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Seit 500 Jahren als Gewürz begehrt

16.09.2002  00:00 Uhr

Vanille und Vanillin

Seit 500 Jahren als Gewürz begehrt

von Elisabeth Vaupel, München

Vanille ist neben Chili und Piment eines der drei großen Gewürze, die in Europa erst infolge der Entdeckung Amerikas bekannt wurden. Heute ist Vanillin, die Hauptaromakomponente der Vanille, der in der Lebensmittelindustrie am meisten verwendete Aromastoff. Er wird in großem Maßstab synthetisch, seit einigen Jahren auch biotechnologisch hergestellt.

Die Vanille (Vanilla planifolia) gehört zur großen, ungefähr 18.000 Arten umfassenden Familie der Orchideengewächse (Orchidaceae) und ist die einzige Nutzpflanze innerhalb dieser Pflanzenfamilie (1). Ursprünglich wuchs sie ausschließlich in den tropischen Regenwäldern Mittelamerikas und Südost-Mexikos. Hernán Cortés (1485 bis 1547), der spanische Eroberer Mexikos, war der Legende nach der erste Europäer, der 1519 die aromatische Frucht der Vanille-Orchidee kennen lernte. Angeblich wurde er vom Aztekenherrscher Montezuma mit einem „chocolatl“ genannten, mit Vanille aromatisierten Kakaogetränk bewirtet, dem Vorläufer unserer Trink- und Tafelschokolade (2).

Die ältesten Berichte über die Vanille und ihre Verwendung bei den Azteken und den von ihnen besiegten Totonaken, von denen die Azteken den Gebrauch der Vanille übernommen hatten, stammen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (3). Aufschlussreiche Quellen sind vor allem die „Historia general de las cosas de Nueva España“ des lange Zeit in Mexiko als Missionar tätigen Franziskanerpaters Bernardino de Sahagun sowie die 1790 erschienene Madrider Ausgabe der „Opera cum edita tum inedita“ des Francisco Hernandez (1571 bis 1677), der bei seiner Forschungsreise auch die Stammpflanze der Vanille kennen lernte (4).

Beide Werke erwähnten die Vanille als Zutat des Kakaos, jenes von der aztekischen Oberschicht hochgeschätzten Getränkes. Sie stellten sie aber auch als aztekische Arznei- und Heilpflanze vor, die zur Linderung verschiedener Beschwerden und Krankheiten verwendet wurde.

Zusammen mit anderen Spezereien und Kolonialwaren, vor allem dem Kakao, gelangten die raren und extrem teuren Früchte unter dem Namen „Vainilla“, „Vainiglia“ oder „Banillia“ schon bald nach der Eroberung Mexikos an den spanischen Hof. Anfang des 17. Jahrhunderts begannen sie ihren Siegeszug an den europäischen Königs- und Fürstenhöfen, insbesondere in Frankreich und England. Heiße, mit Vanille aromatisierte Trinkschokolade wurde zum Modegetränk der Oberschicht.

Entsprechend der aztekischen Tradition blieben Kakao und Vanille auch in Europa lange Zeit ein unzertrennliches Paar. Beide Naturprodukte galten diesseits wie jenseits des Atlantischen Ozeans als ausgezeichnete Aphrodisiaka.

Vanille als Heilmittel

Erst als sich unter dem Einfluss von Francisco Hernandez und anderer Ärzte die Heilkunde der Vanille bemächtigte, wurde diese auch eigenständig als Arzneimittel gebraucht.

Im 18. Jahrhundert fand die Vanille (Fructus Vanillae) Eingang in viele Pharmakopöen. Über ihre „Kräfte und Tugenden“ schrieb Michael Bernhard Valentini (1657 bis 1729) in seinem bekannten Werk „Museum museorum oder Schaubühne aller Materialien und Specereien“:

