Wenn Arzneimittel Nerven schädigen |
Die Haut spürt ihre Umgebung. Menschen mit peripherer Polyneuropathie haben oft Missempfindungen – oder spüren gar nichts mehr. / © Adobe Stock/contadora1999
Kaum ein anderes neurologisches Krankheitsbild ist so vielgestaltig wie die Polyneuropathie (PNP). Gelegentlich auch als »periphere Polyneuropathie« oder einfach nur »periphere Neuropathie« bezeichnet, umfasst sie zahlreiche Ätiologien, Verlaufsformen und Symptome. Eine Untergruppe sind die durch Arzneimittel induzierten Polyneuropathien, die durch ganz unterschiedliche Substanzklassen verursacht werden können.
Polyneuropathien sind grundsätzlich dadurch gekennzeichnet, dass im Gegensatz zur Mononeuropathie, bei der nur ein einzelner Nerv betroffen ist, mehrere Nerven an verschiedenen Stellen des Körpers gleichzeitig geschädigt sind. Periphere Nerven liegen außerhalb von Gehirn und Rückenmark. Es werden motorische, sensible und autonome Nerven unterschieden (1–3).
Eine Polyneuropathie kann sich sehr unterschiedlich äußern, je nachdem, welche Nervenfasern betroffen sind. Typische Beschwerden sind brennende oder stechende Schmerzen, Kribbeln, Taubheitsgefühle, Muskelschwäche und ein gestörtes Temperatur- und Schmerzempfinden. Diese Symptome erschweren alltägliche Tätigkeiten und erhöhen das Sturzrisiko. Oft sind die Beschwerden nachts besonders stark.
Da Verletzungen oder Verbrennungen durch die gestörte Wahrnehmung unbemerkt bleiben können, steigt das Infektionsrisiko, vor allem an schlecht durchbluteten Körperstellen wie Füßen und Unterschenkeln. Ist das autonome Nervensystem betroffen, können auch Verdauung, Kreislauf oder Blase aus dem Takt geraten.
Die vielfältigen und unspezifischen Symptome können an andere Erkrankungen wie Fibromyalgie oder Multiple Sklerose erinnern, sodass eine sorgfältige Differenzialdiagnose wichtig ist (1, 4).
Arzneimittel-induzierte Polyneuropathien (drug-induced polyneuropathy, DIPN) treten besonders häufig unter bestimmten Chemotherapeutika auf, können aber auch durch einige Antiinfektiva, kardiovaskuläre Medikamente oder Immunsuppressiva ausgelöst werden. Bei der Diagnose schließt der Arzt andere Ursachen für die Nervenschäden wie Diabetes, Alkoholkonsum, Mangel an bestimmten Vitaminen oder Immunerkrankungen aus. Zu bedenken ist, dass sich verschiedene Ursachen überlagern können – gerade bei multimorbiden Patienten.
Wie häufig die Nebenwirkung bei einzelnen Arzneistoffen auftritt, variiert. Einige Chemotherapeutika wie Cisplatin, Taxane oder Bortezomib sind zum Beispiel häufig mit neuro-pathischen Nebenwirkungen assoziiert, während andere Wirkstoffe wie Statine zwar selten neuropathische Beschwerden verursachen, aber deutlich häufiger verordnet werden (Tabelle 1).
Medikamentenklasse | Beispiele |
---|---|
Antiinfektiva | Chinolone, Chloroquin, Dapson, Ethambutol, Isoniazid, Linezolid, Metronidazol, Nitrofurantoin |
antivirale Therapie | Nukleosidanaloga |
Antirheumatika und Immunsuppressiva | Chloroquin, Ciclosporin, Tacrolimus, TNF-α-Inhibitoren |
zielgerichtete Krebstherapien | BRAF-/MEK-Inhibitoren, Immun-Checkpoint-Inhibitoren |
Chemotherapeutika | Bortezomib, Platin (Oxaliplatin, Cisplatin, Carboplatin), Taxane (Paclitaxel, Docetaxel), Vinca-Alkaloide (Vincristin, Vinblastin, Vinorelbin) |
kardiovaskuläre Medikamente | Amiodaron, Propafenon, Statine |
sonstige Wirkstoffe | Lithium, Phenytoin, Überdosierung von Pyridoxin (Vitamin B6), Thalidomid |
Umweltgifte | Acrylamid, Arsen, Blei, Diethylenglykol, Organophosphat-Verbindungen, Quecksilber, Schwefelkohlenstoff, Thallium |
Das Risiko für eine Polyneuropathie steigt bei Vorliegen zusätzlicher Risikofaktoren wie bestehender Polyneuropathie, Diabetes mellitus oder genetisch bedingter Prädisposition (3). Die Symptome treten in der Regel verzögert nach Wochen bis Monaten auf, da die Nebenwirkung dosisabhängig ist und eine Akkumulation der neurotoxisch wirkenden Arzneistoffe im Blut voraussetzt.
