Muslime in der Apotheke |
Geht es um tabuisierte Gesundheitsprobleme, fällt die Kommunikation unter Gleichgeschlechtlichen oft leichter. / Foto: Getty Images/FatCamera
Eine besondere Zeit im islamischen Kalender ist der Fastenmonat Ramadan, der in diesem Jahr am Abend des 13. April begonnen hat. Gläubige Muslime fasten von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang. Essen, Trinken, Rauchen und Geschlechtsverkehr sind während des Tages tabu. Auch die Einnahme oraler Arzneiformen bricht das Fastengebot. Zwar gibt es Ausnahmen, zum Beispiel für Schwache und Kranke, dennoch fasten viele Patienten, obwohl sie eine Ausnahmeregel ihrer Religion in Anspruch nehmen könnten. Ist die Sonne untergegangen, wird das Fasten unterbrochen.
Aufgrund des veränderten Tagesrhythmus treten immer wieder arzneimittelbezogene Probleme auf. So unterbrechen Patienten häufig ihre Medikation im Ramadan, ohne mit einem Arzt oder Apotheker Rücksprache zu halten. Andere nehmen die über den Tag zu verteilenden Arzneimittelgaben auf einmal ein oder lassen die Dosierungen während des Tages einfach weg. In vielen Fällen sind Medikationsfehler oder -ausfälle jedoch durch eine Dosisanpassung oder einen Präparatewechsel vermeidbar. Auf Darreichungsformen umzustellen, die das Fastengebot nicht verletzen, zum Beispiel Injectabilia anstelle von Peroralia, ist eine weitere Option.
Besonders achtsam sollten Patienten mit chronischen Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes sein. Apotheker können sie beratend begleiten.
Im Januar 2021 erschien die aktualisierte Leitlinie »Diabetes and Ramadan: Practical Guidelines«, die in englischer Sprache von der International Diabetes Federation (IDF) in Kooperation mit der Diabetes and Ramadan (DAR) International Alliance herausgegeben wurde. Sie ist kostenlos verfügbar unter www.idf.org/guidelines/diabetes-in-ramadan. Die Leitlinie ist mit religiösen Instanzen abgestimmt und soll den Empfehlungen so zu mehr Durchschlagskraft im Alltag verhelfen.
Im Ramadan hat das gemeinsame Fastenbrechen und Essen nach Sonnenuntergang eine besondere Bedeutung. / Foto: Adobe Stock/Oguzhan Dursun
Viele Empfehlungen der aus dem Jahr 2016 stammenden Vorgängerversion der Leitlinie wurden bestätigt (siehe Beitrag »Diabetes-Patienten: Sicher durch den Ramadan«). So gelten Glitazone, Glinide, Gliptine und GLP1-Rezeptor-Agonisten weiterhin als im Ramadan gut geeignete Antidiabetika, da das Risiko einer Hypoglykämie gering eingeschätzt wird. Für diese Arzneimittel ist keine Dosisanpassung erforderlich. Wohl aber müssen die Einnahmezeitpunkte an den Rhythmus des Fastenmonats angepasst werden.
Wer zum Beispiel außerhalb des Ramadan dreimal täglich Metformin einnimmt, soll die Morgendosis zum Morgenmahl (Sahur, siehe Glossar) schlucken. Die beiden weiteren Dosen werden zusammen zur Abendmahlzeit (Iftar) gegeben. Wer freisetzungsverzögertes Metformin anwendet, nimmt das Arzneimittel zum Iftar. Insulin-Sensitizer nimmt der Patient am besten zum Iftar oder Sahur ein.
Ihre kurze Halbwertszeit macht die Glinide zu einer gut für den Ramadan geeigneten Arzneistoffklasse. Die Einnahme erfolgt etwa 30 Minuten vor dem Essen. Die auf eine Drei-Mahlzeiten-Dosierung bezogene Tagesdosis kann in Absprache mit dem Arzt je nach Größe der Mahlzeiten reduziert oder auf zwei Dosen verteilt werden. Die Einnahme erfolgt dann vor Iftar und Sahur.
