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Porträt eines Organs

Die Zunge hat ihren eigenen Kopf

Wir befinden uns im Glossozän, meint der Literaturwissenschaftler Dr. Florian Werner. Warum er die Zunge für ein völlig unterschätztes Organ hält und warum der soziale Muskel ein Denkmal verdient hat, erzählt er im PZ-Interview.
AutorKontaktJennifer Evans
Datum 20.11.2023  07:00 Uhr

PZ: Warum widmen Sie der Zunge ein Porträt?

Werner: Unser Hund Jim hat mich auf die Idee gebracht, weil er wahnsinnig viel mit seiner Zunge kommuniziert. Er hat mich immer abgeleckt, wenn ich nach Hause kam, und dann hat mein damals vierjähriger Sohn es ihm nachgemacht. Das fand ich sowohl charmant als auch komisch. Also begann ich, über die Funktionen der Zunge nachzudenken und zu recherchieren. Dabei ist mir aufgefallen, wie irre präsent sie derzeit ist. Egal, ob man in die sozialen Netzwerke schaut, in die Literatur oder in die Musik: Es wird viel Zunge gezeigt. Aber woher kommt eigentlich diese neue Lust an der Zunge, habe ich mich gefragt, zumal sie zum Beispiel in der Kunstgeschichte jahrtausendelang kaum eine Rolle spielte? Man wird kein Herrscherporträt mit rausgestreckter Zunge finden.

PZ: Ab wann ist die Zunge denn in der Kunst aufgetaucht?

Werner: Für mich beginnt das Glossozän im Jahr 1951. Damals entstand das ikonische Foto von Albert Einstein, an seinem 72. Geburtstag in Princeton. Eigentlich wollte Einstein längst nach Hause gehen, nachdem die Fotografen an diesem Tag schon Tausende von Bildern von ihm geschossen hatten. Aber sie ließen nicht locker, und dann reagierte er mit dieser kindlichen, rotzigen Geste, die viele andere ehrbare Personen womöglich die Professur gekostet hätte. Aber als Nobelpreisträger war er über jeden Verdacht erhaben, und man ließ ihm das durchgehen. Als Mick Jagger zwanzig Jahre später auf der Bühne die Zunge rausstreckte, passte das schon eher zu seiner Rolle. Auch Marilyn Monroe zeigte gern ihre Zunge. Allerdings anders als bei Einstein, wo der Zungenrücken zu sehen war, weil er die Zungenspitze nach unten streckte. Monroe hingegen wölbte die Zunge nach oben, sodass der schlüpfrige Unterleib der Zunge mit dem Zungenbändchen zum Vorschein kam. Das hat sich als erotische Geste etabliert. Etwas obszön wirkte auch Jimi Hendrix, als er in den 60er-Jahren mit der Zunge seine Gitarre spielte. Er gab praktisch seinem Instrument einen Zungenkuss.

PZ: Wer darf denn wann und in welchem Kontext die Zunge zeigen?

Werner: Der Umgang mit der Zunge ist im Zuge der Pop- und Protestkultur schon sehr viel lockerer geworden. Heute postet man in den sozialen Netzwerken ja auch gern Bilder mit rausgestreckter Zunge. Diese »Party-Zunge« hat längst die Funktion eines vollständigen Aussagesatzes: Sie signalisiert, dass man gerade wahnsinnig viel Spaß hat. Aber nicht überall ist das Spiel mit der Zunge zulässig. Ich denke da etwa an Armin Laschet, der im Sommer 2021 als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Kanzlerkandidat der Union nach der Flutkatastrophe das verwüstete Ahrtal besuchte. Als er sich unbeobachtet fühlte, grinste er über einen Scherz und presste spitzbübisch die Zunge zwischen den Zähnen hervor. Man kann schon sagen: Danach konnte er sich die Kanzlerkandidatur abschminken. In der Situation wäre eher staatsmännischer Ernst gefordert gewesen. Das heißt, dass man dieses Organ heute nach wie vor nicht in jedem Kontext zeigen darf.

PZ: Der Zunge kann man also nicht über den Weg trauen. Sie halten sie sogar für ambivalent.

