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Welcher Impfstoff?

Rund um die Auffrischimpfung ist noch vieles ungewiss

Im Herbst steht bei der Mehrheit der Bevölkerung eine Auffrischimpfung gegen Covid-19 an. Sollte dabei ein angepasster Impfstoff verwendet werden und wenn Ja, welcher? Auf diese Frage gibt es momentan noch keine klare Antwort. Schuld daran ist auch das immunologische Phänomen der sogenannten antigenen Erbsünde.
Theo Dingermann
26.08.2022  18:00 Uhr

Das Phänomen der sogenannten antigenen Erbsünde (Original Antigenic sin, OAS) wurde erstmals im Jahr 1960 von dem US-amerikanischen Epidemiologen Thomas Francis Junior von der Universität Michigan beschrieben, nachdem er sich zusammen mit seinen Mitarbeitern Seren von Kindern und Erwachsenen mit Blick auf Antikörper gegen das Influenzavirus genauer angeschaut hatte. Er hatte beobachtet, dass sich die Antikörper, die in der Kindheit als Reaktion auf die erste Influenzainfektion gebildet wurden, weitgehend gegen das dominante Antigen des damals zirkulierenden Virus richteten. Wenn die Kinder dann älter wurden und sich immer wieder mit neuen Influenzavarianten infizierten, wurden zwar auch Antikörper gegen die neuen Viren gebildet. Auffallend war jedoch, dass die Antikörper, die zuerst gebildet wurden, während des gesamten Lebens dominant blieben.

Francis schrieb in dieser wichtigen Arbeit weiter: »Die Mechanismen zur Bildung von Antikörpern wurden durch den ersten Reiz stark konditioniert, sodass spätere Infektionen mit Stämmen desselben Typs den ursprünglichen Antikörper sukzessive verstärken, um ihn in dieser Altersgruppe stets auf dem höchsten Stand zu halten. Die durch die ursprüngliche Virusinfektion entstandene Prägung bestimmt die spätere Antikörperreaktion. Dies haben wir die Lehre von der antigenen Erbsünde genannt.«

Heute wird dafür von vielen die Bezeichnung »immunologische Prägung« dem religiös angehauchten Begriff der Erbsünde vorgezogen.

Ein vielschichtiges Problem

»Wenn es um Virusinfektionen geht, ist die Vergangenheit der Prolog«, heißt es in einem Artikel, der kürzlich in der »Washington Post« erschien. Darin greift die Wissenschaftsjournalistin Carolyn Y. Johnson das Thema im Zusammenhang von Auffrischimpfungen mit angepassten Impfstoffen auf und schreibt: »Die Version eines Virus, der wir zum ersten Mal ausgesetzt sind, kann diktieren, wie wir auf spätere Varianten reagieren und vielleicht auch, wie gut Impfstoffe wirken.«

Das Problem ist vielschichtig, wie man mittlerweile weiß. Beim Denguevirus kann die ursprüngliche Prägung auf das erste von vier unterschiedlichen Subtypen schädlich sein. Zwar besteht nach einer durchgemachten Infektion mit dem Virus eine vermutlich lebenslange Immunität für den infizierenden Serotyp und eine circa ein bis zwei Jahre andauernde Kreuzimmunität für die anderen Serotypen. Aber bei einer Zweitinfektion besteht im Vergleich zu einer Erstinfektion ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf. Hierfür wird die sogenannte antikörperabhängige Verstärkung verantwortlich gemacht: Nicht neutralisierende Antikörper, die bei der Erstinfektion neben den dominanten Antikörpern auch gebildet wurden, führen bei Infektion mit einem anderen Serotyp des Denguevirus zu einer Infektionsverstärkung.

Bei der Grippe kann die ursprüngliche Prägung in einigen Fällen für das Influenzavirus hilfreich sein. Denn durch die stark bindenden Antikörper aus dem Erstkontakt können durch Mutation entstandene neue Epitope auf der Virusoberfläche von diesen Antikörpern verdeckt werden, wodurch sie für das Immunsystem unsichtbar werden. Die Konsequenz: Das Virus entkommt einem potenziellen Immunschutz.