Gliptine sind ebenfalls eine attraktive Therapieoption für fastende Diabetes-Patienten, denn Studien zeigten für sie das niedrigste Risiko von Hypoglykämien während des Fastens. Eine Therapieanpassung im Ramadan ist nicht erforderlich.
Die Anwendung von SGLT-2-Inhibitoren im Ramadan empfiehlt die Leitlinie hingegen nur mit Vorsicht. Die Autoren sehen eine erhöhte Gefahr von Infektionen sowie für eine Ketoazidose aufgrund einer möglichen Dehydrierung, da der Wirkmechanismus der Gliflozine auf der Hemmung renaler Natrium-abhängiger Glucosetransporter beruht. Die Folge ist eine vermehrte Glucosurie. Wichtig ist, dass die Patienten auf eine zusätzliche Flüssigkeitszufuhr am Abend achten. Für ältere Menschen, Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion oder Bluthochdruck oder bei Einnahme von Diuretika werden Gliflozine während des Fastens nicht empfohlen.
Foto: Staiger
Fidya: Geld- und/oder Lebensmittelspenden an die Armen, wenn während des Ramadan ein Fasten ausgelassen oder gebrochen wird
IDF: International Diabetes Federation
Iftar: Mahl am Abend nach Sonnenuntergang während des Ramadan
Imam: religiöse Führungsrolle innerhalb muslimischer Gemeinden, Leitung der Gebete
Maghrib: eines der verpflichtenden fünf täglichen Gebete im Islam, im Ramadan markiert es gleichzeitig das Ende des täglichen Fastens
Ramadan: »brennende Hitze«, Fastenmonat der Muslime, 9. Monat des islamischen Mondkalenders
Scha'ban: Monat vor dem Ramadan
Schawwal: Monat nach dem Ramadan
Sahur/Suhoor: letzte Mahlzeit vor Sonnenaufgang während des Ramadan
Neu in der Leitlinie ist die Risikostratifizierung der Patienten in drei Klassen anhand eines Punktesystems. Gegenüber der bisher gültigen starren Kategorisierung ermöglicht dies eine individuellere Risikoeinschätzung. In zwölf Kategorien werden Risikofaktoren mit Punkten bewertet. Wer zum Beispiel in den letzten drei Monaten vor dem Ramadan eine schwere Hypoglykämie oder ungeklärte diabetische Ketoazidose erlitten hat oder schwanger ist, erhält eine hohe Punktzahl. Auch Laborparameter, die bestehende Medikation oder die Länge der Fastentage in Abhängigkeit von der Jahreszeit werden bepunktet.
Wichtig ist zudem die regelmäßige Blutzuckerkontrolle. Die Überprüfung des Blutzuckerspiegels bricht nicht das gültige Fasten, was viele Patienten fälschlich glauben. Im Gegenteil: Während des Ramadan sollten Diabetiker besonders intensiv ihren Blutzuckerspiegel messen (Grafik). Die Leitlinie empfiehlt feste Zeitpunkte: vor dem Morgenmahl (Sahur), im Lauf des Vormittags, zu Mittag (12 Uhr), in der Mitte des Nachmittags, vor der Abendmahlzeit (Iftar) sowie zwei Stunden nach dem Iftar. Zusätzlich muss immer dann gemessen werden, wenn sich Zeichen von Hyper- oder Hypoglykämie oder Unwohlsein zeigen.
Das Apothekenteam sollte gegebenenfalls rechtzeitig vor dem Ramadan eine Schulung zum richtigen Blutzuckermessen anbieten.
Empfohlene Zeitpunkte für die Blutzuckermessung (nach IDF-Leitlinie 2021). Wichtig: Die Blutzuckermessung bricht nicht das Fastengebot. / Foto: PZ/Stephan Spitzer
Mit der Patientenadhärenz befasste sich eine 2020 als Abstract veröffentlichte kleine Studie (DOI: 10.1136/annrheumdis-2020-eular.4062). Sie untersuchte den Einfluss des intermittierenden Fastens im Ramadan auf die Adhärenz und Verträglichkeit von krankheitsmodifizierenden Antirheumatika (DMARD) bei Patienten mit rheumatoider Arthritis.
