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Typisch für Myasthenia gravis ist das Herunterhängen eines oder beider Augenlider, das durch die Muskelschwäche zustande kommt. / Foto: Adobe Stock/Lightfield Studios
Myasthenia gravis ist eine seltene Autoimmunerkrankung, bei der die Impulsübertragung an der neuromuskulären Endplatte gestört ist. Sie äußert sich typischerweise durch eine Muskelschwäche, die bei körperlicher Belastung zunimmt und sich in Ruhe bessert. Bei generalisierter Myasthenia gravis (gMG) ist davon der gesamte Körper betroffen.
Bei etwa vier von fünf Betroffenen sind Autoantikörper nachweisbar, die gegen den Acetylcholin-Rezeptor gerichtet sind (Anti-AChR-Antikörper). Deutlich seltener liegen Autoantikörper gegen die muskelspezifische Tyrosinkinase (Anti-MuSK-Antikörper) vor; die Häufigkeitsangaben schwanken hier zwischen 10 und 70 Prozent der Patienten mit negativem Anti-AChR-Antikörpernachweis.
Zu den Medikamenten, die bei gMG eingesetzt werden, zählen Cholinesterase-Inhibitoren wie Pyridostigmin und Neostigmin, Glucocorticoide sowie Immunsuppressiva wie Azathioprin und Mycophenolatmofetil. Als Add-on-Therapeutika stehen darüber hinaus Komplementinhibitoren wie Eculizumab und Ravulizumab sowie das gegen den neonatalen Fc-Rezeptor (FcRn) gerichtete IgG-Fragment Efgartigimod alfa zur Verfügung. Letzteres hemmt das FcRn-vermittelte Recycling von IgG-Antikörpern in der Zelle. Wird der FcRn blockiert, werden IgG vermehrt abgebaut. Das gilt auch für Autoantikörper, was die Wirkung bei gMG erklärt.
Die Signalübertragung von Nerven auf Muskelzellen findet an der motorischen Endplatte durch den Botenstoff Acetylcholin statt. / Foto: Getty Images/Ed Reschke
Mit Rozanolixizumab (Rystiggo® 140 mg/ml Injektionslösung, UCB Pharma) steht nun ein weiterer Arzneistoff zur Verfügung, der auf den FcRn abzielt. Im Unterschied zu Efgartigimod alfa ist Rozanolixizumab kein IgG-Fragment, sondern ein humanisierter monoklonaler IgG4-Antikörper. Ein weiterer Unterschied ist das zugelassene Anwendungsgebiet: Dieses erstreckt sich bei Efgartigimod alfa lediglich auf Patienten mit Anti-AChR-Antikörpern, bei Rozanolixizumab zusätzlich auch auf solche mit Anti-MuSK-Antikörpern. Beide Präparate sind als Zusatztherapie für Patienten mit gMG vorgesehen.
Rozanolixizumab wird körpergewichtsabhängig gemäß einer Tabelle in der Fachinformation dosiert und in Zyklen gegeben. Ein Zyklus besteht aus einer Dosis pro Woche über einen Zeitraum von sechs Wochen. Wie lange nach einem Zyklus pausiert werden kann, ist patientenindividuell unterschiedlich. In den klinischen Studien hatten die meisten Patienten 4 bis 13 Wochen Pause zwischen den Zyklen. Das Medikament wird als subkutane Infusion über eine Pumpe verabreicht, kann also nicht in Eigenregie zu Hause angewendet werden.
Der Antikörper senkt die Spiegel aller IgG und erhöht so auch das Infektionsrisiko. Liegt eine klinisch bedeutsame aktive Infektion vor, soll die Behandlung mit Rozanolixizumab nicht begonnen beziehungsweise unterbrochen werden, bis die Infektion abgeklungen ist oder angemessen behandelt wird.
Impflücken des Patienten sollen vor Beginn der Behandlung geschlossen werden. Unter der Therapie sollen keine (attenuierten) Lebendimpfstoffe gegeben werden. Andere Impfstoffe können gegeben werden, wenn ein Abstand von mindestens zwei Wochen nach der letzten Infusion eines Behandlungszyklus und vier Wochen vor Beginn des nächsten Zyklus eingehalten wird.
Eine Anwendung von Rozanolixizumab in der Schwangerschaft sollte nur in Betracht gezogen werden, wenn der klinische Nutzen die Risiken überwiegt. Wurde eine Frau während der Schwangerschaft mit Rozanolixizumab behandelt, ist beim Neugeborenen mit einer Verringerung des Nestschutzes zu rechnen. In der Stillzeit könnte die Anwendung von Rozanolixizumab ebenfalls erwogen werden, wenn der klinische Nutzen die Risiken überwiegt, allerdings nicht in den ersten Tagen nach der Geburt: In dieser Zeit geht maternales IgG in die Muttermilch über, sodass während dieses Zeitraums ein Risiko für gestillte Säuglinge nicht ausgeschlossen werden kann.