Die pathophysiologischen Mechanismen der DIPN sind vielfältig und noch nicht vollständig erforscht (3). Häufig werden die Mitochondrien geschädigt, die für die Energieversorgung der Neuronen wichtig sind. Einige Zytostatika wie Cisplatin und Paclitaxel sowie Antibiotika wie Linezolid greifen die mitochondriale DNA an oder beeinträchtigen die Atmungskette. Das führt zu einem Energiemangel in den Axonen und zur axonalen Degeneration.
Arzneistoffe können auch direkt oder über Metabolite die Bildung reaktiver Sauerstoffspezies fördern, die zelluläre Membranen, Proteine und DNA schädigen. Vincristin löst beispielsweise oxidativen Stress in peripheren Nerven aus, ebenso einige antiretrovirale Substanzen der älteren Generation.
Vinca-Alkaloide und Taxane wirken auf die Mikrotubuli, die für den axonalen Transport gebraucht werden und der Zelle Stabilität verleihen. Die Störung des Mikrotubuli-Netzwerks führt zu einem »Stau« von Organellen und Neurotransmittern. Eine axonale Degeneration, vor allem der sensiblen Nervenfasern, ist die Folge.
Andere Zytostatika wie Cisplatin verursachen DNA-Addukte, die zur Apoptose führen können. Auch Immunmodulatoren wie Thalidomid zeigen neurotoxische Wirkungen durch apoptotische Mechanismen.
Manche Arzneimittel lösen Immunreaktionen aus, die sich gegen Strukturen des peripheren Nervensystems richten. Zytostatika mit endotheltoxischen Eigenschaften können Mikroangiopathien verursachen, die die periphere Nervenversorgung stören.
Für die Behandlung einer arzneimittelinduzierten Polyneuropathie ist eine sorgfältige Diagnostik wichtig, um andere Ursachen für die Nervenschäden auszuschließen (2, 4) (Tabelle 2). Hier ist zum Beispiel an Diabetes mellitus zu denken, da Nervenschäden entstehen, wenn die Blutzuckerwerte langfristig schlecht eingestellt sind.
Subtyp der PNP | Beschreibung, Pathophysiologie | Klinisches Bild, Symptome | Interventionen |
---|---|---|---|
diabetisch | häufigste Form weltweitMikroangiopathie, gestörter Mitochondrienstoffwechsel | distal-symmetrische sensible PNP, Schmerzen, Parästhesien, selten motorisch, autonome Symptome | Lebensstil, optimale Diabeteseinstellung, Schmerztherapie, Fußpflege |
Alkohol-assoziiert | bis zu 66 Prozent der Personen mit chronischem Alkoholismustoxische Wirkung von Ethanol/Acetaldehyd, Mangelernährung (vor allem B-Vitamine), oxidativer Stress | sensible Ausfälle, Schmerzen, später Paresen, vegetative Symptome | Abstinenz, Ernährungstherapie, eventuell B-Vitamin-Substitution |
Chemotherapie-induziert | häufig zum Beispiel bei Oxaliplatin, Vincristin, Taxanen, BortezomibNeurotoxizität vermittelt durch verschiedene Mechanismen | Schmerzen, sensible Ausfälle, motorisch bei schweren Formen, Coasting-Phänomen | Dosisanpassung, Absetzen der Substanz, symptomatisch |
toxisch (nicht chemotherapeutisch) | Medikamente, zum Beispiel Isoniazid, Umweltgifte, zum Beispiel Schwermetalle | sensomotorische Ausfälle, meist distal, Schmerzen, vegetative Symptome | Exposition beenden, symptomatische Therapie |
Vitaminmangel-/Hypervitaminose-induziert | häufig bei Mangelernährung, Morbus Parkinson, B12-Mangel, B6-Überdosierung | Parästhesien, Ataxie, sensible Defizite | Substitution, Absetzen überdosierter Vitamine |
Guillain-Barré-Syndrom | akute Autoimmunreaktion, meist postinfektiös | akut aufsteigende Paresen, Areflexie, autonome Störungen, respiratorische Insuffizienz möglich | Immunglobuline, Plasmapherese, eventuell intensivmedizinische Behandlung |
Übermäßiger Alkoholkonsum ist als mögliche Ursache ebenfalls zu bedenken, da Alkohol direkt Nervengewebe schädigen kann. Durch häufigen Konsum können zudem Mangelzustände entstehen, die die Nervenfunktion beeinträchtigen und das Risiko weiter erhöhen.
