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Pharmazeutische Betreuung

ADHS- und Rheumapatienten beraten

15.11.2011  16:50 Uhr

Von Daniela Biermann, Münster / Die pharmazeutische Betreuung umfasst mehr als die üblichen Einnahmehinweise bei der Arzneimittelabgabe. Bei Indikationen wie ADHS und Rheuma fehlen den Patienten oft wichtige Informationen. Tipps über das Medikament hinaus erfuhren die Besucher des Wochenendworkshops Pharmazeutische Betreuung in Münster.

Vergangenes Wochenende fand der dritte und letzte Workshop Pharmazeutische Betreuung in diesem Jahr statt. 260 Teilnehmer fanden den Weg nach Münster und arbeiteten in relativ kleinen Gruppen intensiv in den interaktiven Seminaren mit. Zum Beispiel beim Thema Rheuma: Zunächst frischte Apothekerin Isabel Waltering aus Nottuln das Basiswissen rund um die rheumatischen Erkrankungen auf. Denn unter dem Begriff »Rheuma« verbergen sich mehr als 200 verschiedene Krankheitsbilder. Am bekanntesten sind wohl die rheumatoide Arthritis und die Arthrose.

Die Arthrose, eine Art Verschleißerscheinung, trifft die meisten Menschen mit zunehmendem Alter. Sie tritt meist einseitig auf, vor allem an Knie, Hüfte, Wirbelsäule und distal an den Händen (vom Körper entfernt). Bei der rheumatoiden Arthritis kommt es dagegen meist zu symmetrischen Schmerzen in beiden Körperhälften. Hier sind vor allem die Schultern, Ellbogen, Füße, Handgelenke und die Hände proximal (zum Körper hin) betroffen. Außerdem sind bei rheumatoider Arthritis nicht nur die Gelenke, sondern auch die Haut und die inneren Organe gefährdet. Die Prognose ist deutlich schlechter als bei Arthrose: Fünf Jahre nach Diagnose haben so gut wie alle Patienten knöcherne Gelenkdefekte. Jeder Fünfte scheidet frühzeitig aus dem Berufsleben aus, jeder Zehnte wird schwerstbehindert.

 

»Das Problem ist, dass nur 22 Prozent zum Rheumatologen kommen, und das erst im Schnitt nach 21 Monaten«, sagte Waltering. »Das therapeutische Fenster für ein optimales Behandlungsergebnis liegt aber bei 12 bis 16 Wochen nach Krankheitsbeginn.« Kommt ein Patient mit typischen Symptomen wie symmetrischen Gelenkschmerzen und anhaltender Morgensteifigkeit in die Apotheke, sollte er deshalb schnellstmöglich zum Spezialisten geschickt werden.

Nach sorgfältiger Diagnose sind die Schmerzlinderung und ein Stopp des Krankheitsfortschritts die wichtigsten Therapieziele. Nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) sind trotz ihres Namens schon lange nicht mehr Mittel der Wahl. Sie können zwar bei akuten Schüben Schmerzen lindern, greifen jedoch nicht ins Krankheitsgeschehen ein. Viel wichtiger ist der Einsatz krankheitsmodifizierender Arzneimittel, sogenannter Disease Modifying Antirheumatic Drugs (DMARD). Bei der Ersttherapie kommen niedrig dosierte Glucocorticoide plus Methotrexat (MTX) oder Leflunomid oder Sulfasalazin zum Einsatz – alles Arzneimittel mit umfangreichen Nebenwirkungs- und Interaktionsspektrum. Bessert sich der Krankheitszustand nach drei Monaten nicht, können Dosis erhöht oder die chemischen Basistherapeutika kombiniert werden. Tritt nach weiteren drei Monaten immer noch keine Besserung auf, kommen Biologicals hinzu – ebenfalls höchst erklärungsbedürftige Arzneiformen.

 

Möglichkeiten und Grenzen der Therapie sowie nicht arzneimittelbezogene Ratschläge erarbeiteten die Teilnehmer anhand von Patientenfällen, zum Beispiel einer 35-Jährigen mit Metho­trexat-Verschreibung. Der vielleicht wichtigste Hinweis ist, dass die Tabletten oder die Fertigspritze nur einmal wöchentlich appliziert werden dürfen, sagte die Referentin. So wirkt der Arzneistoff antiinflammatorisch, aber nicht immunsuppressiv. Manche Patienten vertragen die intramuskulären Spritzen besser als die Tabletten. Bei Injektion sollten die Patienten die Einstichstelle an Bauch oder Oberschenkel regelmäßig wechseln und zur Erinnerung notieren, riet die Apothekerin.

 

Die Applikation sollte möglichst immer am gleichen Wochentag erfolgen, kann aber ausnahmsweise auch um einen Tag nach vorn oder hinten verschoben werden. Die nächste Gabe sollte dann wieder nach sieben Tagen erfolgen. Da MTX Nebenwirkungen wie Übelkeit auslösen kann, empfiehlt sich die abendliche Applikation, damit der Patient den unerwünschten Effekt verschläft. Oft verordnen Ärzte Folsäure zusätzlich, um Nebenwirkungen zu vermeiden oder zu lindern, zum Beispiel 5 Milligramm 24 bis 48 Stunden nach der MTX-Gabe. Eine solche Supplementation ist jedoch wissenschaftlich umstritten.

