| Barbara Döring |
| 18.11.2025 07:00 Uhr |
Avatare, die Belastungsspitzen von Arbeitnehmenden erkennen, könnten künftig mentalem Stress vorbeugen. / © Adobe Stock/Vittaya_25
Rund 15 Tage pro Jahr sind Beschäftigte im Schnitt krankgeschrieben. Dabei zählen psychische Erkrankungen inzwischen zu den Top-3-Ursachen, so die Psychologin Nektaria Tagalidou vom Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO im Rahmen des Digitaldialogs »Mind the Mind«. Klassische Stressfaktoren seien Zeitdruck und Multitasking. Multitasking zu beherrschen sei ein Mythos, betonte die Psychologin. Zwar könne das Gehirn sehr schnell zwischen verschiedenen Ressourcen switchen. Dieser Wechsel bedürfe jedoch viel Energie. Zudem kämen in der heutigen Arbeitswelt neue Belastungen hinzu: Informationsüberflutung, digitale Fragmentierung wie ständige Unterbrechung durch Teams-Nachrichten, Technologiestress oder Unsicherheit durch KI-Einsatz. Besonders die jüngere Generation lege zudem Wert auf Sinnhaftigkeit und Nachhaltigkeit ihrer Arbeit, was zu neuen Erwartungen an Arbeitgeber führe.
Im Hinblick auf kognitive Ergonomie sei es das Ziel, Arbeits- und Techniksysteme an die geistigen Fähigkeiten des Menschen anzupassen. Das Fraunhofer Institut erforscht den Einsatz neuer Neurotechnologien wie Eyetracking und Wearables, um Belastungen objektiv messbar zu machen. Unternehmen können entsprechende Lösungen nutzen, um Stressspitzen zu erkennen und Arbeitsplätze sinnvoller zu gestalten.
Statt herkömmlicher Wearables kommen dabei eigene Lösungen zum Einsatz, bei denen Daten in lokalen Clouds landen und datenschutzkonform abgespeichert sind. Bei einem Projekt ließ sich anhand der Herzfrequenzvariabilität die Belastung durch Rotation am Arbeitsplatz messen, bei der sich Arbeitnehmende in der Kommissionierung an verschiedenen Arbeitsstationen immer wieder auf neue Gegebenheiten einstellen müssen. Ziel ist es, anhand der ermittelten Stresspeaks Arbeitsschritte sinnvoller zu takten.
Bildschirmarbeitsplätze lassen sich mithilfe von Eyetracking gesünder gestalten. Dabei messen spezielle Brillen die Augenbewegungen und erfassen Pupillenerweiterungen oder die Blinzelfrequenz. Damit sind Rückschlüsse auf kognitive Belastung, Müdigkeit oder Überforderung möglich. In Zukunft könnten zudem Avatare als digitale Begleiter dienen, um Arbeitnehmende in Echtzeit zu unterstützen. Diese könnten Belastungsspitzen erkennen, Hinweise zur Pausengestaltung geben oder durch adaptive Interfaces die Informationsflut reduzieren. Personalisierte Empfehlungen zur Aufgabenverteilung oder zum Stressabbau wären so möglich.
Das Fraunhofer Institut forscht zudem daran, anhand von Eyetracking zu erkennen, wann Arbeitnehmende im Zustand des Flows sind, in dem sie weder über- noch unterfordert sind. So ließen sich Unterbrechungen des Flows vermeiden, Belastungen reduzieren und die Produktivität erhöhen.
Tagalidou plädierte dafür, psychosomatische Zusammenhänge stärker zu berücksichtigen sowie körperliche und mentale Belastungen in der Arbeitswissenschaft nicht isoliert zu betrachten. Unternehmen seien gefordert, Resilienzfaktoren zu stärken und nachhaltige Präventionsstrategien zu entwickeln.
Als niederschwellige Angebote bei psychischer Beanspruchung von Arbeitnehmenden nannte die Psychologin Mikrointerventionen wie Seminare oder Achtsamkeitstraining. Die Menschen bräuchten jedoch vor allem ein nachhaltigeres Angebot wie einen formalisierten Zugang zu psychologischer Beratung sowie Veränderungen des Arbeitsplatzes, der Führungsstrukturen oder Teamrollen. Eine frühzeitige Prävention sei kostengünstiger, als erst dann zu intervenieren, wenn es bereits brennt. Tagalidou betonte, dass Prävention nicht nur menschlich, sondern auch ökonomisch sinnvoll ist: Jeder investierte Euro in Maßnahmen zur mentalen Gesundheit bringe bis zu 2,20 Euro zurück; internationale Studien zeigten sogar noch höhere Effekte.