Tisotumab Vedotin mit neuem Target |
Brigitte M. Gensthaler |
06.10.2025 09:00 Uhr |
In Deutschland erkranken jährlich etwa 4300 Frauen an einem Zervixkarzinom. Das mittlere Erkrankungsalter am invasiven Karzinom liegt bei 53 Jahren. / © Adobe Stock/rocketclips
Tisotumab Vedotin (Tivdak® 40 mg Pulver für ein Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung, Genmab) ist ein Antikörper-Wirkstoff-Konjugat (ADC) aus einem vollständig humanen Antikörper vom Typ IgG1-κ (Tisotumab) und dem Zytotoxin Monomethyl-Auristatin E (MMAE), die über einen proteolytisch spaltbaren Valin-Citrullin-Linker miteinander verbunden sind (Vedotin). Tivdak ist als Monotherapie für erwachsene Frauen mit rezidivierendem oder metastasierendem Gebärmutterhalskrebs zugelassen, bei denen der Tumor während oder nach einer systemischen Therapie fortgeschritten ist.
Die empfohlene Dosis beträgt 2 mg/kg Körpergewicht (höchstens 200 mg bei Patientinnen mit einem Gewicht über 100 kg) alle drei Wochen bis zur Krankheitsprogression oder inakzeptablen Toxizität. Die Fachinformation enthält genaue Anweisungen zu Therapiepausen und Dosisreduktion bei bestimmten Nebenwirkungen. Wird auch eine Dosis von 0,9 mg/kg nicht vertragen, soll das Arzneimittel abgesetzt werden. Das Medikament wird als 30-minütige intravenöse Infusion verabreicht, keinesfalls als Push- oder Bolusinjektion.
Der Antikörper Tisotumab richtet sich gegen den Gewebefaktor (TF), der von einigen soliden Tumoren vermehrt auf der Zelloberfläche exprimiert wird. Dadurch werden das Tumorwachstum, die Angiogenese und die Metastasierung begünstigt. Das Transmembran-Glykoprotein TF ist ein neues Target in der Onkologie.
Das Konjugat bindet über seinen Antikörper-Anteil an TF auf Tumorzellen und wird in die Zelle aufgenommen. Dort kommt es zur Freisetzung des Spindelgifts MMAE. Dieses unterbricht das Mikrotubuli-Netzwerk von sich teilenden Zellen, was zum Stillstand des Zellzyklus und zum apoptotischen Zelltod führt. In vitro wurden eine direkte Zytotoxizität in TF-exprimierenden Zellen, Zytotoxizität in tumorumgebenden, sogenannten Bystander-Zellen, antikörperabhängige zellvermittelte Zytotoxizität und Phagozytose sowie immunogener Zelltod nachgewiesen.
Die Wirksamkeit von Tisotumab Vedotin wurde in der offenen, randomisierten Phase-III-Studie SGNTV-003 bei 502 Frauen mit rezidiviertem oder metastasiertem Zervixkarzinom untersucht. Die Frauen waren im Median 50 Jahre alt und hatten bereits eine oder zwei systemische Therapien erhalten, darunter eine Chemotherapie mit oder ohne Bevacizumab und einen PD-1-/PD-L1-Inhibitor. Sie erhielten im Rahmen der Studie entweder Tisotumab Vedotin oder eine Chemotherapie mit Topotecan, Vinorelbin, Gemcitabin, Irinotecan oder Pemetrexed.
Primärer Endpunkt der Studie war das Gesamtüberleben. Zu den sekundären Endpunkten zählten das progressionsfreie Überleben (PFS) und die bestätigte objektive Ansprechrate.
Tisotumab Vedotin verlängerte signifikant das Gesamtüberleben auf median 11,5 Monate im Vergleich zu 9,5 Monaten unter Chemotherapie. Auch das mediane PFS war signifikant länger (4,2 versus 2,9 Monate). Die Ansprechrate lag bei 17,8 Prozent versus 5,2 Prozent.
Nahezu alle Frauen in der Phase-III-Studie erlitten Nebenwirkungen. Bei 25 Prozent der Patientinnen war eine Dosisreduktion erforderlich und fast 15 Prozent mussten die Therapie mit dem ADC wegen toxischer Effekte abbrechen. Die häufigsten Nebenwirkungen (jeweils über 25 Prozent) waren periphere Neuropathie, Übelkeit, Nasenbluten, Konjunktivitis, Alopezie, Anämie und Diarrhö.
