Wie Narkotika wirken |
Ob stationär oder ambulant: Die meisten Operationen wären ohne Anästhetika nicht denkbar. / Foto: Adobe Stock/Robert Kneschke
Die Zahl der stationären operativen Eingriffe steigt stetig; im Jahr 2019 waren es 17,2 Millionen. Operationen sind die häufigste Maßnahme in deutschen Krankenhäusern. Hinzu kommen ambulante Eingriffe, sowohl in Krankenhäusern als auch in ambulanten Versorgungszentren. Deren Zahl liegt zwar weit unterhalb der stationären Eingriffe, verdeutlicht aber, dass Operationen dank sicherer und nebenwirkungsarmer Narkosen auch außerhalb der Vollversorgung möglich sind.
Als man in den 1850er-Jahren die ersten Versuche mit inhalativen Narkotika wie Lachgas, Äther und Chloroform unternahm, revolutionierte das die damalige Medizin. Aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Wandel so weit fortgeschritten, dass Operationen unter Narkose zur Routine in stationären und nicht stationären Einrichtungen wurden. Dies gelang mit neuen Substanzen, aber vor allem auch durch die Möglichkeit, diese Substanzen zielgerichteter zu applizieren und den Patienten dabei optimal zu überwachen.
Trotz des immensen weltweiten Einsatzes ist bis heute nicht abschließend geklärt, wie die bewusstseinsausschaltende Wirkung der Narkotika auf zellulärer Ebene genau funktioniert. Sicher ist, dass die verschiedenen Hirnareale im Normalfall miteinander in Kontakt stehen und über die Aktivität von neuronalen Impulsen kommunizieren. Dieser Kommunikationsweg wird bei einer Vollnarkose durch Hemmung der neuronalen Aktivität in allen Bereichen des zentralen Nervensystems (ZNS) unterbunden. Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem hemmenden GABA-Rezeptor zu, an dem zahlreiche Sedativa und Narkotika angreifen.
Verschiedene Effekte sollen bei einer Anästhesie (vom Griechischen: ohne Empfindung) erzielt werden: Sedierung, Bewusstseinsverlust (Hypnose), Immobilisierung, Analgesie und Amnesie. Eine Narkose verbindet immer Analgesie und Hypnose. Eine vollständige Hemmung der Muskeltätigkeit (Muskelrelaxation) ist nicht grundsätzlich notwendig. Falls doch, muss sie mit einer künstlichen Beatmung kombiniert werden.
Grundsätzlich bezeichnet man mit dem Begriff Anästhesie (umgangssprachlich: Narkose) die Ausschaltung des Bewusstseins. Während einer Anästhesie ist der Organismus nicht mehr in der Lage, auf äußere Reize zu reagieren. Betrifft die Ausschaltung das ZNS und das Bewusstsein, liegt eine Allgemeinanästhesie beziehungsweise Vollnarkose vor. Wird der Berührungs-, Tast-, Temperatur- und Schmerzsinn nur in bestimmten Körperregionen ausgeschaltet, spricht man von einer Regionalanästhesie. Beide Formen dürfen nur von einem Anästhesisten (Facharzt für Anästhesie) vorgenommen werden.
Bei der Regionalanästhesie unterscheidet man verschiedene Varianten. Die Spinalanästhesie betrifft beispielsweise die Nerven im Rückenmark. Bei der peripheren Regionalanästhesie (Plexusanästhesie) können einzelne Nerven, die in Schulter, Arm oder Unterschenkel führen, betäubt werden, um Eingriffe dort ohne Vollnarkose ausführen zu können.
Bei der Lokalanästhesie erfolgt ebenfalls eine örtliche Betäubung, aber nur oberflächlich lokal begrenzt, und der Patient ist bei vollem Bewusstsein. Diese Maßnahme kann auch ein Arzt einer anderen Fachrichtung als der Anästhesie ausführen.