„Sehr erwärmende und zerteilende, anbei aber auch stärkende Kraft, womit sie den Magen stärken, die Winde zerteilen und dem Gehirn, der Mutter und anderen nervösen Gliedern sehr gut tun. Sie treiben den Harn, befördern die monatliche Reinigung, natürliche Geburt und Schwierungen: Treiben auch die Nachgeburt und tote Kinder fort und kommen also dem weiblichen Geschlecht in ihren meisten Krankheiten wohl zu pass. Ingleichen werden sie gegen die erstarrend-machenden giftigen Bisse and andere dergleichen giftige Sachen gebraucht ... Am meisten aber werden die Vanillen zu Verfertigung der Chocolaten gebraucht, welche sie anmutiger und kräftiger machen. Die Tabaksbrüder brauchen sie auch, den Tabak wohlriechend zu machen.“

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hatte die Vanille ihre Rolle als Arzneimittel ausgespielt. Das ehemalige Aphrodisiakum, das auch bei Hysterie, Menstruationsstörungen und zusammen mit Eisenmitteln bei Bleichsucht gegeben wurde, wird heute nur noch als Geschmackskorrigens genutzt. Dafür wird aus Kostengründen allerdings nicht die Vanille selbst, sondern nur ihre Hauptaromakomponente, das Vanillin (5), verwendet.

Kulturgeschichtlich interessant ist, dass eine einst apothekenübliche Darreichungsform der Vanille immer noch existiert: der Vanillezucker (Vanilla saccharata). Er dient heute ausschließlich als Küchen- und Backzutat, wurde früher aber vom Apotheker zubereitet, ebenso wie die als Stärkungsmittel verabreichte Vanilletinktur (Tinctura Vanillae) oder die der Atemerfrischung dienenden Vanille-Küchelchen (Rotulae Vanillae).

Kulturen außerhalb Mexikos

Im 18. Jahrhundert versuchten europäische Pflanzenliebhaber wiederholt, die mexikanische Vanille in heimischen Gewächshäusern oder in tropischen Regionen außerhalb Mexikos zu kultivieren. Derartige Projekte scheiterten immer wieder, so dass die Vanilleproduktion bis Mitte des 19. Jahrhunderts ein unangefochtenes Monopol der Indianer Mexikos und damit der Spanier blieb.

Zu den wenigen Nicht-Spaniern, die die mexikanischen Vanille-Gebiete betreten und die Pflanze vor Ort studieren durften, gehörten Alexander von Humboldt (1769 bis 1859) und sein Reisegefährte Aimé Bonpland (1773 bis 1858). In seinem 1812 veröffentlichten Werk „Versuch über den politischen Zustand des Königsreichs Neu-Spanien“ wunderte sich Humboldt darüber, dass die Spanier es versäumt hätten, von ihrer Monopolsituation zu profitieren und einen umfangreichen Vanilleanbau in Mexiko zu initiieren. Er schrieb: „Man muß über die Sorglosigkeit der Bewohner des spanischen Amerika’s erstaunen, welche die Kultur einer Pflanze vernachlässigen, die in den Tropenländern überall, wo Hitze, Schatten und große Feuchtigkeit herrscht, von selbst vorkommt.“

In Europa war es immer wieder gelungen, Stecklinge großzuziehen und die Vanille in Treibhäusern zu üppiger Blüte zu bringen, doch bildeten sich zum großen Erstaunen der Gärtner nie Fruchtansätze oder gar Früchte. Erst im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts kam man der Ursache auf die Spur: Nur im Ökosystem Mexikos gab es Tiere – Kolibris, bestimmte Bienen-, Ameisen- oder Schmetterlingsarten -, die die komplizierte Bestäubung der tropischen Orchidee besorgten.

1836/37 gelang es dem Lütticher Botanikprofessor Charles Morren (1807 bis 1858), den Fortpflanzungsmechanismus der Vanille aufzuklären und eine Pflanze im Gewächshaus manuell zu befruchten. Damit war das Ende des mexikanischen Vanillemonopols eingeläutet. Allen Kolonialmächten stand nun der Weg frei, um in klimatisch geeigneten überseeischen Besitzungen großflächig neue Kulturen anzulegen.