Sieben Männer und 29 Frauen nahmen entweder Methotrexat, Sulfasalazin oder Leflunomid ein. Zu zwei Zeitpunkten wurden Daten erhoben: sechs Monate vor Beginn des Ramadan und nach dem Fasten von mindestens sieben Tagen. Das Ramadan-Fasten beeinflusste die Verträglichkeit der Wirkstoffe nicht und es wurden keine zusätzlichen Nebenwirkungen berichtet. Jedoch nahm weniger als Hälfte der Patienten Methotrexat wie empfohlen außerhalb der Mahlzeiten ein. Auch wenn die Verträglichkeit der antirheumatischen Medikation durch das Fasten bei der Mehrheit der Patienten nicht beeinträchtigt war, sank die Adhärenz, hauptsächlich aufgrund der fehlenden Zeit zwischen den beiden Hauptmahlzeiten.
Biologika, die immer injiziert werden, brechen das Fastengebot nicht und können somit auch während des Tages appliziert werden.
Bei zahlreichen Indikationen, zum Beispiel bei rheumatoider Arthritis, nehmen Patienten Peroralia ein. Das kann im Ramadan zum Problem werden. / Foto: Adobe Stock/9nong
Eine weitere Medikation, die im Ramadan Probleme bereiten kann, sind Schilddrüsenhormone, die nüchtern eingenommen werden müssen. Für den besten Einnahmezeitpunkt im Ramadan gibt es unterschiedliche Empfehlungen. So kann der Gläubige die Tagesdosis unmittelbar nach Sonnenuntergang schlucken und muss dann mindestens eine halbe Stunde mit der ersten Mahlzeit warten. Oder er steht morgens früher auf, um ausreichenden zeitlichen Abstand von mindestens einer halben Stunde zur Morgenmahlzeit zu wahren. Ein drittes mögliches Einnahmefenster liegt mindestens vier Stunden nach der Abendmahlzeit, also spät in der Nacht. Einige Patienten warten diesen Zeitpunkt ab und nehmen ihr Schilddrüsenpräparat, bevor sie zu Bett gehen.
Eine 2019 publizierte klinische Studie hat den besten Einnahmezeitpunkt untersucht (DOI: 10.1155/2019/9843961). Verglichen wurden die beiden erstgenannten Zeitpunkte, also direkt nach Sonnenuntergang und am Morgen ausreichend lange vor dem Frühstück. Es ergaben sich keine Vorteile für einen der beiden. Die Patienten sollten deshalb die Einnahme so terminieren, dass sie ihrem Tagesrhythmus am besten entspricht und sie dieses Einnahmeschema im gesamten Fastenmonat sicher durchhalten können.
Foto: Staiger
Welche Missverständnisse bei der Arzneimittelanwendung auftreten können, zeigt ein Beispiel (DOI: 10.1097/PTS.0000000000000175). Bei einer 19-jährigen Türkin mit männlichem Behaarungstyp, die in den USA lebte, setzte die Pubertät sehr verzögert ein. Die von den Ärzten empfohlene Hormonersatztherapie mit Dexamethason-Tabletten verlief zunächst erfolgreich. Verschiedene Laborwerte und Begleitumstände erforderten jedoch die Umstellung auf eine Dexamethason-Lösung (0,5 mg/5 mL). Die junge Frau sollte einen halben Teelöffel (2,5 mL) täglich einnehmen. In der Folge verschlechterte sich ihr Zustand massiv. Die Frau versicherte, ihre Medikation gewissenhaft eingenommen zu haben.
Was führte zum Therapieversagen? Simpel, aber kulturbedingt: die Größe des Teelöffels. Ein türkischer Teelöffel ist wesentlich kleiner (Abbildung) und wird nur zum Umrühren des Tees im typischen Glas benutzt. Größere, auch unserem »Teelöffel« entsprechende Löffel heißen im kulturellen Umfeld der Patientin einfach »Löffel«. Sie hatte gemäß der Angabe »halber Teelöffel« nicht nach der absoluten Menge in mL dosiert. Eine Erklärung des Begriffs »Teelöffel« oder die Mitgabe einer Dosierhilfe hätten das Missverständnis vermeiden können. Tipp für die Praxis: bei der Abgabe von Arzneimitteln an Patienten mit Migrationshintergrund immer an das Thema Dosiergenauigkeit denken.