Bei einer Narkose durchlebt der Patient verschiedene Stadien, die zwar voneinander getrennt definiert werden, in der Praxis aber fließend ineinander übergehen.
Beginnend mit der Anxiolyse als Vorstufe zur Sedierung (Schlafermöglichung) folgt die Hypnose (Schlaferzwingung) und letztendlich die eigentliche Vollnarkose mit völligem Bewusstseinsverlust und Analgesie. Dabei gleicht die Narkose keinem physiologischen Schlaf, sondern eher einem komatösen Zustand, in dem Reize von außen zwar aufgenommen, aber nicht verarbeitet werden können. Trotz Analgesie können beispielsweise schmerzbedingte Kreislaufreaktionen ausgelöst werden.
Eine Amnesie begleitet jede Narkose und häufig schon die Sedierung. Dabei bleibt die Wahrnehmung auch für einige Zeit nach der Narkose blockiert; man spricht von anterograder Amnesie. Retrograde Amnesie bezeichnet den Verlust der Erinnerung unmittelbar vor der Einleitung.
Narkosen lassen sich durch chemisch sehr unterschiedliche Molekülgruppen auslösen. Gemeinsam haben alle, dass sie stark lipophil sind, was eine Voraussetzung für ihre Diffusion ins ZNS ist. Alle Anästhetika wirken dosis- und konzentrationsabhängig, da unterschiedliche Zellverbände im Gehirn unterschiedlich sensibel auf die Stoffe ansprechen. Außerdem haben sie zum großen Teil eine sehr kurze Halbwertszeit im Bereich von wenigen Minuten, um die Narkose adäquat zeitlich steuern zu können. Die Tabelle gibt einen Überblick über die gebräuchlichen Anästhetika mit ihren Wirkkomponenten.
Substanzen | narkotisch | hypnotisch | sedierend | amnestisch | analgetisch |
---|---|---|---|---|---|
volatile Substanzen:Isofluran, Sevofluran, Desfluran | ++ | ++ | ++ | ++ | ++ |
Barbiturate:Thiopental, Methohexital | + | ++ | ++ | ++ | + |
Propofol, Etomidat | – | ++ | ++ | ++ | – |
Benzodiazepine:Midazolam, Flunitrazepam,Remimazolam* | – | ++ | ++ | ++ | – |
Ketamin | + | + | + | + | ++ |
Opioide:Fentanyl, Sufentanil, Alfentanil, Remifentanil | – | + | + | – | ++ |
++ volle Wirksamkeit; + geringere Wirksamkeit; – keine Wirksamkeit
*) EMA-Zulassung, in Deutschland aktuell kein Vertrieb
Bei den volatilen Anästhetika handelt es sich um halogenierte Kohlenwasserstoffe, die sich vom Diethylether ableiten. Isofluran, Sevofluran und Desfluran werden in Deutschland verwendet. Eine Besonderheit ist ihre Applikation in Dampfform, da ihr Siedepunkt knapp oberhalb der Raumtemperatur liegt. Inhalationsanästhetika wirken nicht ausschließlich auf die Zellen des ZNS, sondern grundsätzlich auf alle Körperzellen. Allerdings reagieren die Gehirnzellen wesentlich sensibler, sodass eine engmaschige Überwachung und penible Dosierung eine Wirkung auf andere Zellsysteme verhindern.
Inhalationsnarkotika decken das gesamte Spektrum der Narkose ab und können somit auch als Monosubstanzen eingesetzt werden. In der Praxis werden sie aber meist kombiniert, zum Beispiel mit Opioiden, da dann weniger Substanz notwendig ist, was die Verträglichkeit verbessert.
Inhalative Anästhetika wirken wahrscheinlich unspezifisch in der Zellmembran, in die sie sich durch ihre lipophile Struktur einlagern können. Damit werden Kommunikationswege zwischen den Zellen unterbunden. Es liegen aber auch spezifische Wirkungen am GABAA-Rezeptor im Hirnstamm und im Cortex vor.