Den Blutzucker gut im Blick zu behalten, lohnt sich immer – und auch für die Nerven. / © Shutterstock/Halfpoint
Autoimmunerkrankungen wie Guillain-Barré-Syndrom, Sjögren-Syndrom, Zöliakie, rheumatoide Arthritis oder systemischer Lupus erythematodes können ebenfalls zu Nervenschäden führen, wenn das Immunsystem körpereigene Strukturen angreift.
Bakterielle oder virale Infektionen wie Lyme-Borreliose, Gürtelrose, Hepatitis B oder C sowie eine HIV-Infektion betreffen gelegentlich auch die peripheren Nerven.
Einige Polyneuropathien sind genetisch bedingt. Dazu zählt beispielsweise die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung. Bei chronischen Nierenerkrankungen ist das Risiko für eine urämische Neuropathie hoch.
Neben Grunderkrankungen spielen auch Ernährungsdefizite eine Rolle, zum Beispiel ein Mangel an den Vitaminen B1, B12 und E oder ein Überschuss an Vitamin B6. Diese Mikronährstoffe braucht der Körper für den Aufbau und die Erhaltung gesunder Nervenzellen.
Eine Exposition gegenüber Giftstoffen wie Arsen, Blei, Quecksilber oder Thallium kann eine sogenannte toxische Neuropathie hervorrufen (Tabelle 2).
Periphere Neuropathien gehören zu den häufigsten dosislimitierenden Nebenwirkungen onkologischer Therapien. Ein Hauptverursacher ist das Vinca-Alkaloid Vincristin, das unter anderem ein wichtiger Bestandteil der Behandlung pädiatrischer Malignome wie der akuten lymphoblastischen Leukämie (ALL) ist.
Vincristin hemmt die Mitose, indem es die Mikrotubuli-Polymerisation stört. Was bei der Krebsbekämpfung erwünscht ist, kann im Nervensystem zum Problem werden: Bis zu 96 Prozent der behandelten Kinder entwickeln eine periphere Neuropathie, wobei schwere Verläufe bei mehr als einem Drittel auftreten.
Die Neuropathie beginnt typischerweise an den unteren Extremitäten und schreitet proximal, also in Richtung der Körpermitte, fort. Klinisch äußert sie sich durch Parästhesien, Hypästhesie gegenüber Berührung, Vibration und Temperatur, abgeschwächte Reflexe sowie teils erhebliche Schmerzen. Auch motorische und autonome Symptome wie Kraftverlust, Obstipation oder orthostatische Hypotonie können auftreten (zu autonomen Neuropathien siehe Kasten). Das Risiko steigt mit höheren Einzeldosen und kumulativer Gesamtdosis. Die Pathogenese ist nicht abschließend geklärt.
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Die autonome Neuropathie betrifft das vegetative Nervensystem, also jene Nervenbahnen, die lebenswichtige Funktionen wie Herzschlag, Blutdruckregulation und Blutzuckerhaushalt unbewusst steuern (23). Auch die Steuerung von Verdauung und Blasenfunktion, Schweißsekretion, Pupillenreaktion auf Lichtreize sowie Prozesse im Sexual- und Reproduktionssystem werden vegetativ gesteuert.
Entsprechend breit gefächert ist das klinische Bild einer autonomen Neuropathie. Die Symptome können nahezu jedes Organsystem betreffen – eine oft erhebliche Einschränkung der Lebensqualität und hohe seelische Belastung.
