Schwächt Covid-19 das Immunsystem? |
| Theo Dingermann |
| 01.02.2023 16:30 Uhr |
In diesem Winter hatten ungewöhnlich viele Menschen Infektionen. Hängt das mit einer Schwächung des Immunsystems durch vorangegangene SARS-CoV-2-Infektionen zusammen? / Foto: Adobe Stock/Tomsickova
In diesem Winter gab es eine ungewöhnlich früh durchgelaufene Grippewelle, die mit einer Welle von Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytialvirus (RSV) überlappte. Deutet das auf eine Immunschwäche in der Bevölkerung hin, die durch Covid-19 verursacht sein könnte? Dieser Eindruck wird erhärtet durch das erwähnte Zitat Drostens, mit dem der Virologe von der Berliner Charité eine Alterung des Immunsystems bei Kindern durch SARS-CoV-2-Infektionen andeutete – zumal Kinder in diesem Winter auch besonders häufig an bakteriellen Infektionen mit Streptokokken erkrankten.
Drosten ist nicht der Einzige, der eine Alterung des Immunsystems durch wiederholte Episoden von Covid-19 in Erwägung zieht. In einem Übersichtsartikel zu Long Covid schreiben beispielsweise die Autoren um den US-amerikanischen Kardiologen Professor Dr. Eric Topol vom Scripps Research Translational Institute in La Jolla in »Nature Reviews Microbiology«, dass in Studien zur Immundysregulation bei Personen mit Long Covid, die leicht an akutem Covid-19 erkrankt waren, T-Zell-auffällige Veränderungen gefunden wurden. So fand man sogenannte erschöpfte T-Zellen, das heißt T-Zellen, die durch eine schlechte Effektorfunktion, eine anhaltende Expression hemmender Rezeptoren und einen Transkriptionszustand charakterisiert sind, der sich von dem funktionaler Effektor- oder Gedächtnis-T-Zellen unterscheidet. Außerdem besaßen die Betroffenen weniger CD4+- und CD8+-Effektor-Gedächtniszellen sowie erhöhte PD1-Konzentrationen auf den zentralen Gedächtniszellen. Zudem sind die Typ-I- und Typ-III-Interferon-Antworten hochreguliert.
Auch Forschende um Dr. Chansavath Phetsouphanh von The Kirby Institute der University of New South Wales in Sydney, Australien, berichten in »Nature Immunology« über Hinweise auf anhaltende Entzündungsreaktionen auch nach leichten bis mittelschweren akuten Covid-19-Verläufen, die bei Menschen, die nach einer SARS-CoV-2-Infektion kein Long Covid entwickelten, und auch nach Infektionen mit anderen Coronaviren so nicht auftreten.
Kurzlebige Veränderungen in der Immunabwehr nach Infektionskrankheiten sind allerdings durchaus normal. So nehmen beispielsweise Lymphozyten als Reaktion auf eine SARS-CoV-2-Infektion zunächst zahlenmäßig zu. Auch zeigen diese Lymphozyten Veränderungen in Oberflächenprotein-Mustern, die für die Zellaktivierung typisch sind.
Die Veränderungen im Immunsystem hörten sich für Laien alarmistisch an, sagte die Immunologin Professor Dr. Christine Falk von der Medizinischen Hochschule Hannover kürzlich bei »Zeit Online«. Und sie ergänzt: »Die Befunde, die es gibt, werden leider oft überinterpretiert.« Meist könnten Laien sie nur schwer bis gar nicht einordnen, so die Immunologin.
Dass die Abwehr der meisten Menschen nach der Genesung wieder ins Gleichgewicht komme, betonte die britische Immunologin Professor Dr. Sheena Cruickshank von der Universität Manchester kürzlich auf dem Nachrichtenportal »The Conversation«. Selbst bei vulnerablen Patienten blieben nur bei einem kleinen Teil über sechs Monate nach der Infektion noch einige Veränderungen zurück, so die Autorin. Diese Menschen waren oft schwer an Covid-19 erkrankt oder litten an Grunderkrankungen, die einen Covid-19-Verlauf deutlich verkomplizieren. »Für die meisten Menschen gibt es derzeit keine Anhaltspunkte für eine Schädigung des Immunsystems nach einer SARS-CoV-2-Infektion«, versicherte Cruickshank.
SARS-CoV-2 ist verglichen mit vielen anderen Viren besonders gut erforscht. Das führt dazu, dass man dazu tendiert, Phänomene im Zusammenhang mit SARS-CoV-2-Infektionen überzuinterpretieren, die bei Infektionen mit anderen Viren durchaus auch auftreten können.
»Wohl keine Virusinfektion geht ganz folgenlos an uns vorüber«, sagte auch der Molekularbiologe Professor Dr. Emanuel Wyler vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin gegenüber dpa. So sei HIV als besonders schädlich für das Immunsystem bekannt – und Masern bedeuteten quasi ein Reset des Immunsystems. Eine Maserninfektion beeinträchtigt das Immunsystem so nachhaltig, dass Betroffene über Jahre anfälliger für weitere Infektionskrankheiten sind. Rhinoviren hingegen, die Schnupfen auslösen, seien vergleichsweise harmlos. »Die Frage ist, wo auf diesem breiten Spektrum sich SARS-CoV-2 einreiht und wie das Virus bei Geimpften überhaupt noch heraussticht im Vergleich mit den vielen Virusinfektionen im Laufe eines Lebens«, so Wyler.
Auch Falk deeskaliert. In dem Interview auf »Zeit Online« weist sie darauf hin, dass auch andere Infektionen zunehmen müssten, darunter »etwa solche mit atypischen Erregern, die Menschen im Normalfall nicht krank machen«, wenn die Menschen nach Covid-19 tatsächlich in der Breite ein geschwächtes Immunsystem aufweisen würden. Immunologen betonen seit Monaten, dass die jüngsten Erkältungs- und Grippewellen vor allem als Nachholeffekte zu sehen seien. Denn während der Coronajahre zirkulierten andere Atemwegserreger weniger stark.
Für ein Gesamtbild ist es laut der Immunologin Falk noch zu früh. Daher sollte nicht immer gleich jedes immunologische Phänomen, das man bei bestimmten Patienten tatsächlich beobachten kann, zum Anlass für eine alarmierende Überschrift verwendet werden.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.