Eine Besonderheit ist die Applikation direkt in die Lunge. Dafür wird dem Patienten ein Gemisch aus Sauerstoff und Gas in veränderlicher Zusammensetzung über eine Atemmaske oder einen endotrachealen Tubus zugeführt. Nach der Aufnahme über die Lungenbläschen gelangen die hoch lipophilen Substanzen sehr rasch über den Blutstrom an ihren Wirkort, das Gehirn.
Bei den intravenös zu applizierenden Substanzen handelt es sich um eine chemisch heterogene Wirkstoffgruppe. Zu den intravenösen Hypnotika werden die Barbiturate, Propofol, Etomidat und die Benzodiazepine gezählt. Sie werden auch als Sedativhypnotika bezeichnet, da ihnen im Gegensatz zu den »echten« Anästhetika die analgetische Komponente fehlt. Sie führen dosisabhängig zur Sedierung und Hypnose. Kombiniert werden sie mit hochwirksamen, synthetisch hergestellten Opioiden. Dies ist kein Nachteil für eine Anästhesie, da die einzelnen Komponenten im Gegensatz zu den Vollanästhetika separat gesteuert werden können.
Barbiturate entfalten ihre Wirksamkeit am GABAA-Rezeptor. Auch die volatilen Anästhetika sowie Propofol, Etomidat und Benzodiazepine wirken an diesem Rezeptor. Ketamin dagegen bindet am NMDA-Rezeptor und nimmt eine Sonderrolle unter den intravenösen Substanzen ein. Es wirkt zwar gut analgetisch und sedierend bei Erhaltung der Schutzreflexe; jedoch ist sein Einsatz limitiert, da es ein psychedelisches Nebenwirkungsprofil hat.
Bei den Barbituraten sind Methohexital und Thiopental im Einsatz. Sie wirken als Agonisten am GABAA-Rezeptor. Im Gegensatz zu den Benzodiazepinen, die reine indirekte Agonisten sind und nur in Gegenwart von GABA sedativ wirken, haben die Barbiturate in höherer Dosierung auch einen direkten agonistischen Effekt am Rezeptor, der ohne Anwesenheit von GABA funktioniert und zur Hypnose führt.
Propofol und Etomidat sind partielle indirekte Agonisten am GABA-Rezeptorkomplex, deren Bindung eine geringere Wirkung auslöst als Benzodiazepine und Barbiturate. Propofol liegt zur Infusion als stabile milchige Öl-in-Wasser-Emulsion mit Sojatriglyceriden vor. Damit es nicht zu Inkompatibilitäten kommt, darf diese Lösung nicht mit anderen Infusionslösungen, auch nicht mit Elektrolyten, gemischt oder gemeinsam infundiert werden.
Von den Benzodiazepinen wird in der Anästhesie vor allem Midazolam verwendet, da seine vergleichsweise kurze Halbwertszeit eine gute Steuerbarkeit der Narkose zulässt. Zudem lässt sich Midazolam als schwache Base mit HCl in eine stabile Infusionslösung überführen. Die starke Lipidlöslichkeit und die fehlende Ionisierung der anderen Benzodiazepine führen dazu, dass sie ohne Lösungsvermittler nicht intravenös appliziert werden können. Lösungsvermittler haben aber zum Teil eine schlechte Gewebe- und Venenverträglichkeit und kommen deshalb in der modernen Anästhesie nicht mehr zum Einsatz.
Die synthetischen Opioide Fentanyl, Sufentanil, Remifentanil und Alfentanil werden immer mit anderen Narkotika kombiniert. Sie finden als Monotherapie keine Anwendung in der Anästhesie, da sie das Bewusstsein nicht sicher ausschalten. Sie binden bekanntermaßen an den µ-Rezeptor. Ihre analgetische Wirkkomponente, die um das 30- bis 1000-Fache stärker ist als bei Morphin, steht bei ihrem Einsatz immer im Vordergrund.
