Am besten vermeiden, möglichst lindern |
Trockene Augen und Sehstörungen können unerwünschte Effekte einer anticholinergen Medikation sein. / Foto: Getty Images/Prostock-Studio
Internationalen Studien zufolge nehmen drei von vier Patienten zwischen 75 und 90 Jahren regelmäßig Arzneimittel mit anticholinergen Wirkungen ein und bis zu 70 Prozent berichten von anticholinergen Nebenwirkungen (1). Geriatrische Patienten sind eine vulnerable Patientengruppe, sodass bei typischen Symptomen wie Gedächtnisstörungen, Gangunsicherheit oder Mundtrockenheit geprüft werden sollte, ob es sich um Nebenwirkungen einer anticholinergen Therapie handeln könnte, insbesondere wenn solche Symptome neu aufgetreten sind (2). Dies ist hochrelevant, da die anticholinerge Medikation potenziell bei mehr als der Hälfte der Patienten abgesetzt oder umgestellt werden könnte (3).
In den letzten Jahren wurde in Drug-Safety-Mails der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft wiederholt dringend zur Vorsicht bei der Einnahme von anticholinerg wirksamen Arzneistoffen aufgerufen. Beispielsweise wurde für das Antipsychotikum Clozapin eine Hemmung der Darmbewegung – vermutlich aufgrund seiner anticholinergen Aktivität – beschrieben, was zu einem lebensbedrohlichen Darmverschluss führen kann. Auch apothekenpflichtige Arzneimittel sind betroffen. 2021 wurde ein erhöhtes Risiko für Gleichgewichtsstörungen, Stürze und Verwirrtheitszustände unter Einnahme von Antihistaminika der ersten Generation, zum Beispiel von Doxylamin und Diphenhydramin, festgestellt, da diese die Blut-Hirn-Schranke (BHS) überwinden und somit ins Zentralnervensystem (ZNS) gelangen können.
Wie hoch das Risiko für anticholinerge Nebenwirkungen im Einzelfall wirklich ist, hängt von verschiedenen Einflussfaktoren ab und muss für jeden Patienten individuell beurteilt werden. Grundsätzlich sind hierbei patienten- und arzneistoffspezifische Faktoren zu berücksichtigen, die die Pharmakokinetik und -dynamik eines Arzneistoffs beeinflussen können (4).
Die Pharmakokinetik eines Arzneistoffs wird unter anderem durch dessen chemische Eigenschaften, die beispielsweise die ZNS-Gängigkeit betreffen, sowie Darreichungsform und Dosis beeinflusst. Gleichzeitig können patientenbezogene Faktoren wie eine eingeschränkte Leber- oder Nierenfunktion, aber auch die Adhärenz die Arzneistoffkonzentrationen verändern.
Neu aufgetretene Sehstörungen, trockene Schleimhäute oder Konzentrationsprobleme: Vielleicht liegt′s an der Medikation. / Foto: Adobe Stock/zabavna
Zur Pharmakodynamik: Arzneistoffe haben unterschiedliche Affinitäten zu muskarinergen Rezeptoren und daher variiert ihre anticholinerge Aktivität (Kasten). Zudem nimmt im Alter die Anzahl an muskarinergen Rezeptoren im Gehirn ab, sodass bei gleichbleibender Dosis ein prozentual größerer Anteil an Rezeptoren gehemmt wird und somit das Risiko für zentrale anticholinerge Nebenwirkungen steigt (5). Es zeigte sich auch, dass das Sturzrisiko unter Anticholinergika für hospitalisierte Frauen im Gegensatz zu Männern signifikant erhöht ist (6), was möglicherweise mit der geringeren Muskelmasse bei Frauen zu erklären ist (7).
Grundsätzlich gilt, dass das Alter eines Patienten oft mit Multimorbidität und Polypharmazie einhergeht, sodass pharmakodynamische und pharmakokinetische Interaktionen beachtet werden sollten (8).
Das vegetative Nervensystem, das die nicht dem Bewusstsein unterliegenden Funktionen wie Atmung, Herzschlag oder die Sekretion exo- und endokriner Drüsen reguliert, ist ein autonomes Nervensystem. Es wird differenziert in einen sympathischen und einen parasympathischen Anteil. Der Sympathikus ist für die »Kampf- und Überlebensfunktion« und der Parasympathikus für die »Ruhefunktion« des Körpers zuständig.