Besonders häufig ist das Herz-Kreislauf-System betroffen, etwa durch inadäquaten Pulsanstieg bei Belastung, dauerhafte Tachykardie in Ruhe oder orthostatische Hypotonie. Schmerzempfindungen können vermindert sein. So kann zum Beispiel ein Herzinfarkt unbemerkt bleiben.
Im Magen-Darm-Trakt führen gestörte Bewegungsabläufe zu Symptomen wie Gastroparese, Übelkeit, Erbrechen, Völlegefühl, chronische Obstipation und nächtliche Durchfälle. Auch die Blasenentleerung kann gestört sein. Unvollständige Entleerung, Harnwegsinfekte oder Inkontinenz sind die Folge.
Die Schweißdrüsen können paradox reagieren: Manche Patienten schwitzen nachts stark, aber tagsüber kaum, was das Risiko der Überhitzung erhöht.
Auch die Sexualfunktion leidet häufig. Männer entwickeln Erektions- und Ejakulationsstörungen, Frauen berichten über verminderte Erregbarkeit und Orgasmusstörungen.
Auch andere chemotherapeutische Substanzen zeigen ein neurotoxisches Potenzial. So verursachen Platinverbindungen wie Cisplatin und Oxaliplatin chronisch sensible Neuropathien mit einer Inzidenz von bis zu 40 Prozent. Charakteristisch ist das sogenannte Coasting-Phänomen. Das bedeutet, dass eine klinische Verschlechterung nach Therapieende eintritt, weil die Schädigungsprozesse fortbestehen.
Viele Tumortherapeutika haben ein neurotoxisches Potenzial. / © Getty Images/Steve Weaver, Canterbury, UK
Bortezomib und Thalidomid werden vor allem beim Multiplen Myelom eingesetzt und führen dosis- und therapiedauerabhängig zu überwiegend sensiblen Neuropathien mit Inzidenzen von bis zu 70 Prozent. Auch Taxane wie Paclitaxel und Docetaxel, die bei soliden Tumoren eingesetzt werden, führen häufig zu DIPN. Risikofaktoren sind höhere Dosierungen und die Kombination mit Platinpräparaten.
Die Risikofaktoren variieren je nach Wirkstoff: Während etwa bei Brentuximab keine klassischen Risikofaktoren identifiziert wurden, erhöhen Alter, Diabetes, Rauchen und vorbestehende Neuropathien das Risiko bei Taxanen (3, 5, 6).
Bei Wirkstoffen, die bei kardiovaskulären Erkrankungen eingesetzt werden, stehen periphere Neuropathien als Nebenwirkung eher weniger im Fokus.
Das Klasse-III-Antiarrhythmikum Amiodaron ist wirksam bei zahlreichen Herzrhythmusstörungen. Studien aus den 1980er-Jahren beschreiben jedoch eine hohe Inzidenz neurologischer Nebenwirkungen, darunter reversible periphere Neuropathien bei Erhaltungsdosen von 600 mg/Tag. Neuere Untersuchungen relativieren dies. In einer retrospektiven Analyse von 707 Patienten der Mayo Clinic (1996 bis 2008) entwickelten lediglich 1,6 Prozent der Behandelten neurotoxische Effekte, die sie zum Arzt führten. Der Rückgang neurologischer Nebenwirkungen wird unter anderem auf die heute deutlich niedrigere Erhaltungsdosis (200 mg/Tag) zurückgeführt. Neben der Dosierung gilt die Therapiedauer als Risikofaktor (7–10).
Die Diagnose einer Polyneuropathie erfordert eine exakte Untersuchung mit Ursachenfahndung. / © Adobe Stock/Bernhard Schmerl
Statine, darunter Simvastatin, Pravastatin und Fluvastatin, gehören zu den am häufigsten verschriebenen Medikamenten zur Prävention kardiovaskulärer Ereignisse. Der langfristige Einsatz wurde jedoch mit einer erhöhten Inzidenz von peripheren DIPN in Verbindung gebracht. Bei bereits bestehender Neuropathie scheint das Risiko höher zu sein (11–13). Einzelfallberichte gibt es auch für Atorvastatin und Rosuvastatin (14). Allerdings ist der Zusammenhang noch nicht ausreichend bewiesen. Eine Übersichtsarbeit aus 2017 mit 3104 Patienten aus den Jahren 1999 bis 2013 ergab keinen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Statinen in der Anamnese und einem erhöhten Risiko für eine Polyneuropathie.