Schwere Nebenwirkungen ab Grad 3 traten bei 56 Prozent der Patientinnen auf. Am häufigsten waren Anämie, periphere Neuropathie, Ermüdung/Fatigue, Abdominalschmerz, Neutropenie, Erbrechen, Asthenie und Diarrhö. Bei 2 Prozent der Frauen endeten Nebenwirkungen tödlich.
Da in Studien Nebenwirkungen am Auge aufgetreten sind – am häufigsten Konjunktivitis, trockene Augen, Keratitis und Blepharitis –, ist die Sorge um das Sehvermögen sehr wichtig. Vor Therapiebeginn muss ein Ophthalmologe die Augen gründlich untersuchen. Vor jeder einzelnen Infusion, also alle drei Wochen, muss der Arzt die Augen der Patientin überprüfen und die normalen Augenbewegungen kontrollieren. Bei jeglichen Symptomen muss die Frau zum Augenarzt.
Außerdem muss sie vor und mehrere Tage nach der Infusion regelmäßig konservierungsmittelfreie Corticosteroid-haltige Augentropfen, zum Beispiel mit Dexamethason, sowie vasokonstriktive Augentropfen, zum Beispiel mit Brimonidintartrat, anwenden. Nach Verabreichung der Augentropfen sind vor, während und bis 30 Minuten nach der Infusion kühlende Augenpads aufzulegen.
Weitere Vorsichtsmaßnahmen betreffen das frühzeitige Erkennen einer peripheren Neuropathie sowie von Hautreaktionen, da schwere Hauterkrankungen, einschließlich eines lebensbedrohlichen Stevens-Johnson-Syndroms, unter Tisotumab Vedotin auftreten können. Bei Anzeichen oder Symptomen solcher Hautreaktionen muss das Medikament sofort pausiert werden, bis deren Ätiologie geklärt ist.
Bei gleichzeitiger Verabreichung von Tisotumab Vedotin mit starken CYP3A4-Inhibitoren, zum Beispiel Antibiotika wie Clarithromycin oder Telithromycin, vielen HIV-Medikamenten sowie Azol-Antimykotika, müssen die Patientinnen sorgfältig auf unerwünschte Reaktionen überwacht werden.
Frauen im gebärfähigen Alter müssen während und mindestens zwei Monate nach dem Absetzen der Behandlung wirksam verhüten. Haben Männer Partnerinnen im gebärfähigen Alter, muss die Verhütung mindestens vier Monate nach der letzten Dosis fortgesetzt werden.
Da das ADC den Embryo oder Fötus schädigen könnte, darf es nicht in der Schwangerschaft angewendet werden, außer wenn der klinische Zustand der Frau dies erfordert. Das Stillen muss während und für mindestens drei Wochen nach Absetzen der Behandlung unterbrochen werden.
Die Markteinführung des Antikörper-Wirkstoff-Konjugats (ADC) Tisotumab Vedotin ist eine gute Nachricht. Die Prognose beim fortgeschrittenen, metastasierten Gebärmutterhalskrebs ist schlecht und es standen bisher nur begrenzte Therapieoptionen zur Verfügung. Tisotumab Vedotin, das erste ADC in dieser Indikation, darf als Hoffnungsträger gesehen und vorläufig bei den Sprunginnovationen eingruppiert werden.
Zum einen kann man dies mit dem Target der Antikörperkomponente des ADC begründen. Tisotumab adressiert mit dem Gewebefaktor (Tissue Factor, TF) eine neue Zielstruktur in der Onkologie. Das Zell-Oberflächenprotein TF wird im Vergleich zu normalem Gewebe auf einer Reihe von soliden Tumoren in erhöhter Konzentration exprimiert.
Zum anderen untermauern die Studiendaten die Einstufung als Sprunginnovation. Bei Patientinnen mit rezidivierendem Gebärmutterhalskrebs war die Zweit- oder Drittlinienbehandlung mit Tisotumab Vedotin deutlich wirksamer als eine Chemotherapie nach Wahl des Prüfarztes. Die Verlängerung des Gesamtüberlebens durch das ADC betrug zwei Monate im Vergleich zur Chemotherapie.
Es gilt aber auch Sicherheitsaspekte im Blick zu behalten, etwa mögliche Neuropathien und Augentoxizitäten.
Sven Siebenand, Chefredakteur