Besonders taten sich die vanillebegeisterten Franzosen hervor, die Madagaskar, Komoren, Mauritius und die damalige Ile de Bourbon, das heutige Réunion, zum weltweit größten Produzenten der in Europa hoch geschätzten „Bourbon-Vanille“ machten (6). Heute stammen 65 bis 70 Prozent der Weltproduktion aus diesen im Indischen Ozean gelegenen, ehemals französischen Gebieten. Weitere Plantagen wurden auf den französischen Karibikinseln Guadeloupe und Martinique sowie auf Tahiti, der größten Insel Französisch-Polynesiens, angelegt. Indonesien, das heute 25 bis 30 Prozent der Weltproduktion stellt, wurde durch die Niederländer zum Vanilleanbaugebiet (7).

Anbau erfordert viel Handarbeit

Vanille ist eine mehrjährige, in den Tropen und Subtropen wachsende Kletterpflanze, die sich bis zu zehn Meter an ihren Stützpflanzen empor ranken kann, in Kultur allerdings sehr viel niedriger gehalten wird. Die Pflanze gedeiht besonders gut in tropischen Küstenregionen, wo sie außer Wärme und Schatten ausreichend Feuchtigkeit hat.

Die traubenförmigen Blütenstände, die aus den Blattachseln hervortreten, bestehen aus acht bis zehn etwa fingerlangen, gelblich-grünen, intensiv duftenden, typischen Orchideenblüten. Eine fünfjährige Pflanze bringt innerhalb der etwa drei Monate dauernden Blütezeit über 1000 Blüten hervor. Pro Tag blüht nie mehr als eine Blüte eines Blütenstandes, und das auch nur für wenige Vormittagsstunden. In dieser Zeit muss das Pollinium (Gesamtheit der Pollen) des einzigen Staubblattes, das mit der Narbe zu einem Säulchen verwachsen ist, auf eine Narbe übertragen werden.

Beim Bestäubungsvorgang bedarf es in jedem Fall fremder Hilfe: Wenn nicht spezifische Insekten oder Nektar suchende Kolibris die Pollen auf die Narbe übertragen, muss die Bestäubung manuell, das heißt mit einem dünnen Bambusstäbchen erfolgen. Die künstliche Befruchtung wird heute auch in Mexiko, der ursprünglichen Heimat der Vanille, praktiziert.

Üblicherweise führen schlecht bezahlte Frauen und Kinder die viel Geschicklichkeit erfordernde Prozedur durch, bei der eine Person 1000 bis 1500 Blüten pro Tag bestäubt. Unterbleibt die Bestäubung, fällt die Blüte ab. Im andern Fall beginnt der Fruchtknoten zu wachsen und schon nach etwa vier bis sechs Wochen hat die grünliche, einer Stangenbohne ähnelnde Frucht ihre endgültige Länge von 16 bis 20 cm erreicht. Erntereif sind die länglich-fleischigen Vanilleschoten (die sich im reifen Zustand mit zwei Spalten öffnenden, aus drei Fruchtblättern gebildeten Früchte sind im botanischen Sinne übrigens keine Schoten, sondern Kapseln) aber erst etwa acht Monate nach der Befruchtung, und zwar genau dann, wenn ihre Farbe vom Grünlichen ins Gelbliche zu wechseln beginnt.

Eine Vanillepflanze soll, um nicht geschwächt zu werden, nur vier, höchstens fünf Fruchttrauben – Besen genannt – zu nicht mehr als je zehn Früchten entwickeln. Um das zu erreichen, werden immer 10 Prozent mehr Blüten als notwendig bestäubt. Dies gibt einen gewissen Spielraum, um kümmerlich entwickelte oder beschädigte Früchte während des Reifeprozesses zu entfernen (8).

Die Bestimmung des Erntezeitpunktes erfordert viel Erfahrung und entscheidet maßgeblich über Qualität und Preis. Erntet man zu früh, entwickelt die Vanille während der sich anschließenden Fermentation nicht ihr volles Aroma. Erntet man zu spät, beginnen die Schoten an aufzuplatzen und die unzähligen Samen (etwa 90.000) freizusetzen. Solche Früchte sind nur noch zur Extraktgewinnung zu gebrauchen. Da die Früchte zu unterschiedlichen Zeitpunkten reif werden, müssen die Schoten täglich auf ihren optimalen Reifegrad überprüft und gegebenenfalls gepflückt werden. So zieht sich nicht nur die Blütezeit, sondern auch die Ernteperiode der Vanille über drei Monate hin.

