Kommt mit dem Schulstart die zweite Welle? |
Annette Rößler |
04.08.2020 08:00 Uhr |
Die hohe Viruslast ist aber offenbar nicht alles. Denn Studien haben gezeigt, dass Kinder sich seltener mit SARS-CoV-2 infizieren und deshalb wohl eher keine Treiber der Ausbreitung des Coronavirus sind. Interessant sind deshalb Erfahrungen aus anderen Ländern, in denen die Schulen bereits wieder offen sind beziehungsweise nie geschlossen waren. Hierüber gibt eine Gruppe um Dr. Meira Levinson von der Harvard Graduate School of Education in Massachusetts in einem Beitrag unter der Rubrik »Medicine and Society« im »New England Journal of Medicine« einen Überblick (DOI: 10.1056/NEJMms2024920).
In Frankreich, Israel und Neuseeland sei es in Oberschulen zu Covid-19-Ausbrüchen gekommen, die sich jedoch nicht auf benachbarte Grundschulen ausgeweitet hätten, berichten Levinson und Kollegen. Das lege den Schluss nahe, dass jüngere Kinder entweder weniger empfänglich für SARS-CoV-2, weniger infektiös oder beides seien. In den Niederlanden habe bereits im April wieder Präsenzunterricht stattgefunden, wobei zwar die Klassenstärken um die Hälfte reduziert waren, Kinder unter zwölf Jahren aber nicht explizit zum Abstandhalten angehalten wurden. Weder dies noch die Rückkehr zum normalen Unterrichtsbetrieb Anfang Juni hätten die Fallzahlen steigen lassen.
Auch Dänemark, Finnland, Belgien, Australien, Taiwan und Singapur hätten ihre Grundschulen bereits wieder geöffnet, ohne dass es daraufhin größere Ausbrüche gegeben habe – allerdings anders als die Niederlande unter strengen Hygieneauflagen. Israel stelle insofern ein Gegenbeispiel dar, heißt es in der Publikation. Dort sei es kürzlich zu einem Anstieg der Fallzahlen gekommen, der möglicherweise auf eine Öffnung von Oberschulen im Mai zurückzuführen gewesen sei. Die Klassenzimmer seien überfüllt gewesen und man habe nur minimale Vorkehrungen zum Schutz vor einer Ansteckung getroffen; dennoch sei ein kausaler Zusammenhang mit dem Anstieg der Fallzahlen noch nicht nachgewiesen.
Um Schulen sicher wieder öffnen zu können, sei es notwendig, dass die Ansteckungsrate in der Bevölkerung durch Maßnahmen der Pandemiebekämpfung zuvor bereits auf ein niedriges Niveau gedrückt worden sei, schreiben Levinson und Kollegen. Dies unterstreicht auch eine Auswertung australischer Daten, die jetzt im Fachjournal »The Lancet Child & Adolescent Health« erschien (DOI: 10.1016/S2352-4642(20)30251-0). In Down Under waren die Covid-19-Fallzahlen während der ersten Welle der Pandemie im internationalen Vergleich niedrig und die meisten Schulen blieben geöffnet.
Die geringe Inzidenz und ein effektives Management der wenigen Covid-19-Fälle an Schulen habe zu einer sehr niedrigen Ansteckungsrate geführt, berichtet ein Team um Professor Dr. Kristine Macartney, Diretorin des National Centre for Immunisation Research and Surveillance. Insgesamt seien im Bundesstaat New South Wales 27 Kinder oder Lehrer zur Schule gegangen, während sie infektiös waren. Von 1448 Kontakten, die sich hätten anstecken können, seien aber nur 18 infiziert worden – eine sekundäre Befallsrate (secondary Attack Rate) von 1,2 Prozent.
Kern des australischen Erfolgs war das effektive Aufsuchen und Testen von Kontaktpersonen der Infizierten. Wie hoch der Anteil hier jeweils liegen muss, um zu verhindern, dass Schulen zu Ausbruchsherden werden, hat ein Team um Dr. Jasmina Panovska-Griffiths vom University College London aktuell ebenfalls in »The Lancet Child & Adolescent Health« errechnet (DOI: 10.1016/S2352-4642(20)30250-9). Demnach ließe sich eine zweite Welle trotz Schulöffnung verhindern, wenn zwischen 59 und 87 Prozent der symptomatischen Patienten getestet würden. Angenommen, 68 Prozent der Kontakte von Infizierten könnten aufgefunden werden, müssten in diesem Szenario 75 Prozent der symptomatisch Infizierten diagnostiziert und isoliert werden. Diese Zahlen gelten für Großbritannien, können aber sicherlich auch Epidemiologen anderer Länder als Entscheidungshilfe dienen.