Wer muslimische Patienten auch außerhalb des Ramadan in der Apotheke gut beraten möchte, sollte sich mit weiteren kulturellen und religiösen Besonderheiten vertraut machen. Man sollte sich jedoch vor Pauschalisierungen hüten, denn wie auch in anderen Religionen leben Muslime aus verschiedenen Ländern, Familien und Konfessionen ihren Glauben unterschiedlich streng.
Krankheit ist im Islam nicht nur die Angelegenheit eines Einzelnen; sie betrifft auch die ganze Familie. Krank ist nicht nur ein einzelner Körperteil oder ein Organ, sondern der ganze Mensch. Je nach Bildungsstand, Herkunftsland und Hintergrundwissen über biologische und medizinische Zusammenhänge haben Menschen ein anderes Verständnis für die Basisvorgänge des Körpers und dessen krankhafte Veränderungen. Teilweise sind Vorstellungen verbreitet, dass übernatürliche Kräfte wirken, die den Körper durch bestimmte Körperöffnungen penetrieren können und so von außen nach innen schwächen. Arzneimittel sollen helfen, die Krankheit auszutreiben. Auch die religiöse Vorstellung, dass Krankheit eine göttliche Prüfung oder Strafe darstellt, oder volksreligiöse Aspekte wie der »böse Blick« können eine Rolle spielen.
Vor allem ältere muslimische Patienten haben oft spezielle kulturelle und traditionelle Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit. / Foto: Adobe Stock/Diya
Der Islam verlangt von seinen Gläubigen, sich zurückhaltend zu kleiden und bescheiden zu verhalten. Streng traditionell orientierte muslimische Männer bedecken gewöhnlich den Körper und tragen oft eine Kopfbedeckung. Strenggläubige Frauen schützen den ganzen Körper vor fremden Blicken und zeigen oft nur Gesicht und Hände unbedeckt. Viele Muslime folgen liberaleren Regeln und kleiden sich in westlichem Stil, folgen in anderen Lebensbereichen aber den kulturellen Traditionen.
Neben Kleidervorschriften sind weitere moralische Regeln üblich. Sie folgen dem Konzept von Ehre und Respekt gegenüber dem islamischen Glauben und individuellen Pflichten gegenüber der Familie. Dazu gehört etwa, nicht zu viel Nähe zu Nicht-Muslimen oder Nicht-Familienmitgliedern herzustellen. Es gibt ausgesprochene Tabubereiche der gegengeschlechtlichen körperlichen Berührung, aber auch der körperliche Kontakt mit Nicht-Muslimen kann mögliche Scham- oder religiöse Grenzen berühren. Schon der Händedruck zwischen Männern und Frauen, die nicht verwandt oder verheiratet sind, kann für einige Muslime als Verletzung der Intimsphäre gelten. Auch direkter Augenkontakt kann respektlos oder aufdringlich wirken.
Wenn in der Apotheke Berührungen wie beim Blutdruckmessen oder Anmessen von Stützstrümpfen unumgänglich sind, ist Sensibilität gefragt. Spricht der Patient seine Wünsche nur zögerlich aus, kann es helfen, zum Beispiel die Anwesenheit eines weiteren Familienmitglieds bei der Beratung anzubieten. Die Dienstleistung erfolgt am besten durch gleichgeschlechtliches Apothekenpersonal.
Auch manche Frage zur Erkrankung oder Arzneimitteltherapie kann für einen Patienten peinlich und aufdringlich wirken. Alles was mit körperlichem Kontakt, mit Sexualität, etwa Menstruation oder Stillen, oder mit familiären Themen zu tun hat, gilt als strenger Tabubereich. In Begleitung eines männlichen Familienmitglieds spricht eine Patientin daher möglicherweise nicht offen über ihr Problem.