Die Signalübertragungswege werden durch Transmitter und Rezeptoren gesteuert. Während im sympathischen Nervensystem der Neurotransmitter Noradrenalin die α- und β-adrenergen Rezeptoren am Erfolgsorgan stimuliert und sympathische Wirkungen vermittelt, ist im parasympathischen Nervensystem Acetylcholin die Transmittersubstanz, die über die muskarinergen Cholinorezeptoren parasympathische Wirkungen hervorruft. Die meisten Organe des Körpers werden sowohl von sympathischen als auch parasympathischen Neuronen innerviert (9).
Aus pharmakologischer Sicht kann das vegetative Nervensystem über die Transmitter oder auf Rezeptorebene beeinflusst werden. Anticholinerge Wirkstoffe blockieren durch kompetitiven Antagonismus die Acetylcholin-vermittelte Erregungsübertragung an muskarinergen Cholinorezeptoren, greifen damit in die Funktionen des vegetativen Nervensystems ein und lösen eine parasympatholytische Wirkung am Erfolgsorgan aus.
Es gibt fünf Subtypen von muskarinergen Rezeptoren (M1 bis M5), deren Verteilung an den Erfolgsorganen variiert. Anticholinerge Wirkstoffe haben unterschiedliche Bindungsaffinitäten für diese Subtypen. Da Muskarin-Rezeptoren in vielen pathophysiologischen Prozessen eine Rolle spielen, werden anticholinerge Wirkstoffe vielfältig therapeutisch eingesetzt, zum Beispiel bei Harninkontinenz, Morbus Parkinson, Magen-Darm-Krämpfen oder chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung. Neben den erwünschten Wirkungen können anticholinerge Effekte allerdings auch vielfach unerwünscht sein (10).
Die Gesamtexposition mit anticholinergen Substanzen wird oft als anticholinerge Last (anticholinergic burden, ACB) umschrieben.
In Studien wurde bisher kein eindeutiger Zusammenhang zwischen der anticholinergen Last und klinisch relevanten Endpunkten identifiziert. Trotzdem scheint eine höhere anticholinerge Last mit einem höheren Risiko für anticholinerge unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) assoziiert zu sein (11). Somit ist die Bestimmung der ACB geeignet, um das anticholinerge Nebenwirkungsrisiko für einen Patienten einzuschätzen – auch wenn im Detail keine abschließenden Daten vorliegen, die vorhersagen, welche UAW wie ausgeprägt bei welcher anticholinergen Last in welchem Patienten auftreten.
Grundsätzlich setzt die Bestimmung der anticholinergen Last Informationen zu zwei Aspekten voraus: Welche Arzneimittel in der Medikation eines Patienten haben überhaupt eine anticholinerge Wirkung und wie hoch ist deren Bindungsaffinität, das heißt, wie ausgeprägt ist die jeweilige anticholinerge Aktivität?
Es gibt inzwischen eine Vielzahl an international publizierten Listen, Formeln und Skalen, die bei der Erkennung helfen sollen. Bei der Erstellung solcher Instrumente wurden zunächst Substanzen mit anticholinerger Wirkung identifiziert und gelistet und diese dann anhand ihrer anticholinergen Aktivität in definierten Skalen eingestuft.
Patienten mit Polymedikation sind eher gefährdet, arzneimittelbedingte Nebenwirkungen zu erleiden. / Foto: Adobe Stock/ArTo
Bei der Nutzung solcher Listen ist zu beachten, dass die enthaltenen Informationen nicht deckungsgleich sind. Dies liegt vor allem daran, dass die Autoren unterschiedliche Kriterien für die Festlegung von anticholinergen Wirkstoffen wählten oder die anticholinerge Aktivität auf unterschiedliche Art einschätzten (12). Während einige Autoren hierfür die Exposition berücksichtigten, indem sie die Applikationsform, die ZNS-Gängigkeit oder das Interaktionspotenzial einbezogen, wurde beim sogenannten Drug Burden Index auch die eingesetzte Dosierung berücksichtigt (13).
Derzeit gibt es mindestens 13 unterschiedliche Instrumente (4). Diese unterscheiden sich aus den genannten Gründen in der Anzahl identifizierter und gelisteter Wirkstoffe, aber auch in der Bewertung der anticholinergen Aktivität.
