Reaktionen auf den Leopoldina-Lockerungsplan |
Wer soll zuerst zurück in die Schule? Dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Der Lehrergewerkschaft fehlt ein Konzept, wie Hygiene- und Abstandsregeln in den Schulen realisiert werden sollen – auch weil keine Schutzmasken verfügbar sind. / Foto: Adobe Stock/Oksana Kuzmina
Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat gestern ihre Stellungnahme zur Überwindung der Coronavirus-Krise veröffentlicht. Darin geben die Wissenschaftler Empfehlungen, wie und unter welchen Voraussetzungen schrittweise in die gesellschaftliche Normalität zurückgekehrt werden kann. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte die Studie der Leopoldina als »sehr wichtig« für das weitere Vorgehen bezeichnet. Bund und Länder beraten morgen (Mittwoch) über einen schrittweisen Ausstieg aus den harten Corona-Beschränkungen. Einig sind sich alle Experten und Politiker, dass die Abstands- und Hygieneregeln weiterhin eingehalten werden sollten.
So hatte die Leopoldina gestern empfohlen, zuerst Grundschulen und die Sekundarstufe 1 zu öffnen, unter anderem, weil Jüngere mehr auf persönliche Betreuung, Anleitung und Unterstützung angewiesen seien. Anders als die Leopoldina regt das Berliner Robert-Koch-Institut (RKI) jedoch an, Schulen zuerst wieder für die höheren Jahrgänge zu öffnen.
Es gehe dabei um die Annahme, dass Jugendliche Abstandsregeln besser einhalten könnten als Kinder, sagte RKI-Präsident Professor Lothar Wieler am Dienstag. »Das ist eine Entscheidung der Politik«, ergänzte er. Es gebe Gründe dafür und dagegen. Vieles sei ein Ausprobieren. Es gebe derzeit noch keine Hinweise darauf, dass die Coronavirus-Epidemie in Deutschland eingedämmt sei, betonte Wieler. Es sei aber gelungen, sie zu verlangsamen, vor allem durch das Einhalten der Abstands- und Hygieneregeln. »Diese Disziplin sollten wir weiter beibehalten.«
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat sich skeptisch zu den Empfehlungen der Wissenschafts-Akademie geäußert. «Viele Vorschläge gehen an der Realität in den Bildungseinrichtungen vorbei«, sagte die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe heute in Frankfurt. Zudem nähmen die Leopoldina-Empfehlungen nur Übergänge und Prüfungen in den Blick und entsprächen so nicht dem Bildungsauftrag etwa der Kitas und Schulen.
Der Gesundheits- und Infektionsschutz müsse im Mittelpunkt stehen, so die GEW. Bislang seien sowohl Fragen des Infektionsschutzes als auch der Hygiene und Sauberkeit in den Bildungseinrichtungen vielfach nicht gelöst. So müssten beispielsweise auch ausreichend Schutzmasken zur Verfügung gestellt werden. Zudem sei die Frage des Schülertransports ungeklärt: Im öffentlichen Nahverkehr könne die Gefahr von Infektionen kaum minimiert werden. Auch sei die Umsetzung von Abstandsregeln in den meisten Klassenräumen problematisch. Tepe erinnerte außerdem an den hohen Anteil von Erziehern und Pädagogen, die der Risikogruppe angehören. Auch sei ein Schichtbetrieb vielfach nicht möglich.
Der Deutsche Kitaverband lehnt die Empfehlungen der Leopoldina zur Wiederöffnung der Kitas in Deutschland ab. Die Bundesvorsitzende Waltraud Weegmann nannte den Vorschlag, Kitas vorerst für Fünf- und Sechsjährige wieder zu öffnen und für alle anderen Kinder bis zum Sommer nur Notbetreuung anzubieten, einen »weitreichenden Eingriff«. Eine Schließung bis zu den Sommerferien würde die Eltern in große Nöte bringen, sagte Weegmann der »Heilbronner Stimme« und dem »Mannheimer Morgen«.
Viele Eltern hätten Berufe, in denen sie nicht im Homeoffice arbeiten könnten. »Bleiben die Kitas zu, stellt dies die Familien vor unlösbare Probleme.« Die Wissenschaftler der Leopoldina hatten für die Wiederöffnung der Kitas einen Betrieb mit reduzierten Gruppengrößen von maximal fünf Kindern je Raum ab einem Alter von fünf Jahren empfohlen.
Weil kleinere Kinder sich nicht an Distanzregeln und Schutzmaßnahmen hielten, sollten die Kitas für sie bis zu den Sommerferien im Notbetrieb bleiben. Weegmann warnte davor, dass die Träger von nicht-kommunalen Kitas bei einer Verlängerung der Schließungen Einnahmeausfälle von bis zu 30 Prozent kompensieren müssten. Der Kitaverband vertritt die Interessen von rund 60 freien Kita-Trägern in Deutschland.
Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery hält die Empfehlungen der Leopoldina zur schrittweisen Öffnung in der Corona-Krise für richtig. Was die Leopoldina vorgeschlagen habe, sei genau »die Exit-Strategie, die wir gefordert haben«, sagte der Vorsitzende des Weltärztebundes heute im SWR.
Er forderte zugleich den Aufbau eines »Monitoring-Systems« zur weiteren Beobachtung der Ausbreitung des Virus, um feststellen zu können, ob man »an der einen oder anderen Stelle wieder etwas zurücknehmen muss oder woanders etwas mehr Gas geben kann«. Eine weitere Rückkehr zur Normalität sei nur möglich, wenn Neuinfektionen und daraus folgende schwere Verläufe unterhalb der Kapazitätsgrenze des Gesundheitswesens blieben. Die Kliniken in Deutschland sieht Montgomery gut gerüstet. Im Gegensatz zu Frankreich, wo man das Gesundheitssystem »kaputtgespart« habe, sei Deutschland wesentlich besser vorbereitet gewesen.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.