Kompetenzen des anderen kennen |
Carolin Lang |
28.10.2020 18:00 Uhr |
Teil des Projekts ist unter anderem ein interprofessionelles Seminar, bei dem Pharmazeuten und Mediziner gemeinsam Patientenfälle bearbeiten. Unter den aktuellen Umständen, muss es jedoch digital stattfinden. / Foto: Adobe Stock / Pormezz
»Ziel des Projekts ist es, Studierende beider Professionen auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit im späteren Berufsleben vorzubereiten. Dahinter steht natürlich der Gedanke, die Patientensicherheit zu erhöhen«, erklärt Allgemeinmedizinerin Dr. Sabine Gehrke-Beck von der Charité im Gespräch mit der PZ. Mediziner und Pharmazeuten sollen die gegenseitige Profession näher kennenlernen, um einen Blick dafür zu bekommen: »Was kann der andere eigentlich und wie kann er mich in meiner Arbeit unterstützen?« Es geht also nicht darum, Inhalte aus dem jeweils anderen Fachbereich zu erlangen. Der Fokus liegt vielmehr darin, die Kompetenzen des anderen kennenzulernen und zu verstehen, dass sich diese bei Pharmazeuten und Medizinern unterscheiden, jedoch gut ergänzen.
»Die Chance des Projektes liegt darin, noch vor Beginn der tatsächlichen Praxis eine gute Erfahrung zwischen den Studierenden in der Zusammenarbeit zu ermöglichen«, hebt Dr. Ronja Behrend hervor, die für den Modellstudiengang Medizin an der Charité tätig ist und dort die interprofessionelle Ausbildung weiterentwickelt. Noch vor dem Start wurde das Projekt bereits von der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA) mit einem Preis für innovative Lehrprojektideen ausgezeichnet. Es setzt sich aus drei Elementen zusammen: einem interprofessionellen Seminar, einer Tandemhospitation in der Hausarztpraxis sowie einem Praktikum im »Medikations-Management-Center« der FU Berlin. Zum jetzigen Zeitpunkt können jeweils 20 Mediziner aus dem zehnten und 20 Pharmazeuten aus dem sechsten bis achten Semester teilnehmen.
In dem Seminar sollen die Studierenden Patientenfälle aus sowohl medizinischer als auch pharmazeutischer Sicht in gemischten Kleingruppen bearbeiten. Das Prinzip der interprofessionellen Zusammenarbeit werde dementsprechend nicht theoretisch, sondern praktisch vermittelt. »Ziel des Seminars ist primär das gegenseitige Kennenlernen und das gemeinsame Lösen von medizinisch-pharmazeutischen Problemen«, erklärt Johanna Seeger, die aktuell in der Abteilung für Klinische Pharmazie und Biochemie an der FU Berlin unter Leitung von Professor Dr. Charlotte Kloft promoviert und an der Umsetzung des Projektes beteiligt ist. Aufgrund der Coronavirus-Pandemie wird das Seminar nun vorerst als Online-Veranstaltung stattfinden.
Medizinstudierende an der Charité hospitieren im zehnten Semester unabhängig vom Projekt für zwei Wochen in einer Hausarztpraxis. Im Rahmen des Projektes können Pharmazeuten die Mediziner nun für einen Tag begleiten. Falls möglich, sollen sie in der Praxis gemeinsam einen »echten« Patienten betreuen, das heißt ein persönliches Gespräch mit ihm führen und seine Medikation überprüfen.
Zwei Pharmaziestudierende im »Medikations-Management-Center« der FU Berlin. / Foto: Josefine Schulz
»Umgekehrt können auch Mediziner mal in die Rolle eines Apothekers schlüpfen«, erklärt Seeger. Die FU Berlin hat bereits seit 2016 ein »Medikations-Management-Center«, also eine nachgebaute Apotheke inklusive Apothekensoftware und ABDA-Datenbank. Dort finden für Pharmaziestudierende regulär Seminare und Praktika statt, um sie bereits während des Studiums besser auf evidenzbasierte Medikationsanalyse und Medikationsmanagement vorzubereiten. Dort sollen Pharmazie- und Medizinstudierende gemeinsam Fälle bearbeiten und in Rollenspielen Beratungssituationen nachstellen.
Um verfolgen zu können, welche Lernerfahrungen sich für die Beteiligten ergeben und wie sie langfristig von dem Projekt profitieren, sei die Evaluation ein wichtiger Bestandteil des Projektes, erklärt Seeger. »Wir wollen nachvollziehen, inwiefern sich die Sichtweise auf die andere Profession durch die Interventionen verändert«, ergänzt Josefine Schulz, die ebenfalls Doktorandin in der Arbeitsgruppe von Professor Kloft ist. Unterstützt wird die Evaluation von Professor Dr. Martin Schulz, dem Geschäftsführer im Bereich Arzneimittel bei der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände und Vorsitzenden der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker. Die Evaluation besteht bisher Pandemie-bedingt aus einem Online-Fragebogen. Für die Zukunft sind allerdings auch Gespräche sowohl mit Studierenden als auch den teilnehmenden Hausärzten vorgesehen.