Sorgfältig fermentiert

Die grüne Vanilleschote ist direkt nach der Ernte völlig geschmack- und geruchlos. Die für Duft und Aroma verantwortlichen Substanzen im Inneren der Fruchtschale werden erst durch einen Fermentationsprozess freigesetzt (9), der spätestens zwei Tage nach der Ernte beginnen muss.

Es gibt zwei verschiedene Aufbereitungsverfahren, das mexikanische und das madegassische, die sich allerdings nur im Detail unterscheiden. Bei beiden werden die Schoten hitzebehandelt, im einen Fall durch Tauchen in heißes Wasser, im andern durch Liegenlassen in der Sonne. Dadurch wird künstlich ein Welkprozess in Gang gesetzt. Anschließend müssen die Vanilleschoten in Decken eingewickelt „schwitzen“, wobei sie viel Feuchtigkeit verlieren.

Die Phasen des Trocknens und Schwitzens werden einige Tage lang im Wechsel wiederholt. Dabei schrumpfen die Schoten, verfärben sich braun und entwickeln allmählich das typische Vanillearoma. Um ein Kilogramm der braunen, fermentierten Schoten zu erhalten, sind vier Kilo Frischmaterial notwendig.

Ziel des Aufbereitungsverfahrens ist, unter optimalen Bedingungen einen Fermentationsprozess zu unterhalten, in dessen Verlauf die Aromastoffe der Vanille, die in den frischen Früchten an Glucosemoleküle gebunden sind, vom Zucker abgespalten und freigesetzt werden. Da diese Spaltung enzymatisch erfolgt, muss dafür gesorgt werden, dass die Enzyme bei gleich bleibend günstigen Temperaturen wirken können und dass regelmäßig Wasser verdunsten kann. Andernfalls würden die Schoten schimmeln oder verfaulen. Die Kunst besteht also darin, ein sorgfältig kontrolliertes Welken zu erreichen, ohne die Grenze zum Verwesen zu überschreiten.

Dann wird die Vanille zwei bis drei Monate in gut belüfteten Lagerräumen getrocknet, von Hand nach Längen sortiert, gebündelt, in Blechkisten gepackt und verschifft. Merkwürdigerweise gelten die längsten Schoten als die wertvollsten. Eine vernünftige Begründung für dieses Qualitätskriterium gibt es nicht, denn der qualitätsbestimmende Inhaltsstoff Vanillin ist in längeren Früchten keineswegs konzentrierter vorhanden als in kürzeren Schoten.

Vanille ist ein Gewürz mit einem sehr hohen Restfeuchtigkeitsgehalt. Er beträgt in der fertig fermentierten und getrockneten Frucht etwa 25 Prozent. Hochwertige Schoten müssen biegsam sein und speckig glänzen. Um sie vor dem Austrocknen zu bewahren, kommen sie in dicht schließenden Stöpselgläsern auf den Markt.

Synthetisches Vanillin

Die Kultur der Vanille erfordert in allen Phasen des Anbaus und der Aufbereitung extrem viel zeit- und personalintensive Handarbeit. Das erklärt den seit jeher hohen Preis dieses Naturproduktes: Vanille war und ist nach Safran das teuerste Gewürz der Welt.

Seit 1874 kann man Vanillin, den Hauptaromabestandteil der Vanilleschoten, auch synthetisch herstellen (10). Diese Epoche machende Synthese gelang den beiden Chemikern Wilhelm Haarmann (1847 bis 1931) und Ferdinand Tiemann (1848 bis 1899), Schülern des in Berlin wirkenden großen deutschen Farbstoffchemikers August Wilhelm Hofmann (1818 bis 1892).

Die technische Nutzung der im Februar 1874 patentierten Vanillinsynthese war für die seit Mitte des 19. Jahrhunderts aufstrebende europäische Schokoladenindustrie wirtschaftlich hoch interessant. Das galt insbesondere für die Länder, die - wie Deutschland - keine eigenen produzierenden Kolonien besaßen.