Die pathophysiologischen Mechanismen sind nicht vollständig geklärt. Vermutet werden Störungen der Membranfunktion durch Cholesterolmangel, eine beeinträchtigte Ubiquinon-(Coenzym Q10-)Synthese sowie eine daraus resultierende gestörte Energieversorgung der Nervenzellen. Nach Absetzen sind die Polyneuropathien reversibel (1, 3, 15).
Antibiotika-induzierte periphere Neuropathien kommen in erster Linie im Kontext langwieriger Therapien wie bei der Tuberkulose vor. Am häufigsten treten schmerzhafte Polyneuropathien unter Isoniazid auf. Die Inzidenz steigt mit der Dosis und ist bei HIV-Infizierten bis zu vierfach höher. Der Beginn der Symptome hängt von der Dosierung ab: Höhere Dosen führen schneller zu Symptomen.
Isoniazid wirkt neurotoxisch, indem es Pyridoxalphosphat inaktiviert, die aktive Form von Vitamin B6. Das Vitamin ist essenziell für zahlreiche neurologische Prozesse wie die Neurotransmittersynthese und den Energiestoffwechsel. Ein Mangel führt zu sensorischen symmetrischen Neuropathien. Die vorbeugende Gabe von Pyridoxin kann das Risiko vor allem bei vulnerablen Gruppen wie HIV-positiven, unterernährten, schwangeren oder älteren Patienten senken. Eine generelle Prophylaxe bei allen mit Isoniazid behandelten Personen wird kontrovers diskutiert (16).
Auch Linezolid, ein Reserveantibiotikum bei multiresistenter Tuberkulose, ist häufig mit reversiblen und irreversiblen Neuropathien assoziiert. Die Schäden können bereits nach wenigen Wochen Therapie auftreten. Die Datenlage zur Neurotoxizität ist uneinheitlich, da häufig Vorbehandlungen mit neurotoxischen Substanzen erfolgt sind.
HIV-positive Patienten haben ein besonders hohes Risiko für DIPN. Die Immunaktivierung, Mangelernährung, mögliche Koinfektionen und die häufig simultane antiretrovirale Therapie verstärken das Risiko. Die Prävalenz neurotoxischer Nebenwirkungen kann bei HIV-TB-Koinfektion bei über 30 Prozent liegen (3, 17).
Nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NRTI) sind ein Bestandteil der hoch aktiven antiretroviralen Therapie bei HIV (HAART). Sie können zu Neuropathien mit Symptomen wie brennenden oder stechenden Schmerzen, distaler Muskelschwäche und herabgesetztem Achillessehnenreflex führen. Die Häufigkeit variiert je nach Substanz und ist ein häufiger Grund für das Absetzen der HAART.
Zidovudin und Lamivudin scheinen im Vergleich zu anderen NRTI seltener periphere Neuropathien auszulösen. Woher diese bessere Verträglichkeit kommt, ist bislang unklar (17).
Zu den Risikofaktoren für NRTI-induzierte periphere Neuropathien zählen bereits bestehende – insbesondere HIV-assoziierte – Neuropathien, maligne Grunderkrankungen sowie eine ausgeprägte Immunsuppression. Höhere Dosierungen sowie Kombinationstherapien steigern das Risiko. Genetisch oder altersbedingt eingeschränkte Stoffwechselprozesse können die Ausscheidung der Wirkstoffe behindern und so die Neurotoxizität verstärken. Ein weiterer verstärkender Faktor ist Alkoholmissbrauch (3).
Zahlreiche Immunsuppressiva wie Tumornekrosefaktor-α-(TNF-α-)Inhibitoren, Interferone und Leflunomid sind mit immunvermittelten Polyneuropathien assoziiert. Die Arzneistoffe werden zur Behandlung chronisch-entzündlicher Erkrankungen eingesetzt, können jedoch selbst autoimmune Neuropathien wie das Guillain-Barré-Syndrom auslösen. Pathogenetisch diskutiert werden T-Zell-vermittelte oder Antikörper-induzierte Demyelinisierung, ischämische Prozesse sowie Störungen der Axonleitung.