 

Vom Tag vor der MTX-Gabe bis einschließlich einen Tag danach sollten die Patienten auf die Einnahme von NSAR verzichten, da sie die Wirkung von MTX verstärken. Bis zu 48 Stunden nach der Applikation ist Alkoholgenuss nicht angebracht, während der restlichen Woche aber in geringen Mengen möglich. Kaffee und Tee in Maßen sind erlaubt. Da MTX die Haut lichtempfindlich macht, ist Sonnenschutz wichtig. Eine vollständige Lösung und weitere Fallbeispiele finden Interessierte auf www.wews.de unter Seminare.

 

Der reale Zappelphilipp

 

Höchst verunsicherte und damit beratungsdürftige Apothekenkunden sind die Eltern von Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS). »ADHS ist keine Modediagnose«, betonte Apothekerin Margit Schlenk. Auch wenn steigende Verordnungszahlen dies suggerieren. Es handle sich um ein ernstzunehmendes Krankheitsbild. »Bei ADHS-Kindern führt die überschwängliche Energie zu unangepasstem Risikoverhalten«, so die Referentin. Das Unfallrisiko liegt bis zu viermal höher als bei gesunden Kindern. Zudem fehlt ADHS-Kindern oft wegen ihres Verhaltens genau das, was sie am meisten brauchen: Zeit, Zuwendung und Zärtlichkeit. Eltern und Lehrer sehen in ihnen oft nur die Störenfriede und Problemkinder. Statt sie ruhig zu stellen, muss man sich um ADHS-Kinder jedoch besonders gut kümmern. Eine umfassende Therapie sei wichtig, um keine »Kratzer in der Kinderseele« zu lassen. »Denn ADHS-Kinder legen ihre Krankheit nicht automatisch mit dem Erhalt des Führerscheins ab«, sagte Schlenk. Im Erwachsenenalter kann eine unbehandelte ADHS zu schweren psychischen Erkrankungen wie Depression und Schizophrenie führen.

Am wichtigsten ist eine korrekte Diagnose, durchgeführt vom Kinderarzt oder -psychiater. Leitsymptome sind Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität, die in mehreren Lebensbereichen auftreten. »Nur Probleme in der Schule reichen nicht«, so Schlenk. Die Ausprägung ist altersabhängig und von Kind zu Kind unterschiedlich. Die Symptome treten in der Regel vor dem sechsten Geburtstag auf. Bei richtiger Behandlung ist die Chance groß, dass sich die Erkrankung zwischen dem 8. und 14. Lebensjahr »auswächst«, da das Gehirn in dieser Zeit tiefgreifende Veränderungen durchmacht. Wichtig ist, andere Ursachen wie Epilepsie oder Schilddrüsenüberfunktion auszuschließen.

 

Die Behandlung fußt auf einer Verhaltenstherapie, der Psychoeduktion und Medikamenten. Alle Maßnahmen sind gleichermaßen wichtig. Weder Eltern noch Kind darf die Schuld gegeben werden, denn ADHS ist zu bis zu 80 Prozent genetisch bedingt. Wichtig für die gesamte Familie sind feste Regeln, die bei Verstoß Konsequenzen haben müssen. Lob ist allerdings noch wichtiger. Der Alltag eines ADHS-Kinds sollte von morgens bis abends strukturiert sein, mit festen Zeiten für Spielen, Hausaufgaben und Fernsehen (letzteres nur in Maßen).

 

Als Medikament kommt bevorzugt Methylphenidat zum Einsatz. »Nehmen Sie den Eltern die Bedenken, nur weil es als Betäubungsmittel klassifiziert ist«, riet Schlenk. Zwar sei auch Atomoxetin als Nicht-Betäubungsmittel bei ADHS zugelassen, die Erfahrungen in der Pädiatrie aber bei Weitem nicht so groß. Zudem tritt die Wirkung von Atomoxetin erst nach vier bis sechs Wochen ein. Bei Erstgabe wirkt Methylphenidat bereits nach wenigen Tagen und in der Folge 20 bis 30 Minuten nach der Einnahme. Es hemmt den Appetit. Deshalb kann die Gabe nach dem Frühstück sinnvoll sein, auch wenn die Fachinformation andere Angaben macht. Die Wirkung von retardiertem Methylphenidat hält je nach Präparat 8 bis 12 Stunden an und kann, falls abends nötig, mit der Gabe von unretardiertem Wirkstoff verlängert werden. Dabei darf die Tageshöchstdosis von 60 Milligramm nicht überschritten werden. Allerdings beeinträchtigt das Stimulanz das Ein- und Durchschlafen.

 

Am Wochenende und in den Ferien sollten immer wieder medikamentöse Therapiepausen eingelegt werden. So kann die Entwicklung des Kinds besser beurteilt werden. Falls gewünscht, können Eltern diese Zeit versuchsweise mit komplementär-medizinischen Mitteln wie Zappelin überbrücken. »Diese Mittel sind aber nie Ersatz für die leitliniengerechte Therapie«, betonte Schlenk. Eine Suchtgefahr besteht bei richtig diagnostizierten ADHS-Kindern übrigens nicht. Vielmehr sei auf das Umfeld zu achten, mahnte die Referentin. Das Präparat sollten Apotheker ohne Rücksprache mit den Eltern nie an das Kind oder den Jugendlichen selbst abgeben.

 

Den Bericht zum Wochenendworkshop in Nürnberg finden Sie hier: Wochenendworkshop: Leben lebenswerter machen, PZ 43/2011. Die Kollegen aus Berlin berichteten in dem Beitrag Pharmazeutische Betreuung: Ein Update für die Praxis, PZ 45/2011. /

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