Die Vanillinsynthese wurde zum Startpunkt für die Entwicklung der Industrie synthetischer Duft- und Aromastoffe. Diese begann 1875 mit der Gründung von „Haarmann’s Vanillinfabrik zu Holzminden an der Weser“.

In Holzminden versuchte man zunächst, den im Labor gefundenen Syntheseweg – eine Zufallsentdeckung – in technische Dimensionen zu übertragen. Ausgangsprodukt der ersten Synthese war Coniferin, das Glucosid des Coniferylalkohols (4-Hydroxy-3-methoxyzimtalkohol). Mühsam wurde diese monomere Vorstufe des Lignins aus dem Kambialsaft von Nadelbäumen isoliert, zu Glucovanillin oxidiert und dann in Glucose und Vanillin gespalten.

Haarmann, der Unternehmer, kooperierte intensiv mit zwei Chemikern aus seinem alten Berliner Labor, vor allem mit Ferdinand Tiemann (1848 bis 1899), der bei der Entwicklung der Vanillinsynthese von Anfang an beteiligt war (11). Da Tiemann die Hochschullaufbahn anstrebte und Berlin nicht verlassen wollte, fungierte er „nur“ als wissenschaftlicher Berater und stiller Gesellschafter der Holzmindener Firma. Karl Reimer (1845 bis 1883) dagegen, ein anderer ehemaliger Kommilitone, trat offiziell in die in „Haarmann & Reimer“ umbenannte Vanillinfabrik ein (12).

Haarmann und Tiemann versuchten so schnell wie möglich, ihr künstliches Vanillin auch in Frankreich herstellen zu lassen, dem großen Land der Parfümerie, das aus diesem Grund seit jeher besonders an Vanille interessiert war. Ihr gemeinsamer Doktorvater August Wilhelm Hofmann knüpfte Kontakte zur Pariser Firma De Laire & Co., die den Aromastoff in Lizenz zu produzieren begann. So hatten die Holzmindener auch den wichtigen französischen Markt erobert (13).

Preisverfall durch neue Synthese

Dank intensiver Forschung und der Strukturaufklärung konnte man die Vanillinsynthese schließlich auf einen ganz anderen Ausgangsstoff umstellen: das zu günstigen Preisen aus Nelkenöl isolierbare Eugenol. Die Rentabilität dieser Synthese war aber erst gegeben, nachdem Tiemann 1891 die Entwicklung des mit sehr guten Ausbeuten arbeitenden Isoeugenol-Verfahrens gelungen war. Dabei wird Eugenol erst zu Isoeugenol isomerisiert, bevor man es zu Vanillin umsetzte.

Kostete ein Kilogramm des nach dem ursprünglichen Kambialsaft-Verfahren hergestellten Vanillins 1876 noch 7000 Mark, so war der Preis 1890 dank des Eugenol-Verfahrens bereits auf 700 Mark gesunken und 1897, nach Etablierung des Isoeugenol-Verfahrens, gar auf 126 Mark pro Kilogramm.

In der Folgezeit wurden viele weitere Synthesen entwickelt. Heute wird der weitaus größte Teil des Vanillins in der westlichen Welt aus Lignin und aus Ligninsulfonsäure hergestellt. Dieses ist in der Holzsubstanz vieler Pflanzen enthalten, so dass die bei der Zellstoff- und Papierherstellung anfallende Sulfitablauge durchaus rentabel auf diesen Aromastoff aufgearbeitet werden kann. In fernöstlichen Ländern wie China, wo Nelkenöl billig verfügbar ist, wird dagegen überwiegend nach dem Eugenol- und dem Isoeugenolverfahren gearbeitet.

Vorbehalte und Ängste

Neben technischen Problemen waren in der Frühzeit des synthetischen Vanillins aber auch psychologische zu überwinden. Ein künstlicher Aromastoff war damals etwas völlig Neues, auf das viele Menschen misstrauisch oder ablehnend reagierten. Zeitweise gab es sogar Presseberichte über vermeintliche Vergiftungen durch den Genuss von mit künstlichem Vanillin zubereiteter Eiscreme (14). In Wirklichkeit lag wohl eine bakterielle Kontamination der verwendeten Zutaten zu Grunde. Die durch Presseberichte geschürten Vorbehalte prägten jedoch jahrelang das öffentliche Bild vom künstlichen Vanillin (15).