Projektbeteiligte: obere Reihe, von links nach rechts: Dr. Ingo Siebenbrodt, Sabine Gehrke-Beck, Johanna Seeger, Prof. Dr. Charlotte Kloft; untere Reihe, von links nach rechts: Josefine Schulz, Maike Petersen, Ronja Behrend, Constanze Czimmeck, Prof. Dr. Harm Peters / Foto: Charité/Sabine Gehrke-Beck
Laut den Organisatoren übersteigt die Nachfrage an dem Projekt die bisherigen Kapazitäten. Es gebe deutlich mehr Bewerber als Plätze. »Im Allgemeinen ist das Interesse an interprofessioneller Zusammenarbeit sehr groß, auch unabhängig von diesem Projekt«, berichtet Behrend. So würden viele Studierende interprofessionelle Formate aktiv einfordern. Doktorandin Schulz ergänzt: »Die Studierenden sind uns dabei sogar einen Schritt voraus.« In Berlin stünden die Fachschaften der Pharmazeuten und der Mediziner bereits länger in regem Kontakt. Das gegenseitige Interesse füreinander mache sich sogar auf Bundesverbandsebene bemerkbar.
Das Projekt ist vorerst auf zwei Jahre ausgelegt. Langfristig wünschen sich die Organisatoren jedoch eine Implementierung in das Curriculum beider Studiengänge und eine verstärke Förderung von interprofessioneller Zusammenarbeit. »Es gibt noch Wachstumsspielraum in viele Richtungen. Das Projekt ist nur der erste Baustein«, sagt Gehrke-Beck.
PZ: Was können Mediziner und Pharmazeuten voneinander lernen?
Seeger: Die Studierenden sollen vielmehr etwas übereinander als voneinander lernen und die Bewegründe sowie den Entscheidungsspielraum des anderen kennenlernen. In dieser Hinsicht besteht aktuell ganz viel Nachholbedarf. Die Kommunikation zwischen Arzt und Apotheker gestaltet sich hier oft schwierig, was unter anderem daran liegt, dass sie den Arbeitsalltag und die Anforderungen des anderen nicht kennen.
J. Schulz: Das ist richtig. Tritt beispielsweise eine Arzneimittel-Interaktion auf, muss das nicht zwangsweise ein Fehler des Arztes sein – eventuell gab es einfach keine andere Option. Umgekehrt ist es sinnvoll für einen Arzt zu verstehen, weshalb der Apotheker beispielsweise Formalien auf einem Rezept bemängelt, die zum Beispiel für die exakte Darreichungsform essenziell sind.
PZ: Wo sehen Sie die Probleme in der aktuellen Zusammenarbeit von Arzt und Apotheker?
Gehrke-Beck: Der Kontakt zwischen Arzt und Apotheker im Arbeitsalltag beläuft sich häufig nur auf Situationen, die schiefgelaufen sind. Dabei geht leider häufig unter, dass die Zusammenarbeit oft auch sehr gut klappt. In vielen Fällen arbeiten beide Seiten super zusammen, ohne es zu bemerken. Nebenbei gibt es systemische Probleme, die eine Zusammenarbeit erschweren. Unser Gesundheitswesen ist sehr fraktioniert und nicht darauf ausgelegt, dass Arzt und Apotheker dauerhaft zusammenarbeiten.
Behrend: Da stimme ich zu. Es müsste auch von offizieller Seite mehr Anreize dafür geben, zusammenzuarbeiten. Das Problem können wir aber von universitärer Seite nicht lösen. Wir können beiden Professionen nur zeigen, dass ein erfolgreiches Miteinander viele Vorteile mit sich bringt.
PZ: Welche Chancen sehen Sie in einer interprofessionellen Zusammenarbeit?
Behrend: Einige Studien belegen, dass eine interprofessionelle Zusammenarbeit sowohl die Patientenzufriedenheit als auch die Arbeitszufriedenheit in den Gesundheitsprofessionen erhöht. Befürworter gehen außerdem davon aus, dass die Patientensicherheit zunimmt, da eine gute Kommunikation das Fehlerpotenzial reduziert.
Seeger: Hier gibt es auch viel Potenzial für Verbesserungen im stationären Bereich. So können Arzt und Apotheker eine Therapie gemeinsam besser auf den Patienten abstimmen, anstatt lediglich standardisierten Therapieschemata zu folgen. Kurz gesagt: interprofessionelle Zusammenarbeit fördert die Arzneimitteltherapiesicherheit – sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.