Ob die antigene Prägung auch im Fall von SARS-CoV-2 eine relevante Rolle spielt, wird derzeit kontrovers diskutiert. Der prominente Infektiologe an der Berliner Charité, Professor Dr. Leif Erik Sander, beschreibt seine Sicht der Dinge im NDR-Podcast »Das Coronavirus-Update« so: Menschen die sich zu Beginn der Pandemie mit SARS-CoV-2 infiziert haben und dann geimpft wurden, die also hybridimmunisiert sind, haben im Schnitt etwas mehr neutralisierende Antikörper als Menschen, die sich nie infiziert haben. »Und darin zeigt sich, glaube ich, dieses Prinzip der Antigenerbsünde.«

Es sei aber glücklicherweise nicht so, dass durch den ersten Kontakt, beispielsweise durch die Impfung mit dem Spike-Antigen des Wildtyps, das Immunsystem so geprägt werde, dass durch jede weitere Impfung immer nur dieses Gedächtnis verstärkt wird. Man habe klar zeigen können, dass eine dritte Impfung mit dem Wildtyp-Spike-Antigen zur Bildung von Antikörpern führt, die dann zum Beispiel auch die Omikron-Varianten neutralisieren können. Das spricht nach Meinung Sanders gegen eine bedeutende Relevanz der initialen Immunprägung im Fall von SARS-CoV-2.

Mit welchem Impfstoff auffrischen?

Allerdings sehen sich die Experten in sehr naher Zukunft mit dem Problem konfrontiert, zusätzlich zu theoretischen Überlegungen und experimentellen Überprüfungen von durchaus plausiblen Hypothesen konkrete Empfehlungen auszusprechen. Denn im Herbst stehen Auffrischimpfungen an und es werden wahrscheinlich drei verschiedene mRNA-Impfstofftypen zur Verfügung stehen: der nicht modifizierte klassische Impfstoff, ein an die Omikron-Subvariante BA.1 angepasster Kombinationsimpfstoff und ein an BA.4/BA.5 angepasster Kombinationsimpfstoff.

Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt momentan allen Über-60-Jährigen und Risikopatienten, nicht auf einen angepassten Impfstoff zu warten, sondern sich unverzüglich einer vierten Impfung, in der Regel mit einem der derzeit verfügbaren mRNA-Impfstoffe, zu unterziehen.

Aber wie sollen sich diejenigen verhalten, für die eine sofortige Auffrischung des Immunschutzes nicht so dringend ist und die abwarten können, bis die neuen Impfstoffe zugelassen sind? »Das sind schwierige Fragen, auf die es keine richtigen Antworten gibt«, sagt Dr. Kathryn Edwards, Kinderärztin und Leiterin des Vanderbilt Vaccine Research Program am Vanderbilt University Medical Center in Nashville, Tennessee.

Durch Impfungen und Infektionen mit verschiedenen Virusvarianten ist die Bevölkerung im Laufe der Pandemie mit etlichen Antigenen in allen möglichen Kombinationen konfrontiert worden. Damit befänden sich die Immunsysteme der Menschen auf unterschiedlichen Lernkurven, je nachdem, wann und mit welchen Varianten oder Impfstoffen sie infiziert oder geimpft wurden, schreibt Johnson in der Washington Post.

Dies bereitet Dr. Rosemary Boyton, Professorin für Immunologie und Atemwegsmedizin am Imperial College London, Sorge. »Die Prägung ist unterschiedlich, je nachdem, wo man auf der Welt lebt und welche Impfungen man erhalten hat – und das bestimmt die spätere Immunantwort«, erläutert sie. Es gibt keinen Konsens darüber, wie sich die ursprüngliche immunologische Prägung im Falle von SARS-CoV-2 auswirkt.

Kombinationsimpfstoffe mit Vor- und Nachteilen

In klinischen Studien zu den an die Omikron-BA.1-Variante angepassten Booster-Impfstoffen BNT162b2 OMI von Biontech/Pfizer) und mRNA-1273.214 von Moderna ließen sich zwischen 1,5 und 2-fach höhere neutralisierende Antikörper-Titer gegen Omikron nachweisen als die Titer, die von den zugelassenen Impfstoffen der beiden Unternehmen induziert werden. Man hatte sich mehr erhofft, und es ist unklar, wie viel zusätzlichen Schutz gegen Krankheiten dies, wenn überhaupt, bewirken wird. Daten zu den Titern an neutralisierenden Antikörpern beim Menschen für BA.4- und BA.5-spezifische Impfstoffe werden erst Mitte September erwartet.

Prinzipiell stellt sich die Frage, ob es klug ist, die angepassten Impfstoffe als Hybride, also in Form einer Kombination von Antigenen des Wildtyp-Virus und einer Omikron-Variante, zu entwickeln. Für bisher weder geimpfte noch infizierte Menschen ist natürlich ein Kombinationsimpfstoff sehr sinnvoll. Allerdings dürfte es mittlerweile nicht mehr viele solche immunologisch naiven Personen geben. Dazu, wie geimpfte und/oder genesene Personen auf eine Impfung mit einem angepassten Impfstoff reagieren, fehlt es natürlicherweise an Erfahrung – ein bekanntes Problem in der Wissenschaft, das aber schwer zu kommunizieren ist, wie nicht zuletzt die Pandemie gelehrt hat.

