Gerinnungschaos bei Covid-19-Patienten |
Theo Dingermann |
11.05.2020 09:20 Uhr |
SARS-CoV-2 bringt die Blutgerinnung total durcheinander. Wie das passiert, ist momentan noch unklar. / Foto: Getty Images/Anton Ostapenko
Seit Wochen häufen sich Berichte, dass Blutgerinnsel im ganzen Körper die Covid-19-Erkrankung bei vielen Patienten zur Eskalation treiben. Was dahinter steckt, beginnen Forscher auf der ganzen Welt erst langsam zu verstehen. Dass das dringend angesagt ist, merkt auch Cassandra Willyard in einem Bericht auf der Nachrichtenseite des Fachmagazins »Nature« an (DOI: 10.1038/d41586-020-01403-8). Zwar ist eine gestörte Hämostase ein prinzipielles Problem eines jeden Patienten, der schwer erkrankt. Jedoch scheint dieses Risiko für Covid-19-Patienten ungleich höher zu sein.
Studien aus den Niederlanden und aus Frankreich deuten darauf hin, dass bei 20 bis 30 Prozent der kritisch kranken Covid-19-Patienten Gerinnsel auftreten (»Thrombosis Research«, DOI: 10.1016/j.thromres.2020.04.013; »Circulation«, DOI: 10.1161/CIRCULATIONAHA.120.047430). Aber selbst diese Zahlen könnten sich als zu niedrig herausstellen.
Tatsächlich treten Gerinnungsstörungen bei schweren Covid-19-Verläufen so häufig auf, dass einige Forscher die Gerinnung als ein Schlüsselmerkmal der viralen Erkrankung betrachten. »Vieles an diesem Phänomen ist ungewöhnlich«, sagte Professor Dr. James O'Donnell, Direktor des Irischen Zentrums für Gefäßbiologie am Royal College of Surgeons in Dublin, gegenüber »Nature«. Denn Antikoagulanzien verhindern die Gerinnung bei Covid-19-Patienten nicht immer zuverlässig.
Immer wieder versterben gerade auch junge Menschen mit Covid-19 an Schlaganfällen, die durch verstopfte Gefäße im Gehirn verursacht werden. Und bei vielen hospitalisierten Patienten lassen sich drastisch erhöhte Werte sogenannter D-Dimer nachweisen. Diese entstehen, wenn sich Gerinnsel auflösen. Sie sind seit Langem wichtige Biomarker in der Hämostasiologie und mittlerweile gilt die Konzentration an D-Dimeren als aussagekräftiger Prädiktor für die Mortalität bei hospitalisierten Covid-19-Patienten (»Journal of Thrombosis and Haemostasis«, DOI: 10.1111/jth.14859).
Gefürchtet ist nicht nur die gestörte Gerinnung in den großen Gefäßen. Thrombotische Mikroangiopathien in den kleinsten Gefäßen, den Kapillaren, sind nicht weniger gefährlich. Diesem Problem widmet sich Professor Dr. Jeffrey Conrad Laurence, ein Hämatologe an der Weill Cornell Medicine in New York City. Er und seine Kollegen untersuchten Lungen- und Hautproben von drei Covid-19-Patienten. Sie stellten fest, dass viele der peripheren Kapillaren mit Gerinnseln verstopft waren (»Translational Research«, DOI: 10.1016/j.trsl.2020.04.007). Andere Gruppen, darunter auch das Team des Iren O'Donnell, berichten über ähnliche Befunde »British Journal of Hematology«, DOI: 10.1111/bjh.16749). »Das ist nicht das, was man bei jemandem erwartet, der ›nur‹ eine schwere Infektion hat«, so O'Donnell. »Das ist wirklich sehr neu.«
Hinter diesem Phänomen könnte der Schlüssel dafür zu suchen sein, dass bei manchen Covid-19-Patienten kritisch niedrige Blut-Sauerstoff-Werte gemessen werden und dass gegen alle bisherige klinische Erfahrung eine mechanische Beatmung diesen Patienten oft nicht hilft. Das wäre »doppeltes Pech«, sagte O'Donnell.