Ein anderer Vorbehalt erwuchs aus dem Argwohn, der allen Synthesen entgegenschlug, die ein Naturprodukt durch ein angeblich äquivalentes Industrieprodukt ersetzen wollten. Man hatte Angst, dass das synthetische Vanillin dem natürlichen Aroma nicht gleichwertig sei.

Derartige Befürchtungen konnten trotz geschickt inszenierter Gegenmaßnahmen, etwa der Publikation eines kleinen „Vanillin-Kochbüchleins“, das die bekannte Kochbuchautorin Lina Morgenstern im Auftrag der Holzmindener Firma schrieb, nie völlig ausgeräumt werden. In unserer Zeit, in der sich Meldungen über Allergien durch Lebensmittelinhaltsstoffe häufen, erhielten sie reichlich neue Nahrung. Wie viele Aldehyde kann auch Vanillin bei empfindlichen Personen tatsächlich sensibilisierend wirken und Hautausschläge hervorrufen. Solche Kontaktdermatitiden, die bei Arbeitern, die Vanille sortieren und verpacken, häufiger auftreten, sind in der medizinischen Literatur als „Vanillekrätze“ oder „Vanillismus“ bekannt.

Das Aromaprofil der Vanille

Vanillin ist nur eine von etwa 400 Komponenten, die im Vanillearoma vorkommen. Es ist mit circa zwei Prozent die mengenmäßig bedeutendste und Wert bestimmende Komponente des Aromas.

Andere Aromabestandteile sind beispielsweise p-Hydroxybenzaldehyd (0,2 Prozent), p-Hydroxybenzylmethylether (0,02 Prozent), Essigsäure (0,02 Prozent), Vanillinsäure, Vanillylalkohol, Protocatechualdehyd und Protocatechusäure. Sensorisch außerordentlich bedeutend sind einige Begleitstoffe, die nur in sehr geringeren Mengen in der Vanilleschote enthalten sind. Beispiele sind das rauchig riechende Guajakol, dessen Gehalt in den Schoten nur 1/2000 des Vanillingehaltes beträgt, sowie Anissäure und Anisaldehyd (16).

Gerade weil der komplexe Gesamteindruck des Vanillearomas stark von solchen Begleitstoffen mit beeinflusst wird, lässt es sich durch Vanillin allein nur in grober Näherung ersetzen. Um das gesamte Vanillearoma genießen zu können, wird ein wirklicher Feinschmecker nur echte Vanille verwenden. Hochwertige Lebensmittel und Parfüms werden ebenfalls mit echten Vanilleextrakten aromatisiert. Kenntlich ist das an der Aufschrift „mit echter Vanille“. Das Label „mit natürlichem Vanillearoma“ bedeutet dagegen lediglich, dass der Hauptteil des Aromas aus echten Vanilleschoten extrahiert wurde, ein geringer Rest jedoch aus anderen Vanillin-haltigen Naturprodukten wie Kakaoextrakt oder Mandelöl.

Biotechnologisch hergestellt

Synthetisches Vanillin ist im lebensmittelrechtlichen Sinn ein naturidentischer Aromastoff. Solche Stoffe gleichen den natürlichen, werden aber synthetisch gewonnen. Naturidentische Aromastoffe, erst recht aber künstliche, in der Natur nicht vorkommende Aromastoffe, sind beim deutschen Verbraucher nicht besonders beliebt. Diese Skepsis brachte die Industrie, die Vanillin in Mengen von mehr als 9000 Tonnen pro Jahr verwendet – Tendenz steigend - in große Bedrängnis. Der Einsatz von natürlichem, aus echten Vanilleschoten isoliertem Vanillin könnte den mittlerweile riesigen Bedarf nicht mehr decken und wäre auch zu teuer.

