Veränderte Hirnstruktur bei pathologischen Gamern |
Annette Rößler |
17.06.2022 07:00 Uhr |
Nur etwa 3 Prozent der Jugendlichen und Erwachsenen, die Computerspiele nutzen, zeigen ein Suchtverhalten. Die allermeisten Menschen haben ihren Konsum im Griff. / Foto: Adobe Stock/Drobot Dean
Obwohl schon seit Jahren auch exzessiv gezockt wird, ist die Computerspielsucht als anerkannte Krankheit ein relativ neues Phänomen. Sie wurde erst mit der Neufassung der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der seit 2022 geltenden ICD-11, in den Katalog der Diagnosen aufgenommen. Unter dem Punkt 6C51 werden dort folgende Kriterien für pathologisches Spielen (Gaming Disorder) genannt: Verlust der Kontrolle etwa über Häufigkeit, Dauer oder Intensität des Spielens, steigende Priorisierung des Spielens mit gleichzeitiger Vernachlässigung anderer Interessen und Alltagsaktivitäten sowie fortgesetztes oder sogar intensiviertes Spielen trotz negativer Konsequenzen.
Pathologisches Computerspielen findet dabei laut WHO zumeist online statt und ist abzugrenzen vom pathologischen Glücksspiel (Gambling Disorder), das mit 6C50 eine eigene Nummer in der ICD-11 hat und auch schon in der Vorgängerversion ICD-10 hatte. Dass nun auch das unkontrollierte und ausufernde Computerspielen als Verhaltenssucht eingestuft wurde, hatte im Vorfeld für Kritik gesorgt. Insbesondere die Anbieter entsprechender Spiele hatten dagegen protestiert und argumentiert, dass Gamer zu Unrecht pathologisiert werden könnten.
Allerdings geht es bei der Computerspielsucht ja gerade nicht um die vielen Nutzer, die einfach gerne und viel spielen, aber dennoch im Alltag gut zurechtkommen. Legt man die Kriterien der ICD-11 an, seien lediglich bis zu 3 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen von Computerspielsucht betroffen, schreibt Dr. Matthias Brand, Psychologieprofessor an der Universität Duisburg-Essen, aktuell im Fachblatt »Science«. »Das heißt auch, dass die überwiegende Mehrheit das Internet funktional in den Alltag integriert nutzt«, stellte Brand gegenüber der Nachrichtenagentur dpa klar.
Der Autor referiert in dem Fachartikel den Stand der Forschung zur Internet- beziehungsweise Computerspielsucht. Auf Hirnscans mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) seien in der Hirnstruktur von pathologischen Gamern Auffälligkeiten erkennbar, die denen bei Patienten mit stoffgebundenen Süchten ähnelten, berichtet Brand. Bei Betroffenen sei demnach die Balance zwischen Signalen, die das Suchtverhalten fördern, und der Selbstkontrolle gestört.
Im Frühstadium der Suchtentwicklung stehe wahrscheinlich ein sogenannter Wohlfühl-Signalweg im Vordergrund, der im Belohnungssystem des Gehirns (Nucleus accumbens) angesiedelt ist: Er verstärke das Verhalten positiv durch Vergnügen und Belohnung sowie negativ durch Abbau von Stress und negativen Emotionen. Im weiteren Verlauf werde das Verhalten immer zwanghafter und ein sogenannter Müssen-Signalweg im Putamen und Nucleus caudatus, wo die willkürliche Steuerung von Handlungen sitzt, übernehme zunehmend die Kontrolle.
Ob diese Besonderheiten in der Hirnfunktion im Verlauf einer Computerspielsucht entstünden oder ob sie bei manchen Menschen bereits von vorneherein vorhanden seien, was diese dann besonders anfällig für die Entwicklung einer Computerspielsucht oder generell einer Suchterkrankung mache, sei noch nicht geklärt. Mehr über die Ursache-Wirkungs-Beziehungen und auch über mögliche Spezifika der Computerspielsucht zu erfahren, solle daher Gegenstand weiterer Forschung sein.
Zwischen Computer- und Glücksspielsucht gebe es viele Parallelen. Wie abhängig machende Glücksspiele seien auch Videospiele so konzipiert, dass sie den Nutzer bei der Stange halten. Hierbei spielten sogenannte Gewinn-Elemente eine zentrale Rolle – wie im Übrigen auch bei Kaufsucht (das Gefühl, genau das richtige Produkt ergattert zu haben), bei pathologischer Pornografienutzung (Betrachten eines Videos, das den eigenen Neigungen genau entspricht) und bei Abhängigkeit von sozialen Medien (das Sammeln von Likes). Dass Menschen eine Abhängigkeit von solchen Websites entwickelten, sei keine individuelle Entscheidung, sondern könne denjenigen passieren, denen es schwerfalle, vorteilhafte Entscheidungen zu treffen und ihr eigenes Belohnungsverhalten zu regulieren, betont Brand.
Das Ganze muss aber keineswegs eine Einbahnstraße sein. Eine spontane Erholung von der Computerspielsucht sei möglich – etwa, wenn Jugendliche mehrere Jahre exzessiv gespielt hätten, dann aber nach Veränderungen der Lebensumstände von sich aus aufhörten, so der Autor gegenüber dpa. Auch wenn die Abhängigkeit bereits längere Zeit bestehe, könne eine Therapie erfolgreich sein. »Nicht bei allen, aber bei vielen.«
Seit die Computerspielsucht als Krankheit anerkannt ist, können Therapien in ambulanten oder stationären Einrichtungen der Suchthilfe über die Krankenkassen abgerechnet werden. Laut Brand geht das Überwinden der Sucht auch mit einer Normalisierung des Gehirns einher. »Das Hirn ist lernfähig, es hat eine Plastizität. Es verändert sich bei den Verhaltenssüchten im Verlauf des Suchtprozesses, aber wir sehen auch, dass das reversibel ist.«