Werner: Beim Arzt zum Beispiel ist es ganz normal, wenn man die Zunge rausstreckt und auch der Zungenrücken angeschaut wird. Aber sobald sie nicht auf Aufforderung, sondern bewusst gezeigt wird, wird ihre Haltung bedeutsam. Zeigt sie nach unten, zeigt sie nach oben, wandert sie in den Mundwinkel? Letzteres ist eine Nachdenklichkeitsgeste – vor allem wenn Konzentration gefragt ist. Diese Zungenbewegung machen Menschen im Übrigen meist dann, wenn sie beobachtet werden. Sie kommunizieren damit also unbewusst ihrer Umwelt: Stört mich nicht, ich denke gerade nach. Dann gibt es noch die deiktische Zunge. Das berühmteste Beispiel ist wohl Boris Becker, der beim Aufschlag oft unwillkürlich die Zunge herausstreckte. Sein Konkurrent Andre Agassi wusste das allerdings gut zu interpretieren. Er hat an der Zungengeste nämlich Beckers Schlagrichtung abgelesen. Das gab er aber erst nach dem Karriereende der beiden Tennis-Profis preis. Die Zungenspitze war quasi der Vektorpfeil, der die Ballrichtung voraussagte. Die verräterische Zunge trägt also Gedanken schon vorab nach außen. Auch wenn sie schweigt, sagt sie viel aus.

PZ: Auch aus Sicht der Medizin kann sie Spiegel der Seele sein oder gar Aufschluss über Krankheiten geben …

Werner: In der traditionellen chinesischen Medizin wird ja schon lange an Größe und Form der Zunge abgelesen, wie es um die Gesamtsituation des Menschen steht. Bestimmte Organregionen sind etwa bestimmten Zungenregionen zugeordnet. Diese Kodierung der Zunge erlaubt dann einen Blick in den Körper. Bekannt ist natürlich die Erdbeer- oder Himbeerzunge, die auf eine Scharlacherkrankung hinweist, weil die Pilzpapillen entzündlich vergrößert sind. Bei Anämie verlieren die Betroffenen ihre Fadenpapillen, sodass der Zungenrücken unnatürlich glatt erscheint. Und bei Vitamin-B-Mangel können sich die Pilzpapillen ödematisch stark vergrößern. Faszinierend fand ich den erst vor wenigen Jahren erschienenen Zungenatlas von Andreas Filippi und Irène Hitz Lindenmüller. Ein Nachschlagewerk für Ärztinnen und Ärzte, das zeigt, welche Erkrankungen sich an dem Organ ablesen lassen.

PZ: Wie ist die Zunge in der Evolutionsgeschichte überhaupt entstanden?

Werner: Als Reaktion auf das Leben an Land. Die allermeisten Fischarten haben keine bewegliche Zunge, das Essen schwimmt ihnen ja quasi automatisch in den Mund. Sie brauchten kein solches Organ, das zwischen innen und außen vermittelt. Weil die Ernährungsbedingungen an Land aber andere waren, bildete sich die Zunge bei allen landlebenden Wirbeltieren allmählich aus dem Zungenbein heraus. Sie dient also nicht allein der Sprache. Man denke an das Chamäleon, das seine Zunge 40 Zentimeter weit rausschießen kann, um Fliegen zu fressen. Bei der Kuh hat sich ein besonders starker Muskel entwickelt, damit sie das Gras ausrupfen kann, bevor sie es in den Mund befördert. Auch der Mensch nutzt seine Zunge, um hartes Essen einzuspeicheln, oder er schleckt Luxusgüter wie Eis oder Schokoladencreme mit ihr. Das Organ überwindet also die Körpergrenzen, indem es Nahrung von außen nach innen holt.

PZ: Welcher Zungen-Fakt hat Sie bei der Recherche am meisten überrascht?

Werner: Ich habe gemerkt, dass mir gar nicht bewusst war, was meine Zunge den lieben langen Tag über macht. Es sei denn, sie pult gerade an einer losen Plombe oder Ähnliches – ansonsten nimmt man sie eigentlich gar nicht wahr. Dabei ist sie so zentral für unser Menschsein: Essen, Schmecken, Küssen, Lecken, Sprechen. Trotzdem bewegt sich dieses Muskelpaket fast immer unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Dann fing ich an, nachzuschmecken und nachzuspüren, was in meinem Mund so passiert, wenn ich Laute forme. Seitdem ist mein Mundraum nicht mehr derselbe. Weil ich immer über die Zunge nachdenke.

PZ: Wieso befinden wir uns denn im Zeitalter der Zunge?

Werner: Sie hat einfach eine enorme Sichtbarkeit bekommen. Insofern steht sie symbolisch für einen freizügigeren Umgang mit Gesten, die früher provokativ gewesen wären. Wir sprechen ja auch über vieles sorgloser und unbefangener als die Generationen davor. Zum Beispiel, wenn es um körperliche oder geistige Gesundheit geht. Hinzu kommt: Vieles, was wir früher mit Händen gemacht hätten, übernehmen heute Sprachassistenten. Sprechen ist das neue Tippen. Nachrichten werden diktiert, im Smart Home gibt die Stimme die Anweisungen. Das alles sind für mich Indikatoren: Wir befinden uns im Glossozän.

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