Komplikationen können auch entstehen, wenn ein Familienmitglied als Dolmetscher fungiert. Kranke zu schonen und ihnen deshalb nicht alle Details ihrer Erkrankung mitzuteilen, ist eine weitere kulturelle Besonderheit. Das Apothekenpersonal sollte diplomatisch reagieren, wenn der Eindruck entsteht, dass nicht alle Gesprächsteile übersetzt werden. Besondere Vorsicht gilt, wenn Kinder übersetzen. Eventuell verstehen sie die arzneimittelbezogenen Informationen gar nicht oder die Ehrfurcht vor der älteren Generation erschwert die Übermittlung von Gesundheitsthemen.
Auch das Verhalten des Personals kann die persönlichen Kulturgrenzen verletzen, zum Beispiel, wenn ein Apotheker oder männlicher PTA eine muslimische Frau in die Beratungsecke zum Gespräch bittet. Mindestens sollte eine weibliche Apothekenangestellte anwesend sein oder noch besser das Gespräch nur unter Frauen stattfinden.
Nach islamischem Verständnis steht der Kranke nicht im Abseits, sondern im Mittelpunkt der Familie. Dies erklärt den vielfach üblichen, zahlreichen und zeitlich ausgedehnten Besuch am Krankenhausbett oder die Begleitung durch Familienangehörige beim Arzt- und Apothekenbesuch.
Die Vorstellung, dass kranke Menschen besonders schmackhaftes und reichliches Essen brauchen, stellt Krankenhäuser vielfach vor Herausforderungen. Dies gilt auch für die mögliche Missachtung von Diätvorschriften oder Einnahmehinweisen von Arzneimitteln in zeitlichem Abstand zu Mahlzeiten.
Von Arzneimitteln wird oft eine sofortige Wirkung erwartet. Was keinen unmittelbar spürbaren Effekt hat, wird infrage gestellt. Dies kann die Adhärenz reduzieren oder stark schwanken lassen: Fühlt sich der Patient besser, lässt er die Medikation einfach weg; verschlechtern sich die Symptome, wird die empfohlene Dosis nicht selten überschritten.
Zugleich sind die Erwartungen an die Heilberufler viel autoritärer. Nach weit verbreiteter Erwartungshaltung weiß ein guter Arzt sofort, was der Patient hat, verordnet ein (wirkmächtiges) Medikament und entscheidet über die Therapie. Dies gilt auch für den Apotheker. Klare Anweisungen werden erwartet. Wer Alternativen zur Auswahl stellt und die Entscheidung dem Patienten überlässt, gilt schnell als inkompetent und schwach. Im Beratungsgespräch sollte das Apothekenpersonal mögliche Therapiealternativen mit geschickten Fragetechniken so eingrenzen, dass am Ende eine klare Empfehlung steht.
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Piktogramme können eine Option sein, um Sprachschwierigkeiten zu überwinden. Jedoch sind die Bildsymbole nicht selbsterklärend. Ihr Code muss wie bei einem fremden Verkehrszeichen erst erlernt werden. Dies wurde besonders deutlich, als die Piktogramme der U.S. Pharmacopoeia (USP) in vielen anderen Ländern der Welt zum Einsatz kamen. Sie lösten je nach Vorkenntnissen des Betrachters auch Missverständnisse aus.
Die internationale Dachorganisation der Apothekerinnen und Apotheker, die Fédération Internationale Pharmaceutique (FIP), befürwortet die Nutzung von Piktogrammen. Sie hat die Zeichenserie der USP um Bilder erweitert, die häufige Nebenwirkungen illustrieren sollen. Vier Symbolformen charakterisieren die Abbildungen, ähnlich wie im Straßenverkehr: Dreiecke stehen für Nebenwirkungen, Quadrate für Indikationen, Kreise für obligatorische Maßnahmen und durchgestrichene Kreise für Verbote.