Aus diesem Dilemma wies die Biotechnologie einen Weg. Als „natürlicher Aromastoff“ wird nach unserer Gesetzgebung nämlich jede Substanz oder Zubereitung bezeichnet, die für den menschlichen Verzehr geeignet ist und ausschließlich durch physikalische, mikrobiologische oder enzymatische Prozesse aus pflanzlichem oder tierischem, also natürlichem Ausgangsmaterial gewonnen wird. Nach dieser Definition muss „natürliches“ Vanillin nicht unbedingt aus echten Schoten stammen. Es kann auch biotechnologisch hergestellt sein (17).

Solche Verfahren wurden in den späten siebziger Jahren entwickelt (18) und sind seit Anfang der neunziger Jahre einsatzbereit: in Deutschland bei der traditionsreichen Holzmindener Firma Haarmann & Reimer, in der Schweiz bei der Roche-Tochter Givaudan.

Die theoretische Möglichkeit, Vanillin durch Zellkulturen von Vanilla planifolia produzieren zu lassen, wird in der Praxis nicht genutzt, da Zellkulturen zu langsam wachsen und zu anfällig für Kontamination mit Fremdorganismen sind. Bevorzugt werden Methoden, bei denen strukturell verwandte, leicht zugängliche Vorläufermoleküle als Substrat dienen und mikrobiell oder enzymatisch zu Vanillin umgesetzt werden.

Das bei Haarmann & Reimer angewandte biotechnologische Verfahren geht vom Eugenol aus, das ein Pseudomonas-Stamm in Ferulasäure umwandelt. Wegen der antimikrobiellen Wirkung des Eugenols mussten Mikroorganismen gefunden werden, die von den Eugenol-Konzentrationen nicht selbst abgetötet wurden. Man isolierte sie aus Bodenproben aus der unmittelbaren Umgebung von Nelkenbäumen. Die wichtige Ferulasäure ist auch durch Extraktion von Reiskleie zugänglich, einem im Tonnenmaßstab erhältlichen billigen Abfallprodukt, das diese Schlüsselverbindung in großen Mengen enthält.

In einem zweiten Schritt wird die Ferulasäure mikrobiell zu Vanillin umgesetzt. Dazu eignen sich verschiedene Mikroorganismen. Welcher Stamm und welche Mutante eingesetzt werden, bleibt das Geheimnis des jeweiligen Herstellers. Nach etwa zweitägiger Fermentation werden die Bakterienzellen von der Nährlösung abgetrennt. Das in der Lösung enthaltene Rohvanillin, das je nach Prozessführung mit Ausbeuten zwischen zwei und 20 Prozent und damit weit konzentrierter als in der Vanilleschote anfällt, wird isoliert und aufwändig gereinigt. Unerwünschte Spurenkomponenten müssen abgetrennt werden.

Biotechnologisch hergestelltes Vanillin ist fünfzig- bis hundertmal so teuer wie das Syntheseprodukt, aber nur halb so teuer wie Vanillin aus echten Vanilleschoten. Wegen des ständig zunehmenden Bedarfs an natürlichen Aromastoffen rechnet sich das biotechnologische Verfahren dennoch. Das gilt besonders in diesem Jahr, wo in den Anbaugebieten des Indischen Ozeans wegen ungünstiger Wetterbedingungen mit einer extrem schlechten Vanilleernte gerechnet wird.

 

