Von Orphan Drugs zu Therapien für die Masse |
Daniela Hüttemann |
05.11.2020 16:00 Uhr |
Ein anderes Beispiel von der Nischentherapie hin zu einer echten Option für viele Patienten sei die tiefe Hirnstimulation bei Morbus Parkinson und anderen Erkrankungen mit Bewegungsstörungen. Entwickelt wurde dieser Ansatz bereits in den 1990er-Jahren. »Im Prinzip fangen wir bei allen Patienten mit L-Dopa an, doch nach fünf bis acht Jahren »Therapie-Honeymoon« lässt die Wirkung nach«, erklärten Professor Dr. Christian Gerloff, Schlaganfallexperte und Klinikdirektor der Neurologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, und Professor Dr. Gereon R. Fink, Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie.
»Mittlerweile haben wir nicht mehr nur einen Plan B, sondern auch C und D«, so Gerloff. Fink ergänzt: »Wenn wir mit neuen Möglichkeiten wie der tiefen Hirnstimulation den teils noch relativ jungen Patienten weitere fünf bis acht Jahre mit hoher Lebensqualität schenken können, ist das ein großer Fortschritt.« Diese Methode komme mittlerweile für ein breite Population neurologischer Patienten infrage.
Die Neurologen stellten sich angesichts immer besserer Diagnostik bereits im symptomlosen Stadien auch der Frage, inwieweit eine sehr frühe Diagnose sich auf die Psyche der Patienten auswirkt. »Früher konnten wir Patienten mit genetischer Prädisposition wenig Hoffnung machen, aber jetzt kommen immer mehr funktionierende Gentherapien«, so Gerloff. Zudem wisse man mehr über die Prävention, zum Beispiel bei Demenz, erklärte Fink.
Man könne das Risiko, eine Demenz zu entwickeln, durch modifizierbare Faktoren um bis zu 40 Prozent senken, wie erst im September ein Wissenschaftlerteam zeigte. Man müsse aber zum Teil früh anfangen, betonte Fink. Jeder kann seinen Alkoholkonsum auf maximal 21 Einheiten pro Woche oder anders ausgedrückt ein 0,2 ml-Glas Rotwein am Tag einschränken. Und wer merkt, dass sein Gehör nachlässt, sollte sich früh ein Hörgerät besorgen und dies nicht aus Eitelkeit herauszögern.
Ein Vorteil der besseren Früherkennung, zum Beispiel bei Alzheimer und Parkinson sei auch, dass potenzielle neue Arzneistoffe größere Chancen haben, sich in klinischen Studien zu beweisen, wenn sie in Frühstadien getestet werden. Denn das Problem neurodegenerativer Erkrankungen sei, dass schon massive Änderungen im Gehirn passiert sind, bevor erste Symptome auftreten, verdeutlichte Professor Dr. Kathrin Reetz, Oberärztin in der Klinik für Neurologie an der Uniklinik RWTH und Spezialistin für neurodegenerative Erkrankungen. »Wir müssen daher auch therapeutisch frühzeitig eingreifen.«
So gebe es vielversprechende Antikörper wie Aducanumab gegen Alzheimer, die Amyloide im PET-Scan verschwinden lassen. Aducanumab steht aktuellen Gerüchten zufolge kurz vor der Zulassung in den USA. Die EU hat den Zulassungsantrag erst vor Kurzem angenommen. Die Studiendaten, die Hersteller Biogen bislang veröffentlicht hat, geben begründeten Anlass zur Hoffnung, so Finks Einschätzung. Er schränkte jedoch ein, dass die Daten bislang noch nicht wissenschaftlich im Peer-Review-Verfahren veröffentlicht wurden.