Erster Antikörper gegen HIV |
| Annette Rößler |
| 29.09.2020 07:00 Uhr |
Die meisten HIV-Patienten können das Virus mit den verfügbaren antiretroviralen Arzneistoffen wirksam unterdrücken. Wo dies nicht mehr gelingt, gibt es mit Ibalizumab jetzt eine neue Therapieoption. / Foto: Getty Images/MicroStockHub
Trogarzo ist ein Reserve-Arzneimittel. Es darf nur bei Erwachsenen mit einer multiresistenten HIV-Infektion eingesetzt werden, wenn aufgrund der Resistenzen oder wegen Verträglichkeitsproblemen kein anderes Therapieregime möglich ist. Der Antikörper muss stets mit anderen antiretroviralen Medikamenten kombiniert werden. Die Behandlung gehört in die Hände eines auf HIV-Therapie spezialisierten Arztes.
Der humanisierte monoklonale IgG4-Antikörper Ibalizumab bindet an den CD4-Rezeptor auf T-Helferzellen, den HI-Viren nutzen, um in ihre Wirtszellen einzudringen. Ibalizumab verhindert dies und auch eine mögliche Übertragung des HI-Virus von Zelle zu Zelle per Zellfusion. Da der CD4-Rezeptor für das Funktionieren der adaptiven Immunantwort wichtig ist – er spielt eine entscheidende Rolle bei der Erkennung von Antigenen, die der T-Zelle von Antigen-präsentierenden Zellen über den sogenannten Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC) Klasse II präsentiert werden –, darf er durch den Antikörper allerdings nicht vollständig blockiert werden. Daher wurde Ibalizumab so designt, dass es an die Domäne 2 des CD4-Rezeptors bindet, die der für die Bindung der MHC-Klasse-II-Moleküle essenziellen Domäne 1 gegenüberliegt, sodass es die CD4-vermittelte Immunfunktion nicht beeinträchtigt.
Die Dosierung beträgt einmalig 2000 mg gefolgt von 800 mg alle zwei Wochen. Hat der Patient den Termin für eine Erhaltungsdosis um drei Tage oder länger versäumt, muss erneut die Aufsättigungsdosis von 2000 mg gegeben werden. Die Therapie wird dann wieder mit 800 mg alle zwei Wochen fortgesetzt.
Vor der intravenösen Infusion wird das Konzentrat in 250 ml steriler Kochsalzlösung verdünnt. Die Infusion muss von medizinischem Fachpersonal verabreicht werden und darf nicht zu schnell gegeben werden: Für die erste Infusion sind mindestens 30 Minuten einzuplanen und für die folgenden mindestens 15 – sofern es beim ersten Mal keine infusionsbedingten Nebenwirkungen gegeben hat. Während der Infusion und im Anschluss daran muss der Patient beobachtet werden, beim ersten Mal für mindestens eine Stunde, danach bei unkritischem erstem Verlauf für mindestens 15 Minuten.
Die häufigsten Nebenwirkungen in Studien waren Ausschlag, Durchfall, Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, Müdigkeit und Erbrechen. Die überwiegend leichten bis mäßigen Ausschläge traten bei 9,2 Prozent der mit Ibalizumab behandelten Patienten auf, und zwar meist innerhalb von einer bis drei Wochen nach Therapiebeginn, und klangen meist innerhalb von einer bis drei Wochen wieder ab. Als Gegenmaßnahme wird eine symptomatische Therapie empfohlen, zum Beispiel mit Corticosteroiden und/oder Antihistaminika. Abgesetzt werden musste Ibalizumab in den Studien bei zwei Patienten mit inflammatorischem Immunrekonstitutionssyndrom (IRIS), einer entzündlichen Reaktion auf asymptomatische oder residuale opportunistische Erreger bei schwer immungeschwächten Patienten, die eine antiretrovirale Therapie beginnen, und bei einem Patienten mit Überempfindlichkeitsreaktion.
