Nicht für jeden zu empfehlen |
Bei niedrig dosierter Acetylsalicylsäure ist genau zwischen der Sekundär- und der Primärprävention kardiovaskulärer Ereignisse zu unterscheiden. / Foto: Getty Images/Mladen Zivkovic
Eine 55-jährige Patientin, die im Rahmen der Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen (ARMIN) betreut wird, möchte ohne Rezept ASS 100 mg erwerben. Als Begründung gibt sie an, dass sie Diabetikerin ist und Angst hat, einen Herzinfarkt zu erleiden. Sie habe gehört, dass die Einnahme von ASS 100 mg bei Diabetikern sinnvoll ist. Probleme mit dem Herzen sind zwar noch nicht aufgetreten, sie hat aber zusätzlich Bluthochdruck. Bei der letzten ärztlichen Kontrolle betrug der Blutdruckwert 127/79 mmHg.
Entsprechend dem ärztlich abgestimmten ARMIN-Medikationsplan nimmt die Patientin momentan Metformin (500 mg, 1-0-1) und Sitagliptin (100 mg 1-0-0) zur Behandlung des Typ-2-Diabetes, Ramipril (5 mg 1-0-0) und Amlodipin (5 mg 1-0-0) zur Senkung des Blutdrucks sowie Levothyroxin-Natrium (75 µg 1-0-0) aufgrund einer Schilddrüsenunterfunktion ein. Ist die zusätzliche Einnahme von ASS sinnvoll?
Der Nutzen von ASS in der Sekundärprävention vaskulärer Ereignisse ist unumstritten. Klinische Studien haben gezeigt, dass die regelmäßige Einnahme von ASS in niedriger Dosierung zu einer Reduktion des Auftretens schwerer vaskulärer Ereignisse führt (6,7 Prozent versus 8,2 Prozent). Bei regelmäßiger Einnahme von ASS 100 mg pro Tag über ein Jahr wird demnach bei 1 bis 2 von 100 Patienten mit koronarer Herzkrankheit ein Herzinfarkt oder Schlaganfall verhindert.
In der Primärprävention wurde der Nutzen von ASS in Studien bisher unterschiedlich bewertet. Aufgrund der heterogenen Designs und der variierenden Einschlusskriterien der einzelnen Studien sind diese nur schwer vergleichbar. In Metaanalysen konnte zwar insgesamt eine Risikoreduktion für schwere vaskuläre Ereignisse, aber keine Reduktion der kardiovaskulären Mortalität gezeigt werden. Zusätzlich traten unter ASS häufiger schwere Blutungen auf. 2018 zeigten nun drei große Studien, dass ASS 100 mg zur Primärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen bei gesunden Älteren über 70 Jahre, Menschen mit einem moderaten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse oder Diabetes nicht zu empfehlen ist.
Diabetiker haben im Vergleich zu gesunden Patienten ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko. Daher erscheint die Vermutung naheliegend, dass diese Patientengruppe von einer Primärprävention mit ASS profitieren könnte. Die ASCEND-Studie zeigte allerdings, dass der Nutzen nur gering ist. Die relative Risikoreduktion kardiovaskulärer Erkrankungen lag bei 12 Prozent. Im Beobachtungszeitraum von 7,4 Jahren trat bei 8,5 Prozent der Patienten unter ASS und bei 9,6 Prozent der Patienten unter Placebo ein schwerwiegendes kardiovaskuläres Ereignis auf. Damit profitierte von der mehrjährigen täglichen Einnahme von ASS nur 1 von 100 Diabetikern. Demgegenüber war das Risiko für größere Blutungen gesteigert, und zwar relativ um 29 Prozent (4,1 Prozent unter ASS versus 3,2 Prozent unter Placebo). Insgesamt ergab die ASCEND-Studie somit kein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis für die ASS-Primärprävention bei Diabetikern.