Es ist wichtig, nur Piktogrammsätze zu verwenden, die als zusätzlichen Hilfsanker für den Kontext Wörter und Begriffe in der Muttersprache des Patienten zum jeweiligen Bild beinhalten. Piktogrammsätze wie der der Apothekerkammer Niedersachsen, die nur deutschsprachige Bildunterschiften haben, sollten nicht verwendet werden. Sicherer können die Zeichen bei Menschen eingesetzt werden, die zwar gut Deutsch sprechen, aber Defizite beim Lesen haben. Hier sind unterstützende Bildunterschriften nicht immer erforderlich.
Die Abbildung von Körperteilen wird in den Kulturen unterschiedlich interpretiert. Symbole mit unbekleideten Körperteilen können unter Umständen das Schamgefühl verletzen oder als anzüglich missverstanden werden.
Die grundsätzliche Verschiedenartigkeit in Kulturen wird besonders in der Kommunikation deutlich. So können die gleichen Worte in verschiedenen Kulturen eine vollständig andere tiefere emotionale Bedeutung haben.
Der Begriff der Leber ist beispielsweise in der türkischen Sprachbedeutung eher mit der Bedeutung unseres Begriffs Herz zu vergleichen. Ein türkischer Patient fühlt sich also nicht traurig mit einem »schweren Herzen«, sondern klagt über die Befindlichkeit seiner Leber. Außerdem können Organe »fallen« oder »verrutschen«. Das »Fallen des Kreuzes oder des Rückens« kann die Bedeutung von Kreuzschmerzen haben. Ein »Verrutschen der Zunge« kann unter anderem Stottern, Schluckbeschwerden oder Stimmverlust durch eine Kehlkopfentzündung meinen. Das »Fallen des Nabels« bedeutet Übelkeit, Schwäche oder Schmerzen am ganzen Körper.
Die Schilderung von Symptomen wird traditionell eher ausgeschmückt. Nebenbeschwerden werden oft mit viel Intensität vorgetragen, die Haupterkrankung erscheint zunächst unklar und verschwommen. Dies richtig einzuordnen, ist besonders in der Selbstmedikation eine Herausforderung.
Manche sprachlichen Unklarheiten kann man unter Umständen überwinden, wenn man sich nicht die Symptome weiter schildern lässt, sondern den Patienten nach seinen Vorstellungen der Therapie fragt: »Wie würden diese Beschwerden bei Ihnen zu Hause (in Ihrem Herkunftsland) behandelt werden?« Dies ist ein Signal, dass das Apothekenteam den Patienten ernst nimmt und sich um ihn sorgt, und kann die Tür zu weiteren und besser verständlichen Informationen öffnen. Ein klares »Nein« ist zu vermeiden, denn es gilt als störend, konfrontierend und kontraproduktiv und vermittelt den Eindruck, auf der Suche nach einer Lösung zu früh aufgegeben zu haben.
Das arabische Wort »Halal« bezeichnet nach islamischem Recht erlaubte oder zulässige Handlungen. Im Sprachgebrauch gängig ist der Begriff insbesondere im Zusammenhang mit Lebensmitteln. Bekanntlich sind Muslimen das Essen von Schweinefleisch, dessen Produkte und Blut sowie der Genuss von berauschenden Mitteln wie Alkohol verboten.
In der Folge können einige Arznei- oder Hilfsstoffe problematisch sein. Arzneimittel mit wirksamen Bestandteilen vom Schwein wie Phospholipide aus der Schweinelunge zur Therapie des Atemnotsyndroms bei Frühgeborenen sowie Pankreasenzyme vom Schwein kommen aber selten vor und können ersetzt werden. Hilfsstoffe sind häufiger ein Problem, etwa Gelatine aus Schweineausgangsstoff. Gelatine vom Rind ist zulässig.
Eine gute Übersicht zu gedruckten Hilfen, die das Beratungsgespräch in der Apotheke unterstützen, darunter auch mehrsprachige Dosierzettel in Arabisch, Farsi, Albanisch, Türkisch, Französisch und Englisch, bietet die Seite des Hessischen Apothekerverbands (www.h-a-v.de/service/beratung-von-zugewanderten.html).
Die Deutsche Atemwegsliga bietet Videos in vielen Sprachen zur Anwendung aller Inhalatortypen (www.atemwegsliga.de).