Die anticholinerge »Belastung« eines Patienten wird durch Summieren der jeweiligen Punktzahlen der Arzneistoffe bestimmt. Die meisten Skalen vergeben 0 bis 3 Punkte für jeden Wirkstoff. Es wird grundsätzlich empfohlen, ab einem Score von 3 eine »Entlastung« von diesen Substanzen zu erwägen (4). Allerdings kann keine konkrete Angabe gemacht werden, inwieweit sich das Risiko für UAW daraufhin verändert, da die anticholinerge Last nur einen Risikofaktor für das Auftreten von Nebenwirkungen darstellt.
Welche Listen und Skalen für Deutschland am besten geeignet sind, ist (noch) nicht abschließend entschieden – auch weil noch kein Instrument explizit für den Gebrauch in öffentlichen Apotheken validiert wurde und es keine Vergleichsstudien gibt, in denen mehrere Listen gegeneinander getestet wurden. Grundsätzlich erscheint es sinnvoll, eine Liste anzuwenden, die für den deutschen Arzneimittelmarkt entwickelt oder angepasst wurde.
Vor diesem Hintergrund gibt es speziell für anticholinerge Wirkstoffe die »Münchner Liste«, die »Heidelberger Liste« und die Zusammenstellung des Cofrail-Konsortiums (Tabelle 1). Die Münchner Liste teilt den Wirkstoffen ACB-Scores von 1,2 und 3 (schwache, mittelstarke und starke Anticholinergika) zu. Die Heidelberger Liste unterscheidet dagegen nur zwischen »schwachen« und »starken« Anticholinergika.
Instrument, Autor | Setting | Inhalt und Bewertung |
---|---|---|
Münchner Liste (18)Kiesel et al. | für den klinischen Alltag entwickeltZielgruppe: geriatrische Patienten | basiert auf 8 internationalen Skalenlistet 104 schwache, 18 moderate und 29 starke Anticholinergika |
Liste des Cofrail-KonsortiumsThürmann et al., Cofrail-Studiengruppe | entwickelt in der Cofrail-StudieZielgruppe: geriatrische Patienten mit Polymedikation und Risiko für PIM | Klassifizierung nach anticholinergen und/oder sedativen EffektenDarstellung der minimalen Tagesdosis für jede Applikationsform umfasst 197 Wirkstoffe |
Heidelberger Liste (4)Mayer et al. | Zielgruppe: geriatrische Patienten | basiert auf der Liste von Durán et al. (19)Neubewertung listet 39 starke und 46 schwache Anticholinergika |
Zudem schlägt die Münchner Liste konkrete Handlungsanweisungen vor. Dabei sollen die ACB-Werte der Medikation des Patienten summiert werden. Bei Wirkstoffen mit einem Punktwert von 3 oder der Einnahme mehrerer Substanzen und einem Gesamtscore über 2 sollte grundsätzlich ein Score unter 3 angestrebt werden. Dies bedeutet: den Arzneistoff entweder gegen einen anderen Wirkstoff mit geringerem oder ohne anticholinerges Potenzial austauschen oder (bei fehlender oder nicht mehr bestehender Indikation) vollständig absetzen. Ist beides nicht möglich, könnte eventuell die Dosis reduziert und/oder der Patient zumindest hinsichtlich anticholinerger Nebenwirkungen überwacht werden.
Da die Münchner Liste keine konkreten Alternativen benennt, könnte das Apothekenteam beispielsweise die Priscus-Liste 2.0 heranziehen, die neben den PIM (potenziell inadäquate Medikation) auch mögliche Alternativen vorschlägt. Weitere Hilfsmittel, die ebenfalls eher allgemein auf PIM abzielen, sind die FORTA-Kriterien oder die Liste mit START-/STOPP-Kriterien (Tabelle 2).
Instrument | Inhalt und Anmerkungen |
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Priscus-Liste (veraltet)(20) | enthält PIM und nennt Therapiealternativen18 Wirkstoffklassen, 83 Wirkstoffe |
Priscus-Liste 2.0(21) | aktualisierte Version, nennt Therapiealternativen177 Wirkstoffe |
FORTA-Kriterien(Fit-fOR-The-Aged)(22) | Einteilung von Wirkstoffen in 4 Kategorien (nach Risiko), Sortierung nach Indikationen, nennt Therapieempfehlungen296 Wirkstoffe |
START-/STOPP-Kriterien(23) | 81 STOPP-Kriterien für die Identifizierung von Übertherapie34 START-Kriterien für die Identifizierung einer unbehandelten Indikation |
Die Münchner und die Heidelberger Liste wurden anhand unterschiedlicher Grundlagen und für unterschiedliche Settings und Zielgruppen entwickelt. Während die Münchner Liste vorwiegend für den Einsatz in einer Klinik erstellt wurde, betrifft die Heidelberger Liste vorrangig geriatrische Reha-Patienten. Es kann daher vorkommen, dass manche Wirkstoffe in einer Liste aufgezählt werden, aber in der anderen fehlen oder die Bewertungen der anticholinergen Aktivität nicht deckungsgleich sind.