Für gesunde ältere Menschen über 70 Jahre unterschieden sich die Ergebnisse in der ARRIVE-Studie hinsichtlich der Wirksamkeit nicht signifikant zwischen ASS 100 mg und Placebo. In der ASPREE-Studie an Menschen ohne Diabetes mit einem moderaten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse war die Gesamtsterblichkeit in der ASS-Gruppe mit 5,9 Prozent sogar signifikant höher als in der Placebogruppe mit 5,2 Prozent. Das Blutungsrisiko war in der ASPREE- und der ARRIVE-Studie ebenfalls signifikant erhöht, sodass das Nutzen-Risiko-Verhältnis bei diesen Patientengruppen eindeutig negativ ausfiel.
Neben Diabetes zählen vor allem Hypertonie, Dyslipoproteinämie und Nikotinabusus als beeinflussbare Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen. Bei Typ-2-Diabetikern sollten daher neben den Blutzuckerwerten das Körpergewicht, der Lipidstatus und der Blutdruck regelmäßig kontrolliert werden. Die Nationale Versorgungsleitlinie »Therapie des Typ-2-Diabetes«, die aktuell überarbeitet wird, empfiehlt einen HbA1c-Zielkorridor von 6,5 bis 7,5 Prozent (48 bis 58 mmol/mol), eine LDL-Cholesterol-Senkung auf einen Zielwert < 100 mg/dl (< 2,6 mmol/l), eine Gewichtsabnahme um etwa 5 Prozent bei einem Body-Mass-Index (BMI) ≥ 27 kg/m2 beziehungsweise um mehr als 10 Prozent bei einem BMI > 35 kg/m2 und
einen Blutdruck < 140/80 mmHg.
In der neuen europäischen Leitlinie zur Hypertonie wurde der Grenzwert für die Klassifikation der Hypertonie nicht verändert, der Zielwert des Blutdrucks aber gesenkt. Bei allen Patienten mit Diabetes wird eine medikamentöse Behandlung ab einem Blutdruck ≥ 140/90 mmHg empfohlen. Bei Patienten über 65 Jahre ist ein Zielblutdruckbereich von 120 bis 130/70 bis 79 mmHg anzustreben, bei älteren Patienten von 130 bis 139/70 bis 79 mmHg. Die Therapie sollte mit einer Kombination aus Hemmern des Renin-Angiotensin-Systems (RAS) und Calciumantagonisten oder RAS-Hemmern und Diuretikum begonnen werden.
Bei Patienten mit Diabetes sollte der behandelnde Hausarzt das kardiovaskuläre Risiko beurteilen. Die Leitlinie »Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention« empfiehlt hierzu den Arriba-Rechner, der Alter, Geschlecht, systolischen Blutdruck, Rauchen, Gesamtcholesterol, HDL-Cholesterol, blutdrucksenkende Medikation, Diabetes und eine manifeste koronare Herzkrankheit bei Verwandten ersten Grades in die Berechnung als Prädiktoren einbezieht. Patienten mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko sollten vom Arzt bezüglich gesundheitsbezogener Verhaltensweisen beraten werden. Bei einem absoluten Risiko über 20 Prozent für kardiovaskuläre Ereignisse in zehn Jahren wird eine Statintherapie empfohlen.
Bei der ARMIN-Patientin besteht primärprophylaktisch keine Indikation für eine Therapie mit ASS 100 mg. Der von der Patientin genannte Blutdruckwert liegt im empfohlenen Zielbereich, sodass diesbezüglich keine ärztliche Intervention erforderlich ist. Der behandelnde ARMIN-Arzt sollte über die Bedenken der Patientin informiert werden, damit er bei ihrem nächsten Arztbesuch gegebenenfalls eine hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention durchführt.
Dr. Lisa Goltz und Dr. Jane Schröder sind Apothekerinnen und beim ARMIN-Arzneimittelberatungsdienst der Klinik-Apotheke am Universitätsklinikum an der TU Dresden tätig. Dort unterstützen sie an der Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen teilnehmende sächsische Apotheker und Ärzte bei fachlichen Fragen. Die Beratung wird von der Sächsischen Landesapothekerkammer, der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen und der AOK PLUS finanziert.