Neues langwirksames Therapieregime bei HIV-Infektion |
Annette Rößler |
07.06.2021 07:00 Uhr |
Alle paar Wochen zwei Injektionen beim Arzt statt täglich Tabletten schlucken: Die gute Planbarbeit der HIV-Therapie mit Cabotegravir plus Rilpivirin macht sie wahrscheinlich vor allem für pillenmüde Patienten attraktiv. / Foto: Adobe Stock/Gina Sanders
Cabotegravir (Vocabria® 400 mg/600 mg Depot-Injektionssuspension und 30 mg Filmtabletten, Viiv Healthcare) ist ein neuer HIV-Integrasehemmer (INI), der stets mit dem nicht nukleosidischen Reverse-Transkriptase-Hemmer (NNRTI) Rilpivirin kombiniert wird. Damit ein Patient mit dem neuen Regime behandelt werden darf, müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein: Er muss erwachsen sein und bereits stabil auf eine andere antiretrovirale Kombinationstherapie eingestellt sein. Zudem dürfen keine gegenwärtigen oder historisch dokumentierten Resistenzen gegen NNRTI oder INI oder ein virologisches Versagen gegenüber Wirkstoffen dieser Klassen vorliegen.
Die Therapie beginnt mit einer oralen Einleitungsphase von einem Monat zur Prüfung der Verträglichkeit, in der einmal täglich eine 30-mg-Filmtablette Vocabria zusammen mit einer 25-mg-Filmtablette Rilpivirin (Edurant®) zu einer Mahlzeit eingenommen wird. Am letzten Tag der oralen Einleitungsphase erfolgt dann die erste Injektion: Der Patient erhält jeweils eine Spritze in den rechten und eine in den linken Gesäßmuskel, eine mit 600 mg Cabotegravir und eine mit 900 mg Rilpivirin (Rekambys®). Entscheidet er sich für die monatliche Fortsetzung der Therapie, bekommt er in gleicher Weise nach 28 Tagen und dann weiter im Monatsrhythmus je 400 mg Cabotegravir und 600 mg Rilpivirin injiziert. Bei der Wahl des zweimonatlichen Regimes wird zunächst noch einmal nach einem Monat eine Injektion von 600 mg/900 mg Cabotegravir/Rilpivirin gegeben und dann weiter diese Dosierung im Zweimonatsabstand.
Bei der Planung der Arztbesuche für die Injektionen haben Arzt und Patient einen gewissen Spielraum: Die Abstände zwischen den Injektionen dürfen bis zu sieben Tage vom Monats- beziehungsweise Zweimonatsturnus abweichen. Soll eine Injektion um mehr als sieben Tage verschoben werden, kann auch kurzfristig wieder auf die orale Darreichungsform umgestiegen werden. Diese Form der Überbrückung sollte jedoch nicht länger dauern als zwei Monate. Ist auch nach zwei Monaten keine Rückkehr zur Injektionstherapie möglich, empfiehlt die Fachinformation, auf ein alternatives orales antiretrovirales Regime (ART) umzusteigen.
Die gleichzeitige Anwendung von Rifampicin, Rifapentin, Carbamazepin, Oxcarbazepin, Phenytoin oder Phenobarbital senkt die Plasmakonzentration von Cabotegravir und ist deshalb kontraindiziert. Die gleichzeitige Anwendung mit Rifabutin sollte vermieden werden. Cabotegravir hemmt die organischen Anionentransporter (OAT) 1 und OAT3. Bei gleichzeitiger Anwendung von Arzneistoffen wie Methotrexat, die OAT1 und OAT3 nutzen und eine enge therapeutische Breite haben, ist ebenfalls Vorsicht geboten.
Die Anwendung von Cabotegravir während der Schwangerschaft wird nicht empfohlen, es sei denn, der erwartete Nutzen rechtfertigt das potenzielle Risiko für den Fötus. Um eine Übertragung von HIV auf das Baby zu vermeiden, wird HIV-infizierten Müttern generell vom Stillen abgeraten.
