei patienten- und arzneistoffspezifische Faktoren zu berücksichtigen, die die Pharmakokinetik und -dynamik eines Arzneistoffs beeinflussen können (4).
Die Pharmakokinetik eines Arzneistoffs wird unter anderem durch dessen chemische Eigenschaften, die beispielsweise die ZNS-Gängigkeit betreffen, sowie Darreichungsform und Dosis beeinflusst. Gleichzeitig können patientenbezogene Faktoren wie eine eingeschränkte Leber- oder Nierenfunktion, aber auch die Adhärenz die Arzneistoffkonzentrationen verändern.
Neu aufgetretene Sehstörungen, trockene Schleimhäute oder Konzentrationsprobleme: Vielleicht liegt′s an der Medikation. / Foto: Adobe Stock/zabavna
Zur Pharmakodynamik: Arzneistoffe haben unterschiedliche Affinitäten zu muskarinergen Rezeptoren und daher variiert ihre anticholinerge Aktivität (Kasten). Zudem nimmt im Alter die Anzahl an muskarinergen Rezeptoren im Gehirn ab, sodass bei gleichbleibender Dosis ein prozentual größerer Anteil an Rezeptoren gehemmt wird und somit das Risiko für zentrale anticholinerge Nebenwirkungen steigt (5). Es zeigte sich auch, dass das Sturzrisiko unter Anticholinergika für hospitalisierte Frauen im Gegensatz zu Männern signifikant erhöht ist (6), was möglicherweise mit der geringeren Muskelmasse bei Frauen zu erklären ist (7).
Grundsätzlich gilt, dass das Alter eines Patienten oft mit Multimorbidität und Polypharmazie einhergeht, sodass pharmakodynamische und pharmakokinetische Interaktionen beachtet werden sollten (8).
Das vegetative Nervensystem, das die nicht dem Bewusstsein unterliegenden Funktionen wie Atmung, Herzschlag oder die Sekretion exo- und endokriner Drüsen reguliert, ist ein autonomes Nervensystem. Es wird differenziert in einen sympathischen und einen parasympathischen Anteil. Der Sympathikus ist für die »Kampf- und Überlebensfunktion« und der Parasympathikus für die »Ruhefunktion« des Körpers zuständig.
Die Signalübertragungswege werden durch Transmitter und Rezeptoren gesteuert. Während im sympathischen Nervensystem der Neurotransmitter Noradrenalin die α- und β-adrenergen Rezeptoren am Erfolgsorgan stimuliert und sympathische Wirkungen vermittelt, ist im parasympathischen Nervensystem Acetylcholin die Transmittersubstanz, die über die muskarinergen Cholinorezeptoren parasympathische Wirkungen hervorruft. Die meisten Organe des Körpers werden sowohl von sympathischen als auch parasympathischen Neuronen innerviert (9).
Aus pharmakologischer Sicht kann das vegetative Nervensystem über die Transmitter oder auf Rezeptorebene beeinflusst werden. Anticholinerge Wirkstoffe blockieren durch kompetitiven Antagonismus die Acetylcholin-vermittelte Erregungsübertragung an muskarinergen Cholinorezeptoren, greifen damit in die Funktionen des vegetativen Nervensystems ein und lösen eine parasympatholytische Wirkung am Erfolgsorgan aus.
Es gibt fünf Subtypen von muskarinergen Rezeptoren (M1 bis M5), deren Verteilung an den Erfolgsorganen variiert. Anticholinerge Wirkstoffe haben unterschiedliche Bindungsaffinitäten für diese Subtypen. Da Muskarin-Rezeptoren in vielen pathophysiologischen Prozessen eine Rolle spielen, werden anticholinerge Wirkstoffe vielfältig therapeutisch eingesetzt, zum Beispiel bei Harninkontinenz, Morbus Parkinson, Magen-Darm-Krämpfen oder chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung. Neben den erwünschten Wirkungen können anticholinerge Effekte allerdings auch vielfach unerwünscht sein (10).