Literatur

  1. Franke, F., Nutzpflanzenkunde. Nutzbare Gewächse der gemäßigten Breiten, Subtropen und Tropen. 6. Aufl., Georg Thieme Verlag Stuttgart, New York 1997, S. 378 - 380.
  2. Coe, S., Coe, M., The True History of Chocolate. Thames and Hudson London 1996.
  3. Rain, P., Vanilla: Nectar of the Gods. In: Foster, N., Cordell, L. S. (Hrsg.), Chilies to Chocolate. Food the Americas gave the World. University of Arizona Press Tucson/London 1992, S. 35 - 45.
  4. Busse, W., Ueber Gewürze. IV: Vanille. Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte, Bd. 15, Berlin 1899 (Beihefte zu den Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesundheitsamtes), S. 1 - 72.
  5. Clark, G. S., A Profile: An Aroma Chemical. Vanillin. Perfumer & Flavorist 15, Nr. 2 (1990) 45 - 54.
  6. Bouriquet, G., La vanillier et la vanille dans le monde (= Encyclopédie biologique, XLVI). Editions Paul Lechevalier Paris 1954.
  7. Kindel, G., Vanilla. Königin der Gewürze. Contact. Magazin der Haarmann & Reimer GmbH Holzminden, Nr. 59, o. J., S. 15 - 19.
  8. Schröder, R., Kaffee, Tee und Kardamom. Tropische Genussmittel und Gewürze. Geschichte, Verbreitung, Anbau, Ernte, Aufbereitung. Verlag Eugen Ulmer Stuttgart 1991, S. 180 - 186.
  9. Dignum, M. J. W., Kerler, J., Verpoorte, R., Vanilla Production: Technological, Chemical and Biosynthetic Aspects. Food Rev. Intern. 17, Nr. 2 (2001) 199 - 219.
  10. Tiemann, F., Haarmann, W., Ueber das Coniferin und seine Umwandlung in das aromatische Princip der Vanille. Ber. dt. chem. Ges. 7 (1874) 608 - 623.
  11. Witt, O. N., Ferdinand Tiemann. Ein Lebensbild. Ber. dt. chem. Ges. 34 (1901) 4404 - 4455.
  12. Hofmann, A. W., Dr. Karl Ludwig Reimer. Ber. dt. chem. Ges. 16 (1883) 99 - 102.
  13. Witt, O. N., Georges de Laire. Ber. dt. chem. Ges. 42 (1909) 3 - 6.
  14. Empoisonnement par la vanille. La Nature 28 (1900) 335.
  15. Hagers Handbuch der pharmaceutischen Praxis. 7. Aufl., Bd. 2, Verlag Julius Springer Berlin 1913, S. 1107.
  16. Emberger, R., Das Vanillearoma als Forschungsaufgabe. Contact. Magazin der Haarmann & Reimer GmbH Holzminden, Nr. 60, o. J., S. 3 - 8.
  17. Gatfield, I. L., Biotechnological Production of Natural Flavor Materials. In: Flavor Chemistry: 30 Years of Progress. Kluwer Academic/Plenum Publishers New York 1999, S. 211 - 227.
  18. Ramachandra Rao, S., Ravishankar, G. A., Vanilla flavour: Production by conventional and biotechnological routes. J. Science of Food Agriculture 80 (2000) 289 - 304.

 

Die Autorin

Elisabeth Vaupel studierte Chemie und Biologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie Chemie, Biologie und Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Nach dem Chemie-Diplom 1982 in Freiburg wurde sie 1987 zum Dr. rer. nat. an der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert. 1987/88 absolvierte sie ein Volontariat am Deutschen Museum in München und war anschließend als Hochschulassistentin am Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, Mathematik und Technik (IGN) der Universität Hamburg tätig. Seit 1989 leitet Dr. Vaupel die Abteilung Chemie am Deutschen Museum in München.

 

Anschrift der Verfasserin:
Dr. Elisabeth Vaupel
Deutsches Museum, Abteilung Chemie
Museumsinsel 1
80306 München
e.vaupel@deutsches-museum.de

 

Die Vanille ist eine der vielen Gewürzpflanzen, die in der Sonderausstellung „Welt der Gewürze“ in der Eingangshalle der Bibliothek des Deutschen Museums gezeigt werden (Museumsinsel 1, München). Die Gewürzschau für Auge und Nase ist bis 31. Dezember täglich von 9 bis 17 Uhr geöffnet; der Eintritt ist frei.

Ein reich bebilderter Begleitband ist für 15 Euro in der Ausstellung und im Museums-Shop erhältlich.

Parallel zur Ausstellung im Deutschen Museum zeigt der Botanische Garten in München Gewürzpflanzen live (Menzinger Straße 65; in den Sommermonaten von 9 bis 19 Uhr geöffnet; Gewächshäuser schließen über Mittag).

 

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