Auf den ersten Blick ist ein aktualisierter Covid-19-Impfstoff angesichts der deutlichen Weiterentwicklung des Virus seit Ende 2019 längst überfällig. Am 15. August erteilte die britische Arzneimittelbehörde MHRA dem bivalenten Covid-19-Impfstoff mit dem Namen »Spikevax bivalent Original/Omicron« des US-Pharmaunternehmens Moderna die Zulassung. Auch das Konsortium Biontech/Pfizer hat einen ähnlichen Impfstoff entwickelt und sowohl Moderna als auch Biontech/Pfizer haben Zulassungsanträge für diese Impfstoffe in Europa und den USA eingereicht.

Aber bisher liegen klinische Daten nur von den bivalenten BA.1-Impfstoffe vor – und BA.1 wurde fast weltweit durch andere Omikron-Varianten ersetzt; aktuell dominieren in den Vereinigten Staaten und Europa die Varianten BA.4 und BA.5. Das beklagt auch der bekannte US-amerikanische Genetiker und Kardiologe, Professor Dr. Eric Topol, vom Scripps Translational Science Institute in La Jolla. In seinem Blog schreibt er, dass der an BA.4/BA.5-angepasste Impfstoff bei einer begrenzten Anzahl von Mäusen eines Stammes, die zuvor zwei Spritzen des ursprünglichen Impfstoffs erhalten hatten, zwar eine solide, im Vergleich zu einem an BA.1 angepassten Impfstoff doppelt so hohe, neutralisierende Antikörperreaktion gegen BA.5 induziert habe. Das sie zwar ermutigend, aber nicht dasselbe wie die Daten vom Menschen.

Vorbild Grippeimpfstoffe?

Topol sieht Anzeichen für einen prinzipiellen Switch in der Zulassungssystematik bei Covid-19-Impfstoffen. Mit der jährlichen Anpassung des Grippeimpfstoffs anhand von Daten aus Mäusen gebe es durchaus einen Präzedenzfall für die Verwendung solcher Daten aus präklinischen Studien. Allerdings ließen sich diese Erfahrungen nicht so einfach auf SARS-CoV-2 übertragen, da sich das Virus deutlich von der Grippe unterscheidet. Zudem führt auch er das Problem der immunologischen Prägung an: Dieses werfe Fragen auf, die sich momentan nur im Kontext eines menschlichen Immunsystems beantworten lassen.

»Wir wissen also noch nicht, welche Rolle die potenzielle Prägung bei Personen spielt, die den BA.5-Booster erhalten. Darüber hinaus sind sowohl die Impfungen von Biontech/Pfizer als auch die von Moderna bivalent, wohingegen der monovalente Impfstoff besser sein dürfte, da er keine weitere Immunreaktion auf den veralteten Wildtyp-Stamm auslöst und zudem bessere Daten im Mausmodell liefert. Es ist unklar, warum ein monovalenter BA.5-Impfstoff zu diesem Zeitpunkt nicht auf den Weg gebracht wird«, so Topol.

Mehr verschiedene Antikörper – oder auch nicht

Auch bei einer Auffrischimpfung mit einem monovalenten angepassten Impfstoff ist momentan unklar, wie das Immunsystem reagiert. Eine Möglichkeit ist, dass ein neues Gedächtnis für die neue Variante anlegt wird und bei der nächsten Abwehr auf einen erweiterten Gedächtnispool zurückgegriffen werden kann. Damit könnte auch die Abwehr von Varianten, gegen die nicht explizit geimpft wurde, besser gelingen. Andererseits ist aber auch denkbar, dass die schnelle, aber suboptimale Immunreaktion die Bildung eines neuen Erinnerungspools stört. Wenn dann eine neue Version des Virus auftaucht, reaktiviert der Körper einfach den bestehenden Immunschutz – und kann eine veränderte neue Variante womöglich nicht mehr erkennen.

Prinzipiell stellt Topol sich nicht gegen ein beschleunigtes Zulassungsverfahren, wie es sich bei Influenzaimpfstoffen bewährt hat. »Aber wir müssen auch die Ungewissheit über die Wirksamkeit und die Reaktion der Öffentlichkeit anerkennen.« Er sei bereit zu akzeptieren, »dass die Sicherheit angesichts der Milliarden Dosen von mRNA-Impfstoffen, die während der Pandemie verabreicht wurden, kein Thema sein wird.« Aber »wenn die neue Booster-Kampagne von der Öffentlichkeit als ›Schnellschuss‹ angesehen wird und die Befürchtung besteht, dass die Zulassung nur auf Daten beruht, die an Mäusen erhoben wurden, wird dies die Akzeptanz sicherlich nicht fördern«, warnt Topol.

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