Diverse Skalen und Listen zur Bewertung der anticholinergen Last von Arzneistoffen sind online verfügbar. / Foto: Imago/Westend61
Opioid-Analgetika stellen solch einen Fall dar. Dies liegt unter anderem daran, dass die anticholinerge Aktivität oftmals nicht genau definiert werden kann und Opioid-Analgetika weitere Effekte wie sedierende oder serotonerge Eigenschaften haben können. Diese Effekte können zentrale anticholinerge Wirkungen verschleiern oder sogar verstärken. Tramadol wird beispielsweise in der Münchner Bewertung als mittelstarkes, in Heidelberg als schwaches Anticholinergikum eingeschätzt. Für Morphin und Fentanyl geben die Münchner Autoren einen ACB-Score von jeweils 1 an, die Heidelberger Liste schätzt deren anticholinerge Aktivität als unklar ein.
Gemeinsam haben diese beiden Instrumente, dass sie hinsichtlich verfügbarer Wirkstoffe und Darreichungsformen speziell an den deutschen Arzneimittelmarkt angepasst wurden und somit praxisnah einsetzbar sind. Beispielsweise ist Trospiumchlorid zur Behandlung der Drang- sowie Reflexinkontinenz in beiden deutschen Listen enthalten, nicht aber in internationalen Listen.
Die Cofrail-Liste klassifiziert die Wirkstoffe nach anticholinergen und/oder sedativen Effekten. Gleichzeitig listet sie die minimale Tagesdosis der jeweiligen Wirkstoffe, angepasst an verschiedene Applikationsformen, auf. Die Zusammenstellung umfasst 197 Wirkstoffe und ist ebenfalls an den deutschen Arzneimittelmarkt angepasst.
In der Regel sollte die Arzneimitteltherapie eines Patienten möglichst nebenwirkungsarm verlaufen. Mit Fokus auf anticholinergen Nebenwirkungen sollten folgende Aspekte unbedingt beachtet werden:
Grundsätzlich könnte man postulieren, dass ein hoher Score bei fraglichen anticholinergen Symptomen dafürspricht, dass es sich wirklich um therapiebedingte Symptome handeln könnte. Hat der Patient hingegen keine anticholinergen Symptome, könnte bei Anwendung einer neuen anticholinergen Substanz möglicherweise ein höheres Risiko dafür bestehen.
Bei einem hohen Punktwert sollte das Apothekenteam den Patienten gezielt nach anticholinergen Symptomen befragen. Dieser »Abgleich« mit der klinischen Situation erscheint wichtig, um bei einer Änderung der Therapie auch Aussagen über eine Veränderung des Nebenwirkungsstatus treffen zu können.
Anticholinerge Nebenwirkungen können auch anhand validierter Tests oder Fragebögen erfasst werden. Tabelle 3 gibt einen Überblick über standardisierte Werkzeuge zum Erfassen sowie typische Anzeichen von anticholinerg bedingten UAW.
