Erste Gentherapie im Handel |
Sven Siebenand |
06.10.2022 07:00 Uhr |
Hämophilie A zeichnet sich durch einen Mangel an Blutgerinnungsfaktor VIII aus. / Foto: Adobe Stock/angellodeco
Hämophilie A ist fünf- bis siebenmal häufiger als Hämophilie B. In Deutschland sind rund 4000 Menschen davon betroffen. Da die Erkrankung X-chromosomal vererbt wird, sind die Patienten in der Regel männlichen Geschlechts. Hämophilie A führt zu einer mangelnden Aktivität des Blutgerinnungsfaktors VIII. Dieser beschleunigt die Aktivierung von Faktor X in der Blutgerinnungskaskade um das 100.000-Fache. Es ist also leicht nachvollziehbar, dass fehlende Faktor-VIII-Aktivität mit Blutgerinnungsstörungen einhergeht. Die Faktor-VIII-Aktivität korreliert dabei mit dem Blutungsrisiko.
Von einer schweren Hämophilie A spricht man, wenn die FVIII-Aktivität bei <1 IE pro dl liegt. Betroffene leiden dann unter häufigen Blutungsepisoden und auch spontanen Blutungen. Faktor-VIII-Präparate haben die Behandlung der Hämophilie A in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessert, insbesondere Präparate mit verlängerter Halbwertszeit. Die Einführung des bispezifischen Antikörpers Emicizumab war ein wichtiger weiterer Therapiefortschritt. Allerdings haben auch die neuen Medikamente ihre Grenzen. Insbesondere die Entzündungen der Gelenkinnenhaut und auch die stark belastenden Gelenkblutungen können sie nicht verhindern. Es gibt also Bedarf an neuen Therapieoptionen.
Die Gentherapie Roctavian® wird einmalig intravenös verabreicht. / Foto: Biomarin
Valoctocogen Roxaparvovec besteht aus einem nicht replizierenden AAV5-Vektor, der die cDNA des humanen FVIII-Gens ohne dessen B-Domäne enthält. Innerhalb der Zelle formt das Transgen ein stabiles Episom, das außerhalb des Genoms vorliegt. Aufgrund des Tropismus des Vektors und des leberspezifischen Promotors erfolgt die FVIII-Produktion hauptsächlich in Hepatozyten. Der exprimierte Gerinnungsfaktor ersetzt den fehlenden Faktor, der für eine effektive Hämostase notwendig ist. Da die Expression des transferierten Gens mit der Zeit nachzulassen scheint, müssen weitere Studien klären, wie lange der Effekt anhält.
Um die Wirksamkeit und Sicherheit von Valoctocogen Roxaparvovec zu evaluieren, erhielten 134 Männer mit schwerer Hämophilie eine einmalige Infusion von 6 x 1013 Vektorgenomen pro Kilogramm Körpergewicht. Alle Probanden waren mindestens 18 Jahre alt, erhielten seit mindestens einem Jahr FVIII-Konzentrate zur Prophylaxe und hatten keine Hemmkörper gegen FVIII gebildet. Als primärer Endpunkt wurde die Veränderung der FVIII-Aktivität 49 bis 52 Wochen nach Infusion im Vergleich zum Studienbeginn festgelegt. Sekundäre Endpunkte waren die Veränderungen des annualisierten Bedarfs an FVIII-Konzentrat sowie der Anzahl der Blutungsereignisse, gemessen ab der fünften Woche nach Behandlung. Als weiterer Endpunkt wurde die FVIII-Aktivität in der Untergruppe derer ausgewertet, bei denen die Intervention mindestens zwei Jahre zurücklag.
Die durchschnittliche FVIII-Aktivität lag in den Wochen 49 bis 52 nach Behandlung um 42 IE pro dl höher als bei Studienbeginn, was einen signifikanten Anstieg darstellte. Bei 38 Prozent der Probanden betrug die Veränderung mindestens 40 IE pro dl, bei 50 Prozent der Teilnehmer zwischen 5 und 40 IE pro dl, was einer milden Hämophilie entspricht, und bei 12 Prozent weniger als 5 IE pro dl. Nach der vierten Woche war der durchschnittliche annualisierte Bedarf an FVIII-Konzentrat signifikant um 99 Prozent gesunken. Die durchschnittliche Häufigkeit der Blutungsereignisse nahm ebenfalls signifikant um 84 Prozent ab. In der Subgruppe der Probanden, die ihre Infusion mindestens zwei Jahre vor Datenauswertung erhalten hatten, war die FVIII-Aktivität nach einem Jahr um durchschnittlich 42 IE pro dl erhöht, nach zwei Jahren noch um durchschnittlich 24 IE pro dl.