Beim Einsatz von Muskelrelaxanzien müssen die Patienten künstlich beatmet werden, da auch die Atemmuskulatur gelähmt wird. / Foto: Adobe Stock/Kiryl Lis
In der Regel werden die intravenösen Substanzen zur Einleitung der Narkose und ein Gemisch aus Sauerstoff und Inhalationsnarkotika zu deren Erhalt verwendet. Reine intravenöse Anästhesien sind ebenfalls möglich. Ausschließlich volatile Substanzen kommen vor allem bei Kindern zum Einsatz, da ihnen der Stich in die Vene erspart werden soll. Verschiedene orale Benzodiazepine werden in der Prämedikation, teilweise bereits am Vorabend der Operation, zur Anxiolyse eingesetzt.
Fast alle in der Tabelle genannten Substanzen waren innerhalb der letzten fünf Jahre von einem oder mehreren Lieferengpässen betroffen. Besonders zu Beginn der Coronapandemie wurden Wirkstoffe, die für eine intensivmedizinische Versorgung beatmeter Patienten notwendig waren, in unerwartetem Ausmaß benötigt. In der Folge kam es zu Lieferunterbrechungen vor allem der intravenösen Anästhetika. In Deutschland konnte die Versorgung mit fast allen Substanzen über die Pandemie hinweg aufrechterhalten werden. In den europäischen Nachbarländern waren Wirkstoffe wie Midazolam und Proprofol allerdings vorübergehend in den Krankenhäusern nicht mehr verfügbar.
Der Einsatz von Muskelrelaxanzien war neben den Inhalationsnarkotika ein Durchbruch für die moderne Chirurgie. Diese Stoffe gehen auf die Ursprungssubstanz Curare zurück und erzeugen eine reversible schlaffe Lähmung der Skelettmuskulatur, allerdings ohne Auswirkung auf Wachheit und Bewusstsein. Sie müssen deshalb immer in Kombination eingesetzt werden.
Da die muskelrelaxierende Wirkung von Narkotika erst bei sehr hohen Dosen eintritt, kann der Anästhesist weniger tiefe Narkosen ansetzen, wenn Muskelrelaxanzien eingesetzt werden. Diese dienen der Ruhigstellung des Operationsgebiets, der Erleichterung der endotrachealen Intubation und damit einer besseren intraoperativen Kontrolle der Atemwege. Aufgrund der Erschlaffung der Atemmuskulatur ist eine maschinelle Beatmung notwendig.
Muskelrelaxanzien werden in depolarisierende und nicht-depolarisierende Substanzen unterteilt, wobei die zweitgenannten ein günstigeres Nebenwirkungsprofil aufweisen und klinisch häufiger verwendet werden. Zu ihnen gehören Atracurium, cis-Atracurium, Mivacurium, Vecuronium, Rocuronium und Pancuronium. Succinylcholin ist die einzige Substanz in der Gruppe der depolarisierenden Relaxanzien.
Alle konkurrieren mit Acetylcholin um die Bindungsstelle an der motorischen Endplatte von nikotinergen Rezeptoren. Dabei unterbrechen sie die synaptische Übertragung von Nervenimpulsen. Beim Succinylcholin handelt es sich um einen nicht-kompetitiven Agonisten, dessen Wirkung nicht antagonisierbar ist. Die anderen Substanzen aus der Gruppe der nicht-depolarisierenden Relaxanzien wirken als kompetitive Agonisten, die durch Antagonisierung vom Rezeptor getrennt werden können. Ihre Wirkung ist damit aufhebbar.
Zur Antagonisierung können Cholinesterase-Inhibitoren verwendet werden; hier ist vor allem Neostigmin in Gebrauch. Die Cholinesterase-Inhibitoren verhindern den Abbau von Acetylcholin im synaptischen Spalt und sorgen dafür, dass Acetylcholin die nicht-depolarisierenden Substanzen vom nikotinergen Rezeptor verdrängt.
