Die unterschätzte Emotion |
Jennifer Evans |
24.11.2020 07:00 Uhr |
Zum Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts wandelte sich das Bild von der Langeweile jedoch. Der Blick der Existenzialisten auf das Nichtstun war nämlich weniger schmeichelhaft. Sie hätten nicht nur der Oberschicht, sondern gleich der ganzen Menschheit leere Existenz vorgeworfen, schreibt Van Tilburg. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard (1823 bis 1855) ging schon früher so weit, die Langeweile als Ursprung allen Übels zu bezeichnen. Weil die Götter gelangweilt waren, schufen sie den Menschen, so seine Argumentation. Die Philosophen Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) und Jean-Paul Sartre (1905 bis 1980) teilten Kierkegaards Ansicht. In ihren Augen war eine Welt voller Langeweile eine Welt ohne Bedeutung, berichtet der Psychologe.
Als sich die Psychologie im Laufe des 20. Jahrhunderts als wissenschaftliche Disziplin etablierte, stand die Erforschung der Langeweile zunächst nicht im Fokus. Erst im Jahr 1972 griff der Psychoanalytiker Erich Fromm (1900 bis 1980) das Gefühl wieder auf. Viel positiver als die Existenzialisten bewertete aber auch er es nicht: Für ihn war Langeweile die womöglich ausschlaggebendste Quelle für Aggression und Zerstörungswut in einem Menschen. Erst mit der Verbesserung wissenschaftlicher Messmethoden wurden die lange in Verruf stehende Emotion und ihre Auswirkung auf das menschliche Gemüt genauer erforscht. Bald schon zeigte sich: Wer sich schnell gelangweilt fühlte, neigte auch verstärkt zu Ängstlichkeit und Depressivität, berichtet Van Tilburg. Darüber hinaus zeigten gelangweilte Menschen eine Tendenz zur Aggressivität und stuften ihr Leben als weniger bedeutungsvoll ein als Menschen, die sich nicht so schnell langweilten.
Aus Sicht der Psychologie existiert allerdings auch eine positive Seite der emotionalen Ödnis: »Forscher fanden heraus, dass Langeweile die Suche nach dem Sinn des Lebens anregt, das Erkunden antreibt sowie die Offenheit gegenüber Neuem beflügelt«, so der englische Wissenschaftler. Seiner Auffassung nach verdeutlicht dies, dass Langeweile weit mehr als ein allgemeines Gefühl darstellt, sondern gleichzeitig eine funktionale Emotion ist. Ein Gefühl, das Menschen dazu veranlasst, »zugunsten erfüllender Alternativen ihre aktuelle Situation zu überdenken«. Als Beispiel nennt er die spontane Neigung, die eigene Kreativität zu fördern oder sich sozialer zu verhalten.
Vor diesem Hintergrund scheine es so, als ob die Langweile unser Verhalten reguliert und uns sogar davor schützt, zu lange in eigentlich unerträglichen Situationen auszuharren, resümiert Van Tilburg. Er hält sie daher für eine unterschätzte Emotion, die fälschlicherweise lange als »ein bloßes Leiden der Oberschicht oder als eine existenzielle Gefahr« galt. Stattdessen erachtet er den Leerlauf als ein »wichtiges psychologisches Instrument für Menschen, die nach einem erfüllten Leben streben«.
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