Roctavian wird einmalig verabreicht. Das geschieht per Infusion in die Vene. Die Dosis richtet sich nach dem Körpergewicht des Patienten. Die empfohlene Dosierung sind 6 x 1013 Vektorgenome pro Kilogramm.
Zu den sehr häufigen Nebenwirkungen von Roctavian zählen erhöhte Leberenzymwerte, Übelkeit und Kopfschmerzen. Kontraindiziert ist das Gentherapeutikum bei Personen, die an einer aktiven oder chronischen Infektion leiden, die nicht durch Arzneimittel kontrolliert wird, oder die eine signifikante Leberfibrose oder -zirrhose haben. Grundsätzlich wird das neue Gentherapeutikum nicht bei Vorliegen einer Lebererkrankung empfohlen. Denn die Wirksamkeit von Valoctocogen Roxaparvovec beruht letztlich auf der Bildung des Gerinnungsfaktors in den Hepatozyten. Verständlich ist daher auch, dass vor Therapie und in regelmäßigen Abständen danach die Leberfunktion überprüft wird.
Der Einsatz hepatotoxischer Arzneimittel ist in jedem Fall auch zu hinterfragen. Zudem wird in der Fachinformation dazu geraten, dass Patienten mindestens ein Jahr nach Verabreichung von Roctavian auf Alkoholkonsum verzichten und ihn nachfolgend begrenzen. Last, but not least wird auch der Wirkstoff Isotretinoin nicht empfohlen, da er die Faktor-VIII-Expression beeinträchtigen kann.
Roctavian ist bei ≤ - 60 °C zu lagern und zu transportieren. Nach dem Auftauen darf es nicht wieder eingefroren werden.
Obwohl sich die Therapie der Hämophilie A in den vergangenen Jahren deutlich verbessert hat, gibt es noch immer Bedarf an weiteren Behandlungsoptionen. Das zeigt sich alleine daran, dass auch heute noch 10 bis 20 Prozent aller Todesfälle bei Hämophilie-A-Patienten auf das Konto von Blutungen, insbesondere intrakranieller Art, gehen. Zu den bisherigen Grenzen der Therapie zählt, dass damit keine lebenslange Gelenkgesundheit möglich ist. Entzündungen der Gelenkinnenhaut, Gelenkblutungen und Schmerz lassen sich nicht komplett verhindern.
Die Einführung der Gentherapie ist daher vorläufig als Sprunginnovation zu sehen. Leider sind es aber längst nicht alle Patienten mit Hämophilie A, die damit gemäß der aktuellen Zulassung behandelt werden können. Hemmkörper gegen Faktor VIII dürfen nicht vorliegen, ebenso darf es keine AAV5-Antikörper geben. Für die schätzungsweise 15 Prozent aller Betroffenen, für die Roctavian infrage kommt, verspricht die einmalige Gabe aber einen großen Nutzen. Das zeigt auch die Hauptstudie.
Die Gentherapie hat das Potenzial, konstante Faktorwerte zu liefern, idealerweise im Normbereich oder im unteren Normbereich. Zwei Jahre nach Erhalt des Arzneimittels wiesen rund drei Viertel der Patienten eine durchschnittliche Faktor-VIII-Aktivität von mindestens 5 IE pro dl auf, was nur noch einer leichten Hämophilie A entspricht. Darüber hinaus sank die jährliche Anzahl der Blutungsepisoden deutlich und die Notwendigkeit einer zusätzlichen Faktor-VIII-Substitutionstherapie ging sehr stark zurück. Das dürfte die Lebensqualität der Betroffenen deutlich verbessern.
Aus einer wesentlich kleineren Phase-I/II-Studie gibt es bereits Sechs-Jahres-Daten, die einen anhaltenden Rückgang der behandelten Blutungen im Nachbeobachtungszeitraum zeigen. Zukünftig wird sich zeigen müssen, wie lange der Effekt insgesamt anhält. Eine wiederholte Gabe scheint wegen der Antikörperbildung gegen den Vektor schwierig zu sein. Mit Spannung darf man die Ergebnisse von Studien bei Jugendlichen erwarten. Möglichst früh zu starten, hätte sicher Vorteile. Allerdings befindet sich die Leber in diesem Lebensalter noch im Wachstum, was die Gentherapie erschweren könnte.
Sven Siebenand, Chefredakteur