Lokalanästhetika lassen sich nach ihrer Struktur in Ester oder Amide oder nach ihrer Wirkdauer in kurz wirksame (1 h) wie Procain, mittellang wirksame (1 bis 3 h) wie Lidocain, Prilocain oder Mepivacain und lang wirksame (mehr als 3 h) wie Bupivacain oder Ropivacain unterteilen. Sie werden in Regionalanästhesie-Verfahren eingesetzt.
Bei vielen Eingriffen, zum Beispiel beim Zahnarzt, reicht eine örtliche Betäubung aus. Sie wirkt lokal begrenzt und der Patient ist bei vollem Bewusstsein. / Foto: Adobe Stock/Svitlana
Lokalanästhetika blockieren die Erregungsweiterleitung über Nervenzellen durch die Blockade von Natrium- und Kaliumkanälen. Dabei können sie lokal begrenzte Effekte erzielen. Sie können in periphere oder zentrale Nervenbahnen appliziert werden. Ziel ist der sensorische Ausfall verschiedener Körperbereiche, um Schmerzfreiheit bei operativen Eingriffen zu erzielen. Neben der Sensorik geht auch das Temperaturempfinden verloren.
Bekannte Beispiele sind die Lokalanästhesie beim Zahnarzt oder die Regionalanästhesie bei Entbindungen. Selbst komplexe und große Eingriffe können teilweise in Regionalanästhesie ausgeführt werden. Dabei ist das Ziel, die Risiken der Vollnarkose vor allem bei älteren multimorbiden Patienten zu minimieren.
Auch wenn Narkosen in der Regel ohne relevante Nebenwirkungen verlaufen, treten nach dem Aufwachen häufig Übelkeit, Schwindel, Zittern und Halsschmerzen auf. Auch Zahnschäden kommen bei 3 von 1000 Vollnarkosen vor. Bei lokalen Verfahren sind diese Nebenwirkungen zwar seltener, aber nicht ganz auszuschließen.
Primär hängt die Wahrscheinlichkeit für Nebenwirkungen einer Narkose von den Vorerkrankungen der Patienten ab. Wie bei vielen Arzneimittelanwendungen und medizinischen Eingriffen steigt mit dem Lebensalter die Rate an Komplikationen. Gerade bei geriatrischen Patienten kommt es nach einem operativen Eingriff häufig zum postoperativen Delir, ein in der Regel passagerer Verlust von Orientierung und gedanklicher Sortierung. Dieser Zustand beeinflusst die Prognose der Patienten jedoch erheblich, da beispielsweise das Sturz- und das Infektionsrisiko zunehmen, was die Mortalität erhöhen kann.
Weniger durch die Narkose an sich als durch den operativen Eingriff leiden viele Patienten in der postoperativen Phase an starken Schmerzen. Diese werden präventiv mit Analgetika behandelt. Zwar werden auch Analgetika der WHO Stufe 1 verwendet, jedoch sind nach großen Gelenk- oder abdominellen Eingriffen für einige Tage patientengesteuerte Schmerzpumpen mit Opioiden notwendig, um eine adäquate Schmerzkontrolle zu erreichen.
Apotheker spielen eine wichtige Rolle im perioperativen Arzneimittelmanagement; dies beginnt bei der Aufnahmeanamnese vor elektiven Eingriffen (Fallbeispiel). Direkt am Aufnahmetag auf Station oder beim Termin zur prästationären Untersuchung (Covid-Abstrich, MRSA-Test, Aufnahmelabor) können sie gemeinsam mit den Patienten die Hausmedikation erfassen. Beim pharmazeutischen Aufnahmegespräch geht es darum zu klären, mit welcher Dauermedikation der Patient stationär aufgenommen wird.
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Bei dem 68-jährigen Herrn P. wurde aufgrund langjähriger Schmerzen bei Hüftgelenksarthrose die Indikation für einen Hüftgelenksersatz gestellt. Eine ebenfalls lang bestehende, aber gut eingestellte rheumatoide Arthritis sowie eine Hypertonie gehören zu seinen Grunderkrankungen. Vier Tage vor dem geplanten Eingriff ist er zur Vorbesprechung angemeldet und soll seinen Medikationsplan mitbringen.