Auch die Hände können von einer Neuropathie betroffen sein. / © Shutterstock/Marina Demeshko
Mehrere Studien berichten über eine erhöhte Inzidenz von Polyneuropathien unter Leflunomid. In einer indischen Untersuchung traten bei 5 von 50 Patienten in der Leflunomid-Gruppe neurologische Symptome auf gegenüber 2 von 100 unter Methotrexat (18). In allen Fällen wurde eine motorische axonale Neuropathie mit verlangsamter Nervenleitung festgestellt. Die Symptome remittierten nach Absetzen innerhalb von drei Monaten.
In seltenen Fällen wurde unter Interferon-α über Neuropathien berichtet. Nach Absetzen der Medikation besserten sich die Symptome wieder (3, 7).
Levodopa (L-Dopa) ist der wichtigste Wirkstoff in der Behandlung des idiopathischen Parkinson-Syndroms, da es als Dopamin-Vorstufe die Blut-Hirn-Schranke überwindet. Eine Langzeittherapie könnte mit peripheren Neuropathien assoziiert sein.
Die Nebenwirkung könnte durch einen funktionellen Mangel an Cobalamin (Vitamin B12) infolge der Levodopa-Metabolisierung vermittelt sein. Ein Anzeichen dafür sind erhöhte Spiegel von Methylmalonsäure (MMA) und Homocystein. Das Risiko steigt dosisabhängig an und ist bei Tagesdosen über 1500 mg L-Dopa besonders hoch. Die axonale, sensible periphere Neuropathie kann mild oder auch asymptomatisch verlaufen.
Auch wenn die Datenlage noch kontrovers ist, erscheint es sinnvoll, Parkinson-Patienten unter Levodopa regelmäßig auf Zeichen einer peripheren Neuropathie zu untersuchen. Dabei sollten auch die Spiegel von MMA, Homocystein und Cobalamin bestimmt werden, um gegebenenfalls eine Substitutionstherapie mit Vitamin B12 einzuleiten (3, 7).
Systemisch gegebene Azol-Antimykotika können ebenfalls Polyneuropathien auslösen, wobei die Häufigkeit in der Literatur unterschiedlich angegeben wird. Während Hersteller die Nebenwirkung teilweise als gelegentlich einstufen oder gar keine Angabe machen, berichten klinische Studien von deutlich höheren Raten.
Eine Studie aus 2011 gibt zum Beispiel eine Prävalenz von 9 Prozent bei Voriconazol und 17 Prozent bei Itraconazol an (19). Besonders gefährdet sind Patienten mit Diabetes mellitus, möglicherweise wegen einer bestehenden Prädisposition für Nervenschäden.
Der pathophysiologische Mechanismus ist noch nicht abschließend geklärt. Eventuell spielen mitochondriale Schädigungen eine Rolle. Genetische Polymorphismen in CYP450-Enzymen, die Azol-Antimykotika metabolisieren, können zu individuell variierenden Wirkspiegeln und auch neurotoxischen Konzentrationen führen.
Symptomatisch äußert sich die Neuropathie meist in Form von Parästhesien wie Kribbeln und Taubheitsgefühlen, die nach dem Absetzen der Medikation oft reversibel sind. Die Beschwerden treten typischerweise symmetrisch auf. Bei längerer Anwendung sollte vor allem bei Risikopatienten eine neurologische Verlaufskontrolle erfolgen. Treten unter Therapie sensorische Beschwerden auf, ist eine Nutzen-Risiko-Abwägung nötig (3, 7).
Medikamenten-induzierte Neuropathien können so belastend sein, dass Betroffene die Therapie abbrechen oder auf weniger wirksame Medikamente ausweichen müssen. Chemotherapie-induzierte periphere Neuropathien (CIPN) sind beispielsweise eine häufige, oft therapielimitierende Nebenwirkung bei Brustkrebspatientinnen, die mit Taxanen behandelt werden.
Bisher gibt es keine nachweislich wirksamen Maßnahmen zur Vorbeugung. Allerdings gibt es aktuelle Forschungen, die Hoffnung machen.
Die POLAR-Studie zeigte kürzlich, dass einfache nicht medikamentöse Maßnahmen wie Handkühlung oder -kompression das Risiko signifikant senken können (20). Die 122 Brustkrebspatientinnen wurden im Verhältnis 1:1 randomisiert. In einer Gruppe wurde die dominante Hand mit einem Gefrierhandschuh gekühlt, in der anderen mit zwei zu kleinen OP-Handschuhen komprimiert. Dies erfolgte jeweils 30 Minuten vor, während und nach der Taxan-Gabe. Die jeweils andere Hand diente als unbehandelte Kontrolle. Die Ergebnisse zeigten einen deutlichen Nutzen beider Verfahren: In der Kühlgruppe traten bei 29 Prozent der Frauen sensorische Neuropathien ab Schweregrad 2 auf, in der unbehandelten Kontrollhand bei 50 Prozent. In der Kompressionsgruppe lagen die Zahlen bei 24 versus 38 Prozent. Beide Interventionen reduzierten somit das Risiko für höhergradige Nervenschäden signifikant.
Physiotherapie kann helfen, Kraft und Beweglichkeit zu erhalten oder wieder aufzubauen. / © Adobe Stock/Racle Fotodesign
Möglicherweise könnte auch Vitamin E vorbeugend helfen. Eine Metaanalyse von neun randomisierten kontrollierten Studien mit insgesamt 486 Patienten zeigten, dass Vitamin E die Inzidenz von CIPN signifikant reduzierte (21). Allerdings ergab eine Subgruppenanalyse, die ausschließlich doppelblinde Studien berücksichtigte, keinen signifikanten Unterschied. Daher sind weitere hochwertige, doppelblinde Studien zu Vitamin E in der Prävention der CIPN erforderlich.
Studien deuten darauf hin, dass bestimmte Signalwege, insbesondere Proteinkinase C (PKC) und MAP-Kinasen, bei der Entstehung der Neuropathie eine Rolle spielen. Der PKC-Hemmer Tamoxifen konnte neuropathische Symptome bei Mäusen, die mit bestimmten Chemotherapeutika behandelt wurden, lindern (22).
Polyneuropathien müssen schnell behandelt werden, um bleibende Schäden zu verhindern und die Lebensqualität der Patienten wiederherzustellen. Dabei ist es wichtig, die zugrunde liegende Ursache zu kennen. Bei toxisch oder medikamentös bedingten Formen besteht die wichtigste Maßnahme darin, die Exposition möglichst zu beenden. Hinzu können symptomlindernde oder rehabilitative Therapien kommen. Nährstoffmängel, vor allem von B-Vitaminen, sollten ausgeglichen werden.
Zur Schmerzbehandlung sind trizyklische Antidepressiva (TCA), Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI und SNRI) oder Gabapentinoide meist besser geeignet und wirksamer als Analgetika wie nicht steroidale Antirheumatika (NSAR). Trizyklika wie Amitriptylin und Nortriptylin sollten in niedrigen Dosen begonnen und langsam gesteigert werden, um anticholinerge Nebenwirkungen zu vermeiden. Duloxetin, ein selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, kann ebenfalls zur Schmerzlinderung eingesetzt werden und hat ein günstigeres Nebenwirkungsprofil als TCA. Gabapentinoide wie Gabapentin und Pregabalin blockieren Calciumkanäle und haben eine eher geringe Nebenwirkungsrate. Schwindel und Schläfrigkeit treten jedoch häufig auf (3).
Physiotherapie hilft, Muskelkraft und Koordination zu erhalten. Orthopädische Hilfsmittel wie Schienen oder Spezialschuhe verbessern die Mobilität. Verfahren wie transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) und chiropraktische Behandlungen zeigen bei einzelnen Patienten positive Effekte. Komplementäre Methoden wie Akupunktur, Meditation oder Massage können zwar subjektiv hilfreich sein, sind aber nur unzureichend wissenschaftlich belegt (2, 3).
Nicole Schuster studierte zwei Semester Medizin, dann Pharmazie und Germanistik in Bonn und später in Düsseldorf. Während ihres Studiums machte sie Praktika bei verschiedenen wissenschaftlichen Verlagen. Nach der Approbation absolvierte Schuster ein Aufbaustudium in Geschichte der Pharmazie in Marburg und wurde 2016 zum Doktor der Naturwissenschaften promoviert. Die PZ-Leser kennen Schuster als Autorin zahlreicher Fachbeiträge.