RKI ruft zur Disziplin auf |
Christina Hohmann-Jeddi |
22.10.2020 14:24 Uhr |
»Jeder kann dazu beitragen, dass sich das Coronavirus nicht so stark ausbreitet«, erinnerte Professor Dr. Lothar Wieler bei einer Pressekonferenz des RKI. / Foto: 2020 Getty Images
»Die Situation ist inzwischen sehr ernst geworden«, sagte Professor Dr. Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), heute in einem Pressebriefing. In einigen Regionen Deutschlands breitet sich SARS-CoV-2 stark aus, in manchen Regionen könnte es sogar zu einer unkontrollierten Ausbreitung kommen. Aber man sei nicht machtlos, sondern könnte mit konsequentem Umsetzen der AHA-plus-L-Regeln, die Abstandhalten, Hygienemaßnahmen, das Tragen von Alltagsmasken und regelmäßiges Lüften umfassen, die Verbreitung noch eindämmen.
Derzeit steigen die Zahlen deutschlandweit stark an: Während Anfang Oktober noch täglich 1000 bis 4000 Neuinfektionen gemeldet wurden, seien es inzwischen 4000 bis 11.000 Meldungen pro Tag. Heute wurde mit 11.287 festgestellten Neuansteckungen binnen 24 Stunden der bisher höchste Wert für Deutschland erreicht. Das Infektionsgeschehen sei sehr dynamisch, betonte Wieler. Inzwischen liegt die Inzidenz in Deutschland bei 56,2 Infektionen auf 100.000 Einwohner, während sie vor zwei Wochen noch bei 20,2 und Anfang Juni bei 3 gelegen habe. Auch wenn sich derzeit viele junge Menschen infizierten, die in der Regel einen leichten Krankheitsverlauf haben, steige auch die Zahl der Älteren unter den Infizierten wieder an. Auch die Zahl der intensivmedizinisch betreuten Covid-19-Patienten hat sich in den vergangenen 14 Tagen verdoppelt und liegt jetzt bei 943 Patienten. »Es sterben auch wieder mehr Menschen«, sagte Wieler und betonte, dass dieser Trend noch weiter anhalten werde.
Der aktuelle Anstieg der Corona-Zahlen hänge vor allem mit Infektionen im privaten Bereich zusammen. Ausbrüche in Verkehrsmitteln oder nach Übernachtungen spielten den Daten des RKI zufolge keine so große Rolle, auch Ausbrüche in Schulen kämen eher selten vor, sagte der RKI-Präsident. Im privaten Umfeld, vor allem bei Feiern und Treffen, käme es zu vielen Ansteckungen. Es zeige sich deutlich, dass das Virus dort übertragen wird, wo »Menschen gerne zusammenkommen«. Mit Freunden und in der Familie interagiere man viel intensiver als zum Beispiel mit Mitreisenden in öffentlichen Verkehrsmitteln.
Ein Großteil der Infektionen könnte verhindert werden, wenn sich die Menschen konsequent an die AHA-plus-L-Regeln hielten. Wieler riet auch dazu, Feiern wenn möglich auf das kommende Jahr zu verschieben oder zumindest die Teilnehmerzahl so gering wie möglich zu halten. Bundesweit einheitliche Regeln mit Obergrenzen für Zusammenkünfte seien hier wichtig.
Mit der bisherigen Strategie, die aus den drei Elementen Eindämmung (der Virusverbreitung), Schutz (der Risikogruppen) und Abmilderung (der Auswirkungen der Pandemie), sei man in Deutschland im internationalen Vergleich gut gefahren. Es gebe keinen Grund, die Strategie zu wechseln oder einer der drei Säulen mehr Gewicht zu geben, als den anderen. So sei die Strategie, eine Herdenimmunität zu erreichen, während die Risikogruppen geschützt werden, keine Lösung. Das Konzept, eine Herdenimmunität zu erreichen, sei in einzelnen Ländern ansatzweise versucht worden und ist gescheitert, so Wieler. Für diesen Weg sei die Zahl der schweren Verläufe von Covid-19 zu hoch. Bei bislang mehr als 392.000 nachgewiesenen Infektionen in Deutschland gab es bisher fast 9900 Todesfälle im Zusammenhang mit einer Coronavirus-Infektion. »Wenn sich in Deutschland 50 bis 60 Millionen Menschen infizieren, kann man sich ausrechnen, was das bedeutet.« Die Zahl der infizierten Toten wäre »sehr, sehr hoch«.
Außerdem sei es nicht möglich und auch nicht sozial vertretbar, Risikogruppen wie Ältere über Monate konsequent zu isolieren und damit von der Gesellschaft auszuschließen. »Theoretisch ist der Ansatz der Herdenimmunität begründet, aber praktisch nicht umsetzbar«, sagte Wieler. Alle drei Säulen der Strategie müssten konsequent weiterverfolgt werden.
In diesem Zusammenhang appellierte der RKI-Präsident an die Gesundheitsämter, trotz der derzeitigen teilweisen Überforderung durchzuhalten. Die Belastung einiger Gesundheitsämter, die bereits feststellbar ist, sei »ernst und besorgniserregend«, aber man müsse jede Anstrengung auch unter diesen Umständen aufrechterhalten und dürfe nicht aufgeben, sondern müsse weitermachen. Einige Länder etwa Schweden und Großbritannien hätten im Frühjahr aufgrund von Überforderung aufgegeben, die Kontakte nachzuverfolgen, berichtete Wieler. »Das hat sich als nicht der richtige Weg erwiesen.«
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.