Karte der Genaktivität von Hirnzellen erstellt |
Theo Dingermann |
10.05.2019 14:00 Uhr |
Welche Gene in Gehirnzellen von Alzheimer-Patienten an- oder abgeschaltet sind, kann Auskunft über die an der Pathologie beteiligten molekularen Prozesse geben. / Foto: Adobe Stock/blackboard
Wie unterscheiden sich verschiedene Hirnzellen in ihrer Programmierung, und welche Konsequenzen hat eine Alzheimer-Erkrankung für die jeweiligen Syntheseprogramme? Diesen Fragen gingen Wissenschaftler um Dr. Hansruedi Mathys vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) nach, indem sie auf Einzelzellbasis detailliert alle synthetisierten RNAs aus Post-mortem-Hirnproben analysierten. Ihre Ergebnisse stellen die Forscher nun im Fachjournal »Nature« vor. Die verwendeten Proben stammten von 24 Alzheimer-Patienten und 24 gleichaltrigen Kontrollpersonen. Alle Probanden waren Teilnehmer der Religious Order Study. Dies ist eine bekannte, laufende Kohortenstudie, an der mehr als 1100 ältere Nonnen, Priester und Brüder teilnehmen, die sich jedes Jahr einer medizinischen und psychologischen Untersuchung unterziehen und zugestimmt haben, ihr Gehirn nach ihrem Tod für Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen.
Von diesen 48 Personen sequenzierten die MIT-Wissenschaftler alle RNAs, das sogenannte Transkriptom, aus insgesamt etwa 80.000 Zellen des präfrontalen Cortex. Da Einzelzellen analysiert wurden, war es möglich, Aussagen zu den verschiedenen Zelltypen des Gehirns zu machen.
Damit liegt nun erstmals ein detaillierter Schaltplan aller molekularen Prozesse vor, die in erregenden und inhibierenden Neuronen aber auch in Oligodendrozyten, Astrozyten und Mikroglia ablaufen. Und tatsächlich konnten die Forscher zeigen, dass in jeder dieser Zelltypen die Genexpression bei Alzheimer-Patienten deutlich Unterschiede aufweist verglichen mit den entsprechenden Zellen der nicht an Alzheimer Erkrankten.
Ein bemerkenswerter Unterschied wurde bei der Aktivität der Gene registriert, die im Zusammenhang mit der Axonregeneration und Myelinisierung der Axone aktiv sein müssen. Für die Aktivität dieser Gene sowohl in Neuronen als auch in Oligodendrozyten ließen sich bei den Alzheimer-Patienten deutliche Funktionsdefizite identifizieren. Viele dieser zelltypspezifischen Änderungen in der Genexpression traten bereits zu sehr frühen Krankheitsstadien auf. In späteren Stadien glichen sich die Genexpressionsmuster der verschiedenen Zelle an. Dabei wurden besonders häufig die Gene hochreguliert, die für Komponenten zur Stressbewältigung, des programmierten Zelltods und zur Aufrechterhaltung der Proteinintegrität codieren.
Es zeigten sich auch klare Korrelationen zwischen bestimmten Genexpressionsmustern und Indikatoren zum Schweregrad der Alzheimer-Erkrankung, darunter die Verbreitung von amyloiden Plaques und neurofibrillären Tangels, aber auch der kognitiven Beeinträchtigung. Dabei wurden Muster erkennbar, deren Validität von den Forschern unter Verwendung eines künstlichen neuronalen Netzwerks überprüft wurde.
Der überraschendste Befund war jedoch die Entdeckung dramatischer Geschlechterunterschiede. Die deutlichsten Unterschiede wurden in neuronalen Zellen und Oligodendrozyten beobachtet. Bei Männern korrelierte eine erhöhte Pathologie mit einer globalen transkriptionellen Aktivierung in den Oligodendrozyten. Im Gegensatz dazu wurden diese Effekte bei Frauen nicht beobachtet. In neuronalen Zellen korrelierte bei Frauen eine stärker ausgeprägte Pathologie mit einer verminderten Genaktivität sowohl in exitatorischen als auch in inhibitorischen Neuronen. Es wurden auch Unterschiede bei anderen Zelltypen beobachtet, die allerdings subtiler ausfielen. Insbesondere die Oligodendrozyten-Vorläuferzellen der Frauen reagieren mit einer geringeren Genexpression auf eine stärker ausgeprägte Pathologie, was bei Männern so nicht beobachtet wurde.
Bisher ist nicht klar, was die Ursache für diese überraschenden Beobachtungen sind. Da die Unterschiede bei Männern und Frauen in Oligodendrozyten, die Myelin produzieren, besonders ausgeprägt war, untersuchte das Forscherteam im Nachgang noch einmal die weiße Hirnsubstanz der Patienten genauer, die hauptsächlich aus myelinisierten Axonen besteht. Durch MRT-Untersuchungen an 500 Probanden der Religious Order Study konnte gezeigt werden, dass weibliche Probanden mit schweren Gedächtnisdefiziten wesentlich mehr Schäden an der weißen Substanz aufwiesen als die männlichen Probanden.
Noch ist völlig unklar, warum Männer und Frauen so unterschiedlich auf die Alzheimer-Krankheit reagieren. Unklar ist auch, ob dies bei künftigen Behandlungen berücksichtigt werden muss. Aber jeder neuer Aspekt im Zusammenhang mit der Alzheimer-Erkrankung ist mehr als willkommen, da die einschlägige Forschung momentan eher auf der Stelle tritt.