Neue Kandidaten gegen Coronaviren und Warnung vor Dextromethorphan |
| Daniela Hüttemann |
| 01.05.2020 15:46 Uhr |
Das Coronavirus hat nur 29 Proteine und ist für seine Vermehrung auf die Wirtszelle angewiesen. Forscher haben nun antivirale Kandidaten identifiziert, die die gleichen menschlichen Targets wie die Viren adressieren. / Foto: Getty Images/eranicle
In dem gemeinsamen interdisziplinären Projekt unter Federführung der University of California San Francisco (UCSF) suchten Forscher um Professor Dr. Nevan Krogan nach Substanzen gegen das neuartige Coronavirus, die bereits in anderen Indikationen zugelassen sind oder in der (prä-)klinischen Entwicklung, und die nicht an viralen Proteinen, sondern menschlichen Zielstrukturen angreifen.
Dazu erstellten sie zunächst eine interaktive Karte, wie SARS-CoV-2 die menschliche Zelle unter seine Kontrolle beginnt. »Das Virus hat nur 29 Proteine, der Mensch dagegen rund 20.000. Es ist auf menschliche Proteine angewiesen«, so Krogan bei einem Pressebriefing des Fachmagazins »Nature«, wo die Studie am Donnerstagabend veröffentlicht wurde.
Die Wissenschaftler untersuchten, wie die viralen Proteine mit den menschlichen interagieren. Sie fanden 332 nennenswerte Interaktionen. 66 menschliche Proteine machten sie als »drugable targets« aus. Diese seien Zielstruktur für 69 bekannte Wirkstoffe, von denen wiederum 29 bereits in den USA zugelassen sind, während sich zwölf Substanzen klinischen Studien befinden und 28 präklinisch untersucht werden. »Während andere Gruppen nach Wirkstoffen suchen, die sich gegen die viralen Proteine richten, haben wir uns auf die Wirtsproteine fokussiert«, erklärt Krogan. Davon erhoffe man sich ein niedrigeres Resistenzpotenzial und ein Breitspektrumwirkung gegen viele Viren, auch wenn das Toxizitätsrisiko tendenziell höher sei als beim umgekehrten Ansatz.
Im Rahmen der Kooperation testeten Wissenschaftler der Icahn School of Medicine am Mount Sinai Hospital in New York und am Pasteur-Institut in Paris bislang 47 der Substanzen in Vero-Zellen, einer Zelllinie, die von Meerkatzen stammt. Dazu inkubierten sie die Zellen zunächst mit einem Wirkstoff für zwei Stunden, bevor sie sie mit SARS-CoV-2 infizierten. Einige Substanzen wirkten sehr gut antiviral, ohne die Zellen zu schädigen, berichten die Forscher, laut Krogan sogar deutlich stärker als der derzeitige Hoffnungsträger Remdesivir. Dabei lagen nur zwei Wirkmechanismen zugrunde: Entweder blockierten sie die Protein-Translation bei der viralen Replikation oder sie griffen an menschlichen Sigma1- und Sigma2-Rezeptoren an.
Zur ersten Gruppe gehören Plitidepsin (auch Ternatin-4 oder Dehydrodidemnin B genannt) und Zotatifin. Der Naturstoff Plitidepsin hemmt den Elongationsfaktor 1-alpha (EF1A), ein für die Translation genetischer Information an den Ribosomen wichtiges menschliches Protein, das auch das Virus für die Replikation nutzt. Plitidepsin ist unter dem Handelsnamen Aplidin® ist in den USA bereits zugelassen zur Therapie des multiplen Myeloms; in der EU wurde die Zulassung abgelehnt. Der spanische Hersteller Pharmamar hatte erst diesen Mittwoch mitgeteilt, dass die spanische Arzneimittelbehörde die Genehmigung für eine klinische Studie mit Covid-19-Patienten genehmigt hat. Die Studie trägt den Namen APLICOV-PC.
Zotatifin von Effector Therapeutics ist noch nicht zugelassen und wird derzeit klinisch in einer Phase-I/II-Studie mit Patienten mit soliden Tumoren getestet. Der Arzneistoffkandidat hemmt den eukaryotischen Initiationsfaktor 4A (eIF4A), ein menschliches Enzym, dass komplexe RNA-Strukturen entwindet. Auch dieses Enzym nutzt SARS-CoV-2 für eigene Zwecke. »Während wir uns weiter auf unser Krebs-Pipeline fokussieren, planen wir nun auch das Potenzial von Zotafidin für die Behandlung von Covid-19 zu untersuchen«, teilte Effector Therapeutics parallel zur »Nature«-Veröffentlichung mit.
Neun weitere Substanzen wirken als Modulatoren der humanen Sigma1- und -2-Rezeptoren: die Antihistaminika Cloperastin und Clemastin, das Neuroleptikum Haloperidol, das Malaria- und Rheumamedikament Hydroxychloroquin, das Hormon Progesteron, das Anxiolytikum Siramesin sowie die beiden präklinischen Substanzen PB28 und PD-144418 – und das Antitussivum Dextromethorphan. Während die ersten acht Substanzen in vitro antiviral gegen SARS-CoV-2 wirkten, zeigte Dextromethorphan dagegen eine provirale Wirkung in der Zellkultur.