Beim Termin in der Prämedikationssprechstunde erfolgen eine Routineblutabnahme, ein MRSA-Nasenabstrich sowie ein Covid-Abstrich. Außerdem hat Herr P. ein Aufnahmegespräch mit einer Apothekerin sowie mit der Anästhesistin und einem Chirurgen. Da sein Hausarzt einen bundeseinheitlichen Medikationsplan erstellt hat, kann die Apothekerin diesen per QR-Code-Scan in die elektronische Verordnung überführen. Sie erfragt weitere im Plan nicht erfasste OTC-Medikamente und ergänzt den Applikationstag von Etanercept, da die Medikation mit »alle sieben Tage« angegeben ist. Zusätzlich zum TNFα-Blocker Etanercept bekommt Herr P. niedrig dosiertes Prednisolon 4 mg/Tag und Ramipril 5 mg einmal täglich. Am Morgen des Vorgesprächs hat er Etanercept gespritzt. Aus der aktuellen Medikation des Patienten ergeben sich keine relevanten Wechselwirkungen; ein Abgleich mit der aktuellen Nierenfunktion zeigt keinen Handlungsbedarf.
Beim Gespräch mit dem Anästhesisten ergibt sich jedoch eine Unsicherheit bezüglich einer möglichen Pausierung der antirheumatischen Medikation. Die Apothekerin hat aber bereits hinterlegt, dass das niedrig dosierte Glucocorticoid und auch Etanercept weitergeführt werden können. Obwohl Rheumapatienten ein erhöhtes postoperatives Infektionsrisiko haben, ist gemäß den aktuellen Empfehlungen der Fachgesellschaften eine Pause bei gut eingestellter Grunderkrankung und niedrig dosiertem Glucocorticoid nicht grundsätzlich notwendig. Da der Eingriff einige Tage nach Verabreichung der wöchentlichen Etanercept-Dosis erfolgt, ist der empfohlene Abstand zur Operation von einer Halbwertszeit (etwa 70 h) gegeben. Am nächsten geplanten Applikationstag nach der OP kann die Therapie bei unauffälligen Wundverhältnissen weitergeführt werden, damit kein Risiko für einen Rheumaschub entsteht.
Da das perioperative Pausieren von Antirheumatika eine individuelle Nutzen-Risiko-Bewertung erfordert, hat sich die Apothekerin zusätzlich beim behandelnden Rheumatologen zum vorgeschlagenen Prozedere rückversichert. Ihr schriftlicher Vermerk zum perioperativen Umgang mit der Medikation ist in der elektronischen Patientenakte hinterlegt und für alle Beteiligten einsehbar.
Da Apotheker einen wesentlich engeren Bezug zu Arzneimitteln haben als Pflegekräfte, die in der Regel sonst die Medikation der Patienten erfragen und hinterlegen, können bereits an dieser Stelle Unklarheiten in der bestehenden Arzneimitteltherapie beseitigt werden. Das Spektrum reicht von der Korrektur von Schreibfehlern in Präparatenamen bis hin zum Erfragen der kompletten Medikation, zum Beispiel über den Hausarzt. Aktuelle, gut leserliche, optimalerweise nach den Angaben des bundeseinheitlichen Medikationsplans erstellte Medikationspläne erleichtern die Arbeit. Im Gespräch sollen zudem freiverkäufliche Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel berücksichtigt werden, die häufig nicht im Medikationsplan des Arztes stehen.
Unerlässlich vor jeder Narkose: Aufklärungsgespräch und dessen Dokumentation / Foto: Adobe Stock/Wissmann Design
Die Medikation kann, falls vorhanden, in der elektronischen Patientenakte dokumentiert oder bei papiergestützten Dokumentationssystemen in Form von pharmazeutischen Konsilen erfasst werden.