Der Wirksamkeitsnachweis für Ibalizumab wurde in zwei klinischen Studien geführt: TMB-301 und TNX-355.03. Die erste Studie war einarmig und hatte 40 Teilnehmer, stark vorbehandelte Patienten mit multiresistenter HIV-Infektion. Die Studie begann mit einer Kontrollphase von sieben Tagen (Tage 0 bis 6), in der die Probanden entweder keine Therapie erhielten oder im Rahmen ihrer versagenden Therapie überwacht wurden. Im Anschluss an diese Beobachtungsphase, die zur Ermittlung der Basis-Viruslast diente, wurde den Teilnehmern Ibalizumab einmalig in der Aufsättigungsdosis von 2000 mg infundiert (Tag 7) und die zusätzliche antiretrovirale Therapie (ART) – falls vorhanden – unverändert fortgesetzt. Dieser Studienabschnitt, der ebenfalls sieben Tage dauerte, wurde als Phase mit funktioneller Monotherapie bezeichnet. An Tag 14 wurde die Viruslast bestimmt und anschließend die zusätzliche ART so optimiert, dass sie mindestens ein Arzneimittel enthielt, gegenüber dem das Virus des Patienten empfindlich war. Ab Tag 21 bis einschließlich Woche 25 erhielten die Patienten zudem alle zwei Wochen 800 mg Ibalizumab intravenös.
Der primäre Endpunkt der Studie war der Anteil der Patienten, die von Beginn bis Ende der Phase mit funktioneller Monotherapie eine Verringerung der Viruslast von ≥ 0,5 log10 erreichten (n = 33; 83 Prozent), verglichen mit dem Anteil der Patienten, die das von Beginn bis Ende der Kontrollphase erreichten (n = 1; 3 Prozent). Die Zahl der CD4+-Zellen stieg im Verlauf der Studie bis Woche 25 um durchschnittlich 62 pro mm3 an.
Die Studie TNX-355.03 war dreiarmig und hatte 82 Teilnehmer, die während der gesamten Studiendauer mit einem für sie individuell optimiertes ART-Schema behandelt wurden. Zusätzlich dazu erhielten sie randomisiert und doppelblind entweder
Bis Woche 16 betrug die mittlere Verringerung der Viruslast in Arm A 1,07 log10 Kopien/ml, in Arm B 1,33 log10 Kopien/ml und im Placeboarm 0,26 log10 Kopien/ml.
Die Anwendung von Ibalizumab während der Schwangerschaft wird nicht empfohlen und soll in der Stillzeit unterbleiben. Trogarzo ist bei 2 bis 8 °C und im Umkarton zu lagern und zu transportieren. Nach der Verdünnung kann die fertige Infusionslösung bis zu vier Stunden lang unter 25 °C oder bis zu 24 Stunden lang bei 2 bis 8 °C aufbewahrt werden.
Eine klare Definition von multiresistenter HIV-Infektion gibt es nicht. In der Regel ist aber von jenen Patienten die Rede, bei denen mindestens eine Dreiklassen- oder gar eine Vierklassen-Resistenz aufgetreten ist. Glücklicherweise hat sich die HIV-Therapie in den vergangenen Jahren deutlich verbessert, sodass die Inzidenz der HIV-Multiresistenz rückläufig und eine Vierklassen-Resistenz extrem selten ist. Oft handelt es sich im Falle einer Vierklassen-Resistenz um Patienten, die bereits viele Jahre infiziert sind und die früher mit einer – aus heutiger Sicht – insuffizienten Therapie behandelt wurden. Bei diesen Patienten ist es aber extrem wichtig, eine Virussuppression zu erreichen, um das Ausbrechen von Aids zu verhindern. Ibalizumab ist für diese Patienten als relevanter Therapiefortschritt zu werten. Der erste Antikörper für die HIV-Therapie ist als Sprunginnovation zu sehen.
Sogar eine Monotherapie mit Ibalizumab bringt eine Viruslast-Absenkung. Der Antikörper sollte aber kombiniert werden. Ärzte sollten abhängig davon, auf welche Substanzen der einzelne Patient noch anspricht, ein optimiertes Hintergrund-Regime zusammenstellen. Dann ist das Ansprechen deutlich besser und die Wahrscheinlichkeit einer Viruskontrolle erhöht.
Auch das Wirkprinzip von Ibalizumab, die Bindung nur an eine bestimmte Domäne des CD4-Rezeptors auf der Oberfläche von T-Zellen, ist interessant und unterstreicht den innovativen Charakter des neuen Präparats. Leider gibt es aber auch Patienten mit einer verminderten Empfindlichkeit gegenüber dem Antikörper. Dies hängt wahrscheinlich mit Verlust oder Verschiebung von Glykosylierungsstellen in einer variablen Region des HIV-Hüllproteins gp120 zusammen.
Sven Siebenand, Chefredakteur