Ausschlaggebend für die Zulassung waren die Ergebnisse der Phase-III-Studie MG0003, an der 200 Patienten mit gMG und Autoantikörpern gegen AChR oder MuSK teilnahmen. Sie erhielten zusätzlich zu ihrer bereits bestehenden Medikation, auf die sie stabil eingestellt waren, über einen Zeitraum von sechs Wochen einmal wöchentlich entweder Rozanolixizumab in gewichtsadaptierter Dosierung oder Placebo. Danach folgte ein Beobachtungszeitraum von acht Wochen.
Der primäre Endpunkt der Studie war die Veränderung auf dem MG-ADL-Score (Activities of Daily Living) von Baseline bis Tag 43. Der MG-ADL-Score umfasst acht Kategorien, in denen jeweils 0 Punkte (keine Beeinträchtigung) bis 3 Punkte (starke Beeinträchtigung) vergeben werden, sodass ein maximaler Punktwert von 24 möglich ist. Als Ansprechen war eine Verbesserung des Patienten um mindestens 2,0 Punkte definiert.
Die 66 Patienten, die mit Rozanolixizumab in der nun zugelassenen Dosierung behandelt wurden, verbesserten sich um durchschnittlich 3,370 Punkte, die 67 Patienten der Placebogruppe dagegen nur um 0,784 Punkte. Der Unterschied von 2,586 Punkten war statistisch signifikant. Insgesamt erfüllten 71,9 Prozent der Patienten in der Rozanolixizumab-Gruppe das MG-ADL-Responder-Kriterium versus 31,3 Prozent der Placebogruppe. Auch auf anderen Scores, die als sekundäre Endpunkte ermittelt wurden, waren die Verbesserungen statistisch signifikant.
Die häufigsten Nebenwirkungen von Rozanolixizumab in Studien waren Kopfschmerzen (48 Prozent der Behandelten), Durchfall (25 Prozent) und Fieber (13 Prozent).
Rystiggo ist im Kühlschrank bei 2 bis 8 °C und im Umkarton zu lagern.
Fester Bestandteil der Therapie bei Myasthenia gravis ist Physiotherapie zur Kräftigung der Muskulatur. / Foto: Adobe Stock/Racle Fotodesign
Der zweite neue Arzneistoff ist das makrozyklische, aus 15 Aminosäuren bestehende Peptid Zilucoplan (Zilbrysq® 16,6/23/32,4 mg Injektionslösung in einer Fertigspritze, UCB Pharma). Der zu den Komplementinhibitoren zählende Wirkstoff ist als Zusatztherapie zur Standardbehandlung der gMG bei erwachsenen Patienten, die Anti-AChR-Antikörper-positiv sind, zugelassen.
Autoantikörper setzen bei gMG den klassischen Komplementweg des Immunsystems in Gang, was schließlich zur Störung der synaptischen Übertragung führt. Der Wirkmechanismus von Zilucoplan ähnelt jenem von Eculizumab und Ravulizumab. Aber es gibt auch gewisse Unterschiede.
So bindet der Neuling ebenfalls an das Komplementprotein C5, allerdings an einer anderen Stelle als die Antikörper. Die Bindung an C5 verhindert dessen Spaltung durch die C5-Konvertase zu C5a und C5b, was zur Herunterregulierung des Zusammenbaus und der zytolytischen Aktivität des Membranangriffskomplexes führt. Zilucoplan hat noch eine zweite Wirkkomponente. Die Substanz hindert – sollte es doch gebildet werden – durch die Bindung an das C5b-Fragment sterisch dessen Bindung an C6, was nachfolgende Schritte in der Komplementkaskade blockiert.
Wichtige Säule für die Zulassung sind die Ergebnisse der zwölfwöchigen randomisierten Doppelblindstudie RAISE. In diese wurden insgesamt 174 Patienten mit Anti-AChR-Antikörper-positiver gMG eingeschlossen. Die Patienten wurden zusätzlich zu ihrer Standardtherapie einmal täglich entweder mit Zilucoplan in körpergewichtsabhängiger Dosierung oder mit Placebo behandelt. Der primäre Endpunkt war die Veränderung des MG-ADL-Scores bis Woche 12.
Zu Studienbeginn lag der Wert in der Zilucoplan-Gruppe bei durchschnittlich 10,3 und in der Placebogruppe bei 10,9. In Woche 12 wurde eine klinisch bedeutsame und statistisch hochsignifikante Verbesserung des MG-ADL-Gesamtscores für Zilucoplan gegenüber Placebo beobachtet (–4,39 Punkte versus –2,30 Punkte).
Während Eculizumab und Ravulizumab infundiert werden müssen, kann Zilucoplan einmal täglich subkutan verabreicht werden. Nach entsprechender Schulung können die Patienten das Spritzen in den Oberschenkel, Bauch oder die Rückseite des Oberarms selbst vornehmen. Die Injektionsstellen sollten rotieren und die Patienten sollten nicht in Bereiche spritzen, in denen die Haut empfindlich, erythematös, blutunterlaufen oder verhärtet ist oder in denen die Haut Narben oder Dehnungsstreifen aufweist. Die empfohlene Dosis richtet sich nach dem Körpergewicht (KG) des Patienten (< 56 kg KG: 16,6 mg; ≥ 56 bis < 77 kg KG: 23 mg und ≥ 77 kg KG: 32,4 mg).