Anticholinerge Nebenwirkungen | Erfassen der Nebenwirkungen: standardisierte Werkzeuge | Erfassen der Nebenwirkungen: Warnzeichen in der Offizin |
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zentrale Nebenwirkungen | ||
Konzentrationsschwierigkeiten | Trail Making Test (24)Digit Symbol Substitution Test (25) | zunehmende Verwirrtheitvermindertes DenkvermögenGangstörungenAgitiertheitAggressivitätHalluzinationenakute Wesensveränderungen |
Vergesslichkeit | California Verbal Learning Test (26)Rey Complex Figure Test (27) | zunehmende Verwirrtheitvermindertes DenkvermögenGangstörungenAgitiertheitAggressivitätHalluzinationenakute Wesensveränderungen |
Kognitionsstörungen | Short Blessed Test (28)Global Deterioration Scale (29) | zunehmende Verwirrtheitvermindertes DenkvermögenGangstörungenAgitiertheitAggressivitätHalluzinationenakute Wesensveränderungen |
Delir | Confusion Assessment Method (30) | zunehmende Verwirrtheitvermindertes DenkvermögenGangstörungenAgitiertheitAggressivitätHalluzinationenakute Wesensveränderungen |
periphere Nebenwirkungen | ||
Mundtrockenheit | Spucktests zur Bestimmung der Speichelflussrate (31)Schwammtechnik | Kau- und SchluckbeschwerdenSchleimhautverletzungenZahnschädenUnterernährung |
Mydriasis, Sehstörungen | klinische Beurteilung | Akkommodationsstörungen, verschwommenes Sehentrockene AugenGangunsicherheit |
Miktionsstörungen | klinische Einschätzung, Memorial Symptom Assessment Scale (32) | Harnverhaltrezidivierende Harnwegsinfektionen |
verminderte Magensäureproduktion | klinische Einschätzung, Memorial Symptom Assessment Scale (32) | Obstipation |
vermindertes Schwitzen | klinische Einschätzung, Memorial Symptom Assessment Scale (32) | trockene HautHyperthermieKreislaufprobleme |
Bei wahrscheinlich anticholinerg bedingten UAW kann das Apothekenteam in der Regel vier Handlungsmöglichkeiten mit dem verschreibenden Hausarzt besprechen:
Das Absetzen oder Ersetzen von Anticholinergika erfordert selbstverständlich eine kritische Überprüfung der Indikation. Ein abruptes Absetzen ist zudem in vielen Fällen nicht zu empfehlen, da Entzugssymptome und Rebound-Effekte auftreten können, zum Beispiel Unruhe und Schlafstörungen nach Absetzen von Trizyklika wie Amitriptylin. Die geplante schrittweise Dosisreduktion bis zum Absetzen des Wirkstoffs wird auch als »Deprescribing« bezeichnet: ein geplantes Ausschleichen eines nicht (mehr) indizierten oder riskanten Arzneimittels unter professioneller Überwachung. Deprescribing von anticholinergen Wirkstoffen ist komplex, da Ausschleichschemata patientenindividuell erstellt und der Absetzversuch engmaschig pharmazeutisch-medizinisch gesichert werden sollte. Dieser Schritt liegt natürlich in der Therapiehoheit des Arztes; allerdings kann eine verstärkte interprofessionelle Zusammenarbeit im Alltag vorteilhaft sein.
Auch bei der Medikationsanalyse sollten Apotheker auf potenzielle anticholinerge Nebenwirkungen achten. / Foto: ABDA
Muss die Therapie bestehen bleiben, sollten möglichst risikoärmere Wirkstoffe bevorzugt werden. Idealerweise gibt es Wirkstoffe ohne anticholinerges Potenzial, aber auch schwächere Anticholinergika kommen in Betracht.
Alternativ oder zusätzlich kann der Arzt eine Dosisreduktion erwägen. Werden weiterhin Wirkstoffe mit einer hohen anticholinergen Last eingenommen, sollten die Patienten gegebenenfalls auf potenzielle Nebenwirkungen aufmerksam gemacht und dafür sensibilisiert werden. Eventuell ist es sinnvoll, Angehörige oder Pflegende einzubeziehen und auf ein Monitoring von möglichen Nebenwirkungen hinzuweisen (4).
Natürlich gibt es auch apothekenpflichtige Wirkstoffe mit anticholinergen Eigenschaften, sodass sich auch hier anticholinerge Effekte summieren können (Fallbeispiel).
Grundsätzlich sollte das Apothekenteam, insbesondere bei älteren Patienten, immer Arzneimittel mit einem geringen anticholinergen Potenzial empfehlen. Bei einer Allergie sind dies Antihistaminika der zweiten Generation. Bei gastrointestinalen Beschwerden und leichten Schlafstörungen sollten pflanzliche Präparate bevorzugt werden (16). Auch wenn der spasmolytische Wirkstoff Butylscopolamin aufgrund seiner chemischen Eigenschaften die Blut-Hirn-Schranke vermutlich nicht passieren kann und daher eher keine zentrale anticholinerge Wirkung auslöst, können periphere anticholinerge UAW auftreten (17).
Foto: Adobe Stock/9nong
Herr Meyer nimmt aufgrund seiner benignen Prostatahyperplasie schon seit Jahren Tamsulosin ein und hat in der Regel keine Beschwerden. Aufgrund anhaltender und belastender Schlafstörungen nimmt er seit einigen Monaten auch Mirtazapin, mit 7,5 mg niedrig dosiert, täglich vor dem Schlafengehen. Seit Kurzem klagt er über Völlegefühl mit starker Übelkeit. Seine Frau fragt in der Apotheke nach einem Medikament gegen Übelkeit.