Warum die Gerinnungshomöostase so aus dem Tritt gerät, ist nach wie vor ein Rätsel. Eine Möglichkeit ist, dass SARS-CoV-2 die Endothelzellen direkt angreift. Diese Zellen sind gespickt mit ACE2-Rezeptoren, die dem Virus Zutritt in die Zellen eines infizierten Patienten verschaffen. Und es gibt auch Hinweise darauf, dass Endothelzellen tatsächlich infiziert werden können.
Für Nierengewebe berichten dies Forscher des Universitätsspitals Zürich und des Brigham and Women's Hospital in Boston, Massachusetts (»The Lancet«, DOI: 10.1016/S0140-6736(20)30937-5). Durch die Infektion mit dem Virus könnte diese wichtige Zellschicht in allen Blutgefäßen so geschädigt sein, dass die Gerinnungsmaschinerie initiiert wird, spekulieren die Forscher.
Auch könnten die Auswirkungen auf das Immunsystem die Gerinnung beeinflussen. Bei einigen Covid-19-Patienten sezernieren die Immunzellen so viele Zytokine, dass dieses an sich wichtige Verteidigungssystem zu einer generellen, lebensgefährlichen Gerinnungsstörung eskaliert. Zudem kann das Virus das Komplementsystem aktivieren. Auch dies könnte mit Gerinnungsstörungen einhergehen.
Wenn dann noch andere Risikofaktoren wie fortgeschrittenes Alter oder Übergewicht, erhöhter Bluthochdruck oder Diabetes, hohes Fieber und möglicherweise eine genetische Veranlagung für eine Gerinnungsstörung hinzukommen, ist diese fast schon zu erwarten.
Noch während versucht wird, die Gründe und Mechanismen der schweren Covid-19-Komplikation zu verstehen, hat die Suche nach möglichen Therapieoptionen bereits begonnen. Antikoagulanzien drängen sich da förmlich auf. Sie gehören sowieso zum Standard-Medikamenteninventar einer Intensivstation. Jedoch scheinen sie in den Standarddosierungen nur unzureichend wirksam zu sein. »Uns beschäftigt die Frage, wie aggressiv wir diese Medikamente einsetzen sollten«, sagte Professor Dr. Robert Flaumenhaft, Leiter der Abteilung für Homöostase und Thrombose am Beth Israel Deaconess Medical Center in New York City, gegenüber »Nature«.
Forscher um Ishan Paranjpe von der Mount Sinai School of Medicine in New York City berichteten im »Journal of the American College of Cardiology« von Erfolgen einer Therapie mit Antikoagulanzien (DOI: 10.1016/j.jacc.2020.05.001). Sie beobachteten, dass Patienten, die eine mechanische Beatmung benötigten, eindeutig von einer Therapie mit Antikoagulanzien profitierten. So lag die Mortalität in der mit Antikoagulanzien behandelten Gruppe bei 29,1 Prozent mit einer medianen Überlebenszeit von 21 Tagen. In der Vergleichsgruppe lag die Mortalität bei 62,7 Prozent mit einer medianen Überlebenszeit von neun Tagen. Die Autoren ermitteln für jeden zusätzlichen Tag der Antikoagulation eine adjustierte Hazard Ratio von 0,86. Allerdings handelt es sich bei diesen Daten um eine retrospektive Auswertung. Daher ist die Aussagekraft der Studie begrenzt. Weil es jedoch bisher keine Daten aus randomisierten Studien gibt, bilden sie derzeit eine relevante Entscheidungsgrundlage.
Es laufen auch Studien, mit denen der Einsatz des Gewebeplasminogenaktivators tPA evaluiert wird. Zwar könnte sich dieser Wirkstoff als effektiver erweisen. Allerdings muss auch mit einem höheren Risiko für schwere Blutungen gerechnet werden.
Derzeit bleibt zunächst nur zu hoffen, so die Autorin des »Nature«-Berichts Willyard, dass diese und andere Studien die notwendigen Daten liefern werden, um Ärzte bei den so schwierigen Behandlungsentscheidungen relevant zu unterstützen.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.