Reaktionen an der Injektionsstelle, Kopfschmerzen und Fieber waren in Studien die häufigsten Nebenwirkungen von Cabotegravir. Die Lokalreaktionen umfassten Schmerzen und Unbehagen, Knötchen und eine Verhärtung des Gewebes (Induration), betrafen in Studien bis zu 84 Prozent der Patienten, nahmen mit der Zeit aber ab. Kopfschmerzen und Fieber waren mit bis zu 12 Prozent beziehungsweise bis zu 10 Prozent betroffenen Probanden seltener.
Ausschlaggebend für die Zulassung von Cabotegravir waren die randomisierten, offenen Phase-III-Studien FLAIR, ATLAS und ATLAS-2M. In der FLAIR-Studie wurden 566 zuvor therapienaive HIV-Patienten, die durch eine 20-wöchige Therapie mit einem Dolutegravir-haltigen INI-Regime virologische Suppression erreicht hatten (HIV-1-RNA < 50 Kopien/ml), im Verhältnis 1:1 auf eine Cabotegravir/Rilpivirin-Therapie oder eine Beibehaltung ihrer aktuellen ART randomisiert. Die Cabotegravir/Rilpivirin-Therapie erfolgte nach der einmonatigen oralen Einleitungsphase per Injektion im Monatsrhythmus. Nach 48 Wochen erreichten unter diesem Regime 265 Patienten (93,6 Prozent) virologische Suppression und im Kontrollarm 264 Patienten (93,3 Prozent), womit die Nichtunterlegenheit gezeigt war.
Die 616 Teilnehmer der ATLAS-Studie waren HIV-infizierte Patienten, die bereits stabil auf ein ART-Regime eingestellt waren und zum Studienstart mindestens sechs Monate virologisch supprimiert waren. Auch sie wurden im Verhältnis 1:1 randomisiert entweder auf Cabotegravir/Rilpivirin umgestellt oder behielten ihre vorherige ART bei, wobei bei den umgestellten Patienten wiederum nach einmonatiger oraler Einleitungsphase auf die monatliche Injektion geswitcht wurde. Auch hier konnte nach 48 Wochen mit 285 virologisch supprimierten Patienten im Cabotegravir/Rilpivirin-Arm (92,5 Prozent) und 294 virologisch supprimierten Patienten im Kontrollarm (95,5 Prozent) die Nichtunterlegenheit gezeigt werden.
In der ATLAS-2M-Studie wurde das zweimonatliche Injektionsschema der Cabotegravir/Rilpivirin-Therapie mit dem monatlichen verglichen. Die 1045 Teilnehmer waren vorbehandelte, virologisch supprimierte HIV-Patienten. Von denjenigen, die alle zwei Monate gespritzt wurden, erreichten 492 Patienten (94,3 Prozent) nach 48 Wochen virologische Suppression und von denjenigen, die jeden Monat gespritzt wurden, 489 Patienten (93,5 Prozent).
Cabotegravir gehört in die Gruppe der Schrittinnovationen. Die Substanz ist hinsichtlich ihres Wirkprinzips nicht besonders innovativ, sondern ein weiterer HIV-Integrasehemmer. Interessant ist sie in Kombination mit Rilpivirin jedoch, weil es sich dabei um die erste langwirksame HIV-Therapie handelt. In der Erhaltungsphase sind die Wirkstoffe nur noch alle zwei Monate zu injizieren. Das ist eine Erleichterung für Patienten, denen eine einmal tägliche Einnahme Probleme bereitet, zum Beispiel aufgrund von Schluckbeschwerden oder Ängsten vor dem Vergessen einer Einnahme. Auch für Patienten, die sich Sorgen machen um die Offenlegung ihres HIV-Status, wenn sie zu Hause täglich eine Tablette einnehmen, kann diese Therapie, die in der Arztpraxis verabreicht wird, ein großer Vorteil sein. Natürlich sind auch die nachgewiesene Wirksamkeit und gute Verträglichkeit entscheidende Gründe für die Einstufung als Schrittinnovation. Voraussichtlich wird man in der Zukunft übrigens noch mehr von Cabotegravir hören. Denn auch als HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP) – ebenfalls als Zweimonatsspritze – ist der Wirkstoff als Monotherapie im Gespräch.
Sven Siebenand, PZ-Chefredakteur