Zur Erklärung: Herr Meyer nimmt aktuell Tamsulosin (ohne anticholinerge Aktivität) und Mirtazapin (ACB-Score 1) ein. Da er aufgrund seiner Grunderkrankung zu Harnverhalt neigt, ist hier Vorsicht geboten und die Frage nach einer möglichen Verschlechterung des Harnlassens angebracht. Dimenhydrinat (ACB-Score 3) gegen Übelkeit wäre mit einer erheblichen zusätzlichen anticholinergen Belastung und dem Risiko für das Auftreten von anticholinergen UAW verbunden. Zu bevorzugen sind pflanzliche Präparate mit verdauungsfördernden Bitterstoffen oder das eher antiemetisch wirkende Ingwerwurzelpulver.
Der Enkephalinase-Hemmer Racecadotril ist eine mögliche Alternative bei akuter Diarrhö für Patienten, die bezüglich anticholinerger Effekte gefährdet sind. Loperamid gilt aufgrund seiner Wirkweise als Agonist an peripheren Opioid-Rezeptoren und kann darüber anticholinerge Nebenwirkungen anderer Arzneimittel verstärken, zum Beispiel Harnretention. Tabelle 4 gibt einen Überblick über Wirkstoffe aus dem OTC-Bereich mit anticholinergen Eigenschaften und stellt Alternativen dar.
Indikation | Anticholinergika stark | Anticholinergika schwach | Mögliche Alternativen |
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Allergie | Clemastin, Dimetinden, Triprolidin | Azelastin, Cetirizin, Ketotifen, Loratadin | |
Schnupfen | Chlorphenamin, Doxylamin (Kombinationsarzneimittel) | Oxymetazolin, Xylometazolin | |
gastrointestinale Beschwerden | Dimenhydrinat, Diphenhydramin | pflanzliche Präparate | |
leichte Schlafstörungen | Diphenhydramin, Doxylamin | pflanzliche Präparate | |
leichte Krämpfe im Magen-Darm-Trakt, Reizdarmsyndrom | Butylscopolamin | pflanzliche Präparate | |
akute Diarrhö | Loperamid | Racecadotril |
Ziel der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) ist es, arzneimittelbezogene Probleme zu vermeiden, zu erkennen und zu lösen und damit den Medikationsprozess so risikoarm wie möglich zu gestalten. Der richtige Umgang mit anticholinergen Wirkstoffen ist hier ein Aspekt von vielen. Die Prävalenz der Anticholinergika-Einnahme unterstreicht die Wichtigkeit, sodass man ein Prozedere in der Offizin hierfür etablieren sollte.
Grundsätzlich wird ein Monitoring typischer Nebenwirkungen insbesondere für vulnerable Patientengruppen empfohlen. Der Apotheker kann beraten und aufklären, um bei Bedarf Patienten und/oder An- und Zugehörige zu sensibilisieren. Die Überprüfung der diagnoseabhängigen Indikation und Einleitung von weiterführenden Maßnahmen liegen zweifelsfrei beim behandelnden Arzt. Die Rollenverteilung von Apotheker und Arzt ist also klar definiert, sodass beide Berufsgruppen sich im AMTS-Prozess effektiv unterstützen und gemeinsam agieren können. Aus früheren Studien ist bekannt: Von interprofessioneller Zusammenarbeit profitieren besonders Patienten mit kritischer oder falsch eingestellter Medikation.
David Czock ist Oberarzt und Leiter der Bereichs Arzneimittel-Anwendung und -Sicherheit der Abteilung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie am Universitätsklinikum Heidelberg. Er ist Facharzt für Innere Medizin sowie für Klinische Pharmakologie.
Laura K. Lepenies studierte Pharmazie an der Universität Greifswald und erhielt im November 2021 die Approbation als Apothekerin. Sie ist seit Dezember 2022 in der Kooperationseinheit Klinische Pharmazie als Doktorandin beschäftigt und befasst sich mit Forschungsthemen zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit im ambulanten Bereich. Sie hat den vorliegenden Artikel federführend verfasst.
Hanna M. Seidling leitet die Kooperationseinheit Klinische Pharmazie an der Universität Heidelberg. Sie ist Fachapothekerin für Arzneimittelinformation und befasst sich mit der Entwicklung, Implementierung und Evaluation von Maßnahmen zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit.