Von Orphan Drugs zu Therapien für die Masse |
Daniela Hüttemann |
05.11.2020 16:00 Uhr |
Laut einer Studie leidet mehr als jeder zweite in Europa an einer neurologischen Erkrankung, / Foto: Getty Images/Yuichiro Chino
Der »Global Burden of Disease«-Studienreihe zufolge leidet mindestens jeder zweite Mensch in Europa unter einer neurologischen Erkrankung. Dazu gehören beispielsweise Demenzen, Parkinson und Multiple Sklerose, aber auch seltenere Erkrankungen wie die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) oder die spinale Muskelatrophie (SMA). Oft ist mit einer neurologischen Erkrankung ein massiver Verlust an Selbstständigkeit und Lebensqualität verbunden und manchmal ist auch die Lebenserwartung vermindert, betont die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) in einer aktuellen Pressemitteilung anlässlich ihres diese Woche virtuell stattfindenden Kongresses.
Die gute Nachricht ist, dass bei vielen Erkrankungen die Ursachen und Pathomechanismen immer besser verstanden werden und neue Therapieoptionen entwickelt werden konnten, die die Prognose und Lebensqualität der Betroffenen zum Teil deutlich verbessern. Die im Rahmen des Kongresses frisch gegründete Deutsche Hirnstiftung will diese Informationen auch an die Öffentlichkeit bringen. Über einige der neuesten Fortschritte sprachen renommierte Neurologie-Professoren am Abend des ersten Kongresstags am 4. November.
Innovative Behandlungsmöglichkeiten kämen zwar nicht unbedingt direkt in der Basistherapie an, doch was zunächst für eine genau definierte mitunter sehr kleine Subgruppe entwickelt wurde, könne den Weg für eine Therapie vieler Patienten ebnen, glaubt Professor Dr. Matthias Endres, Kongresspräsident und Schlaganfallexperte von der Berliner Charité. »Da kommt eine ganze Welle hinterher.«
Zum Beispiel lasse sich das Prinzip der Antisense-Therapie, das nun bereits 2016 erfolgreich bei der genetisch bedingten seltenen Erkrankung SMA eingesetzt wird, auch auf viele andere Erkrankungen übertragen, zum Beispiel Chorea Huntington, hofft Professor Dr. Christine Klein, DGN-Präsidentin und Direktorin des Instituts für Neurogenetik des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) und der Universität zu Lübeck. »Indem wir genetische Unterformen beobachten, lernen wir auch für die ganze Gruppe, zum Beispiel bei Parkinson.« Hier würden derzeit bereits vielversprechende niedermolekulare Wirkstoffe für bestimmte Formen klinisch getestet.
Daher gelte es, weiterhin die Krankheitsursachen besser zu erforschen, um hier neue therapeutische Ansatzpunkte zu finden, so die DGN-Präsidentin. »Bei der ALS kannten wir anfangs auch nur eine ursächliche Mutation, die sehr selten war. Erst durch neuere Sequenziertechniken haben wir häufigere Mutationen gefunden – hier können wir ansetzen.«
Ein anderes Beispiel von der Nischentherapie hin zu einer echten Option für viele Patienten sei die tiefe Hirnstimulation bei Morbus Parkinson und anderen Erkrankungen mit Bewegungsstörungen. Entwickelt wurde dieser Ansatz bereits in den 1990er-Jahren. »Im Prinzip fangen wir bei allen Patienten mit L-Dopa an, doch nach fünf bis acht Jahren »Therapie-Honeymoon« lässt die Wirkung nach«, erklärten Professor Dr. Christian Gerloff, Schlaganfallexperte und Klinikdirektor der Neurologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, und Professor Dr. Gereon R. Fink, Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie.
»Mittlerweile haben wir nicht mehr nur einen Plan B, sondern auch C und D«, so Gerloff. Fink ergänzt: »Wenn wir mit neuen Möglichkeiten wie der tiefen Hirnstimulation den teils noch relativ jungen Patienten weitere fünf bis acht Jahre mit hoher Lebensqualität schenken können, ist das ein großer Fortschritt.« Diese Methode komme mittlerweile für ein breite Population neurologischer Patienten infrage.
Die Neurologen stellten sich angesichts immer besserer Diagnostik bereits im symptomlosen Stadien auch der Frage, inwieweit eine sehr frühe Diagnose sich auf die Psyche der Patienten auswirkt. »Früher konnten wir Patienten mit genetischer Prädisposition wenig Hoffnung machen, aber jetzt kommen immer mehr funktionierende Gentherapien«, so Gerloff. Zudem wisse man mehr über die Prävention, zum Beispiel bei Demenz, erklärte Fink.
Man könne das Risiko, eine Demenz zu entwickeln, durch modifizierbare Faktoren um bis zu 40 Prozent senken, wie erst im September ein Wissenschaftlerteam zeigte. Man müsse aber zum Teil früh anfangen, betonte Fink. Jeder kann seinen Alkoholkonsum auf maximal 21 Einheiten pro Woche oder anders ausgedrückt ein 0,2 ml-Glas Rotwein am Tag einschränken. Und wer merkt, dass sein Gehör nachlässt, sollte sich früh ein Hörgerät besorgen und dies nicht aus Eitelkeit herauszögern.
Ein Vorteil der besseren Früherkennung, zum Beispiel bei Alzheimer und Parkinson sei auch, dass potenzielle neue Arzneistoffe größere Chancen haben, sich in klinischen Studien zu beweisen, wenn sie in Frühstadien getestet werden. Denn das Problem neurodegenerativer Erkrankungen sei, dass schon massive Änderungen im Gehirn passiert sind, bevor erste Symptome auftreten, verdeutlichte Professor Dr. Kathrin Reetz, Oberärztin in der Klinik für Neurologie an der Uniklinik RWTH und Spezialistin für neurodegenerative Erkrankungen. »Wir müssen daher auch therapeutisch frühzeitig eingreifen.«
So gebe es vielversprechende Antikörper wie Aducanumab gegen Alzheimer, die Amyloide im PET-Scan verschwinden lassen. Aducanumab steht aktuellen Gerüchten zufolge kurz vor der Zulassung in den USA. Die EU hat den Zulassungsantrag erst vor Kurzem angenommen. Die Studiendaten, die Hersteller Biogen bislang veröffentlicht hat, geben begründeten Anlass zur Hoffnung, so Finks Einschätzung. Er schränkte jedoch ein, dass die Daten bislang noch nicht wissenschaftlich im Peer-Review-Verfahren veröffentlicht wurden.