Bei Patienten mit Nierenfunktionsstörung ist keine Dosisanpassung erforderlich, bei leichter und mittelschwerer Leberfunktionsstörung ebenfalls nicht. Da Sicherheit und Wirksamkeit des neuen Medikaments bei schwerer Leberfunktionsstörung nicht erwiesen sind, kann für diesen Fall keine Dosisempfehlung gegeben werden.
Kontraindiziert ist Zilucoplan bei Patienten, die derzeit nicht gegen Neisseria meningitidis (Meningokokken) geimpft sind oder bei denen eine nicht abgeklungene Infektion mit diesem Erreger vorliegt. Während der Behandlung sollten die Patienten auf Anzeichen und Symptome einer Meningokokken-Infektion überwacht werden. Zusätzlich zu Neisseria meningitidis können die Patienten auch anfällig für Infektionen mit anderen Neisseria-Arten sein, etwa Gonokokken. Sie sollten deshalb über die Bedeutung der Vorbeugung und Behandlung von Gonorrhö informiert werden.
Sehr häufige Nebenwirkungen des neuen Medikaments sind Reaktionen an der Injektionsstelle und Infektionen der oberen Atemwege. Häufig traten Durchfall, erhöhte Pankreasenzyme wie Lipase und Amylase sowie die sogenannte Morphea auf, eine entzündliche Erkrankung, bei der sich einzelne Hautbereiche verhärten.
Die Behandlung von Schwangeren mit Zilbrysq sollten Ärzte nur in Betracht ziehen, wenn der klinische Nutzen die Risiken überwiegt. Bei Stillenden ist zu entscheiden, ob auf das Stillen oder die Behandlung mit Zilucoplan verzichtet wird.
Zilbrysq ist im Kühlschrank 2 bis 8 °C zu lagern. Patienten können die Fertigspritze bei Raumtemperatur im Originalumkarton bei bis zu 30 °C für einen einmaligen Zeitraum von maximal drei Monaten aufbewahren.
Beide neuen Arzneistoffe bei Myasthenia gravis sind vorläufig als Schrittinnovation zu betrachten. Bei Rozanolixizumab ist es nicht das Wirkprinzip, das zu dieser Einstufung führt. Denn der Wirkstoff ist nach Efgartigimod alfa schon der zweite, der auf FcRn abzielt. Allerdings weist Rozanolixizumab ein breiteres Anwendungsgebiet auf, weil er auch bei Patienten mit Anti-MuSK-Antikörpern zum Einsatz kommen darf. Für diese bringt die Markteinführung von Rystiggo einen Therapiefortschritt und daher ist die Einstufung bei den Schrittinnovationen auch gerechtfertigt. Besonders positiv ist in diesem Zusammenhang, dass Patienten mit Anti-MuSK-Antikörpern sogar noch etwas besser auf Rozanolixizumab ansprechen als Anti-AChR-positive Patienten. Bislang ist Rozanolixizumab nicht für die regelmäßige Gabe zugelassen. Abhängig von weiteren Studienergebnissen wird man aber vielleicht eines Tages von der Therapie in Zyklen zu einer regelmäßigen Gabe übergehen können.
Zukunftsmusik ist zurzeit auch noch die Kombination aus FcRn-Blockade und einem Komplementinhibitor. Pathophysiologisch wäre das sinnvoll, auch wenn man dabei immer die Sicherheit besonders im Blick behalten sollte. Es wäre interessant zu wissen, ob Patienten mit hochaktiver Erkrankung von einer solchen Kombination weiter profitieren. In der Praxis stellt sich die Frage danach derzeit schon aufgrund des Preises der Medikamente ohnehin nicht. Das heißt, Ärzte werden sich bei geeigneten Patienten entweder für einen FcRn-Blocker oder einen Komplementinhibitor entscheiden.
In die letztgenannte Klasse ist der zweite Neuling Zilucoplan einzuordnen, der ebenfalls eine Schrittinnovation darstellt. Das Wirkprinzip weist zwar Ähnlichkeiten mit jenem von Eculizumab und Ravulizumab auf, der Neuling bindet aber an einer anderen Stelle am Komplementprotein C5. Hinzu kommt, dass Zilucoplan subkutan appliziert wird und nicht infundiert werden muss. Zudem weist es anders als die Antikörper eine weitere Wirkkomponente, eine Art zweite »Reißleine«, auf. Sollte das C5b-Fragment gebildet werden, so verhindert Zilucoplan dessen Bindung an C6, was nachfolgende Schritte in der Komplementkaskade blockiert.
Da es bisher keinen direkten Vergleich mit den Antikörpern gibt, lässt sich die Frage, ob Zilucoplan vielleicht sogar wirksamer ist, derzeit nicht beantworten. Derartige Untersuchungen wären wünschenswert, auch hinsichtlich der Verträglichkeit. Denn möglicherweise sind die Antikörper, weil sie größer sind, auch immunogener als das vergleichsweise kleine Molekül Zilucoplan.
Sven Siebenand, Chefredakteur