Im nächsten Schritt können Apotheker eine Umstellung auf eine adäquate Klinikmedikation vorschlagen. Dabei lassen sich die Laboruntersuchungen direkt zur Kontrolle der Nierenfunktion und eventuell Anpassung der Arzneimitteltherapie heranziehen. Ein Interaktionscheck sowie Vorschläge zum perioperativen Umgang mit kritischen Wirkstoffen wie den direkten orale Antikoagulanzien runden die Arzneimittelanamnese ab. Findet diese vor dem Prämedikationsgespräch mit dem Anästhesisten statt, hat dieser die komplette Medikation bereits in korrekter Form vorliegen.
Optimalerweise begleiten Apotheker die Arzneimitteltherapie der Patienten weiter und sind im Entlassprozess ebenfalls eingebunden. Immer mehr Kliniken schätzen diese pharmazeutische Dienstleistung und stellen dafür Personal zur Verfügung.
Auch im Krankenhaus spielen Überlegungen zur Nachhaltigkeit und zu ressourcenschonenden Kreisläufen mittlerweile eine Rolle. Der Anästhesie fällt dabei eine Schlüsselposition zu. Der Gesundheitssektor ist für circa 6 Prozent des deutschen Treibhausgas-Ausstoßes verantwortlich. Allein die Verwendung von Narkosegasen verursacht 2 Prozent dieses CO2-Fußabdrucks. Dies liegt am hohen sogenannten Global Warming Potential (GWP) der flourierten Kohlenwasserstoffe (Sevofluran, Desfluran) beziehungsweise Flourchlorkohlenwasserstoffe (Isofluran).
Die in der Anästhesie eingesetzten Fluor- sowie Fluorchlorkohlenwasserstoffe tragen erheblich zum CO2-Fußabdruck des Gesundheitswesens bei. / Foto: Adobe Stock/Parradee
Unbestritten ist, dass die heutige Medizin auf Narkosegase nicht verzichten kann. Zwischen den Substanzen gibt es aber große Unterschiede im GWP. So liegt das GWP von Sevofluran im Vergleich zu CO2, dessen Bezugswert 1 ist, bei etwa 200, das von Isofluran bei etwa 500 und von Desfluran bei etwa 1600. Desfluran ist damit in der Atmosphäre 1600-fach klimawirksamer als CO2 und hat außerdem dort die längste Verweildauer der drei Substanzen. Mit einem Verzicht auf Desfluran zur Narkose ließe sich die CO2-Bilanz von Krankenhäusern sehr leicht optimieren. Dieses Vorgehen wird vom Arbeitskreis nachhaltige Anästhesie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin gefordert.
Die Verbesserung der Klimabilanz beim Einsatz von Narkosegasen hat keinen Nachteil für die Patienten, da Isofluran und Sevofluran weiterhin verwendet werden. Bereits in Erprobung sind außerdem Gas-Adsorber-Devices, die zusätzlich entweder direkt im Operationssaal oder in der Krankenhausabluftanlage angebracht werden. Sie binden die eingesetzten Gase, die im Anschluss im Sinn eines Recyclings aus dem Material desorbiert und wiederverwendet werden können. Gemeinsam mit dem Verzicht auf Desfluran könnte das bewirken, dass die Menge klimaschädlicher Narkosegase aus Krankenhausabluftanlagen weiter drastisch reduziert werden kann.
Anka Röhr studierte Pharmazie in Würzburg und ist seit Juni 2011 als Apothekerin im Klinikum Heidenheim tätig. Sie hat die Weiterbildung zur Fachapothekerin für Klinische Pharmazie, Bereichsweiterbildung Infektiologie, absolviert und wurde mit einer Arbeit zur Dosierung von Antiinfektiva bei Patienten mit Nierenersatzverfahren promoviert. Dr. Röhr ist Delegierte der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte in der Klinikapotheke sind Therapeutisches Drug Monitoring und Arzneimittelinformation.