Vielfältige Informationen zu mehr als 20 Indikationsgebieten in sechs Sprachen bietet das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ; www.patienten-information.de).
Übersetzungshilfen von und ins Chinesische, Japanische und viele europäische Sprachen: www.deepl.com.
Die Non-Profit-Organisation Triaphon bietet einen telefonischen 24-Stunden-Übersetzungsdienst in Sprachen wie Arabisch, Bulgarisch, Farsi/Dari, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Türkisch oder Vietnamesisch an. Sprachmittler sind sofort verfügbar und übersetzen telefonisch kurze Gespräche zwischen dem heilberuflichen Personal und dem Patienten (https://triaphon.org).
Mitunter haben Patienten Vorbehalte gegen Sondennahrung, wenn sie nicht wissen, dass in der parenteralen Ernährung keine tierischen Produkte verarbeitet werden. Nährstoffe wie Kohlenhydrate und Eiweiße werden in der Regel chemisch hergestellt, Fette aus Pflanzenölen (Soja- oder Olivenöl) gewonnen.
Magnesiumstearat kann ein problematischer Hilfsstoff sein. Das Magnesiumsalz der Stearinsäure wird als Schmiermittel bei der Tablettenherstellung eingesetzt. Als Ausgangsbasis für die Gewinnung von Stearinsäure können pflanzliche Fette wie Soja-, Raps- oder Maiskeimöl, aber auch tierische Fette, zum Beispiel Milchfett, Rindertalg oder Schweineschmalz, verwendet werden. Magnesiumstearat nach Arzneibuchqualität kann also Schwein als Ausgangsmaterial beinhalten. Hersteller, die ausschließlich Magnesiumstearat aus pflanzlichen Quellen verwenden, gehen immer mehr dazu über, dies in der Fachinformation explizit auszuweisen. Ansonsten hilft eine Frage beim pharmazeutischen Unternehmer.
Alkohol ist als Hilfsstoff und Auszugsmittel in Tinkturen enthalten. Die Restmenge Alkohol in Trockenextrakten ist zwar sehr gering, aber analytisch bestimmbar. Auch Aromen können Kleinstmengen Alkohol enthalten, teilweise sind diese undeklariert.
Jedoch gilt in vielen Konfessionen des Islam der Grundsatz, dass der Gläubige seiner Gesundheit nicht schaden soll und deshalb Ausnahmen zugunsten der Gesundheit akzeptiert werden. Die Einnahme sonst prekärer Arzneimittel ist erlaubt, wenn keine Alternativen zur Verfügung stehen. Als guter Indikator kann die Zulassung in strenggläubigen Ländern wie Saudi-Arabien dienen. Ist ein Arzneimittel in der dortigen »Drug List« zu finden, kann es in der Regel als zulässig gelten (www.sfda.gov.sa/en/drugs-list). Allerdings sollte man die Zusammensetzung der Hilfsstoffe genau prüfen, denn manchmal werden länderspezifische Spezifikationen verwendet.
Weitere Datenbanken und andere Informationsquellen helfen dem Apothekenpersonal, problematische Arzneimittel zu erkennen und Alternativen zu finden. Mit der von einem Apotheker entwickelten App »whatsin« (www.whatsinmymeds.de) lassen sich unerwünschte Inhaltsstoffe leicht erkennen. Aber auch andere kritische Inhaltsstoffe, zum Beispiel bei Lactose- und Histamin-Intoleranz, und vegane Arzneimittel markiert die App. Darüber hinaus werden teilbare Medikamente besonders angezeigt.
Christiane Staiger studierte Pharmazie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und wurde an der Philipps-Universität Marburg im Fach Pharmaziegeschichte promoviert. Nach beruflichen Stationen in der öffentlichen Apotheke und bei der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände ist sie seit 2002 in der pharmazeutischen Industrie im Bereich der medizinischen Wissenschaften und der klinischen Forschung tätig. Seit vielen Jahren befasst sich Dr. Staiger mit dem Thema Arzneimittel und muslimische Kultur.