Woran liegt das? Dazu muss man sich den postulierten Wirkmechanismus genauer ansehen. »Sigma-Rezeptoren waren lange Zeit in der Pharmakologie ein Mysterium«, erläuterte Koautor Dr. Brian Shoichet, Professor für Pharmazeutische Chemie an der UCSF, auf Nachfrage der Pharmazeutischen Zeitung.
Der Sigma1-Rezeptor spiele eine Rolle bei der Stressantwort der Zelle. Er sitzt normalerweise als Trimer auf der Membran des endoplasmatischen Retikulums. Bei Stress differiere er zu Monomeren. »Wir vermuten, dass das Virus eine Stressantwort auslöst«, so Shoichet. Aber wie genau dies passiert, wissen die Wissenschaftler noch nicht. Acht der Sigma-Rezeptormodulatoren scheinen die Stressantwort zu inhibieren, so ihre Hypothese. »Welche Funktion der Sigma2-Rezeptor in der Zelle hat, wissen wir noch nicht, aber vielleicht offenbart uns das jetzt das Virus«, so der Pharmazieprofessor. Daran solle weiter geforscht werden.
Das Antitussivum Dextromethorphan (DXM) sei dagegen ein Agonist am Sigma1-Rezeptor und löse dadurch wie das Virus eine Stressantwort aus, so Shoichet weiter. Das könnte die virale Wirkung verstärken, erklären die Forscher ihre Vermutung gegenüber der Pharmazeutischen Zeitung.
Für sie sind diese Hypothese und die Ergebnisse ihrer In-vitro-Versuche ausreichend, um vor dem Einsatz des OTC-Mittels bei Covid-19-Infektionen zu warnen, trotz Einwands der Pharmazeutischen Zeitung, dass bislang keine klinische Evidenz oder Sicherheitssignale zu Dextromethorphan bei Coronavirus-Infektionen vorliegen.
Sowohl der Molekularbiologe Krogan als auch der Chemiker Shoichet raten trotzdem zur Vorsicht. Während Krogan sagte, »ich würde Dextromethorphan nicht mehr einnehmen«, äußerte sich Shoichet etwas zurückhaltender: »Wir empfehlen nicht, dass alle die Einnahme von Dextromethorphan stoppen, aber es wäre falsch, die provirale Aktivität in unseren Versuchen nicht zu betonen«, so Shoichet. Aber natürlich brauche es weitere Untersuchungen und auch klinische Studien dazu.
Die Forscher berichten außerdem, dass Hydroxychloroquin nicht nur an die Sigmarezeptoren bindet, was sich moderat antiviral auswirkte, sondern auch einen Ionenkanal im Herzen, das Protein hERG. Sie vermuten, dass hierüber die Nebenwirkungen wie Herz-Rhythmus-Störungen, vor denen diese Woche die Arzneimittelbehörden noch einmal warnten, zustande kommen. Ohnehin seien andere Substanzen in vitro potenter bezüglich ihrer antiviralen Wirkung gewesen. Der präklinische Krebswirkstoff PB28 binde 20-mal effizienter an die Sigmarezeptoren als Hydroxychloroquin, so Krogan, jedoch deutlich weniger an hERG, daher rechnet er nicht mit kardiotoxikologischen Effekten.
Die Forscher schlagen nun vor, die vielversprechenden Kandidaten weiter zu testen und da für viele ja bereits die Sicherheitsprofile bekannt sind, auch direkt in klinischen Studien. Koautor Professor Dr. Kevin Shokat geht von einer zweiten Welle neuer klinischer Studien im Herbst aus. Bezüglich der Toxizität ist er optimistisch, schließlich würden die Arzneistoffe im Falle einer antiviralen Behandlung nur ein bis zwei Wochen gegeben werden und nicht langfristig, wie oft in ihren Ursprungsindikation. Außerdem will das internationale Team weitere Substanzen in vitro anhand ihres Modells testen.
Sie hoffen, dass die Arzneistoffe sogar prophylaktisch vor einer Covid-19-Infektion schützen können. »Wir brauchen aber unbedingt klinische Studien, bevor wir ihren Einsatz bei Covid-19 empfehlen können«, betonte Studienleiter Krogan. Am vielversprechendsten sei wie bei Ebola oder HIV vermutlich ein Cocktail von Arzneistoffen mit verschiedenen Wirkmechanismen, darunter auch Substanzen wie Remdesivir, die sich gegen virale Zielstrukturen richten.
Die Forscher hoffen zudem, dass die Wirkstoffe nicht nur gegen das neue Coronavirus wirken. Sie gehen von einer breiteren antiviralen Wirkung aus. »In unseren Untersuchungen mit anderen Viren wie Dengue, Zika und Ebola sehen wir immer wieder die gleichen Zielstrukturen«, so Krogan.
Interessant war auch, dass das Sexualhormon Progesteron zu den aussichtsreichen Kandidaten gehört. Da Frauen höhere Werte habe, könne dies erklären, warum sich nach bisherigen Erkenntnissen mehr Männer als Frauen mit dem neuen Coronavirus infizieren und auch daran sterben. Progesteron wirkte in den Zellversuchen allerdings nicht so stark antiviral wie andere Kandidaten. Außerdem habe es multiple Effekte im Körper. Daher sei viel weitere Forschung nötig, um seine Rolle bei Covid-19-Infektionen zu ergründen, so Shoichet.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.