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Langeweile

Die unterschätzte Emotion

Früher als Leiden der Oberschicht beschmunzelt, heute ein verhasstes Gefühl. Das Image der Langeweile ist schlecht. Dabei hat sie eine so wichtige Funktion. Die Coronavirus-Zeit gibt nun vielen die Chance, der Leere zu begegnen.
Jennifer Evans
24.11.2020  07:00 Uhr

Jeder Mensch reagiert anders auf Langeweile. Der eine entwickelt ein neues Hobby, der andere liegt auf dem Sofa und schaut Fernsehen. Eine internationale Umfrage hat gezeigt, dass Langeweile außerdem ein Problem im Job sein kann. Insbesondere in juristischen Berufen scheint es viel Eintönigkeit zu geben. Wie eine Grafik der Statistikdatenbank Statista zeigt, teilen diese Meinung 81 Prozent der Befragten, die in diesem Bereich tätig sind. Auch das Projektmanagement bietet wohl wenig Abwechslung, wie 78 Prozent dieser Berufsgruppe bestätigen. Die wenigsten Menschen langweilen sich laut der Umfrage unter 1300 Fachkräften aus zehn Ländern, wenn sie in der Bildung, Geschäftsführung oder Forschung und Entwicklung arbeiten.

Eine der frühesten Erwähnungen des Wortes Langeweile stammt Wijnand Van Tilburg zufolge aus einem Gedicht des römischen Dichters und Philosophen Lukrez (99 bis 55 vor Christus). Darin beschreibe dieser das öde Dasein eines reichen Römers, der sich auf der Suche nach Abwechslung auf seinen Landsitz flüchtet – nur um sich dort genauso gelangweilt zu fühlen wie in der Stadt, berichtet der Sozialpsychologe und Dozent am Institut für Psychologie an der University Essex in seinem Beitrag auf der Wissenschaftsnachrichten-Plattform »The Conversation«.

Verbreitet hat die Redewendung »zu Tode gelangweilt« dann der englische Schriftsteller Charles Dickens (1812 bis 1870) in seinem Roman »Bleak House« von 1953. Die Aristokratin Lady Dedlock machte davon Gebrauch, um auszudrücken, dass sie sowohl des Wetters und der Landschaft als auch des musikalischen und schauspielerischen Unterhaltungsprogramms überdrüssig war. Laut Van Tilburg war in der gesamten Viktorianischen Literatur Langeweile ein beliebtes Thema. Meist sei es dabei allerdings um das Leben der Oberschicht gegangen, deren Müßiggang Ausdruck des sozialen Status gewesen sei.

Zeit zum Nachdenken

Zum Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts wandelte sich das Bild von der Langeweile jedoch. Der Blick der Existenzialisten auf das Nichtstun war nämlich weniger schmeichelhaft. Sie hätten nicht nur der Oberschicht, sondern gleich der ganzen Menschheit leere Existenz vorgeworfen, schreibt Van Tilburg. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard (1823 bis 1855) ging schon früher so weit, die Langeweile als Ursprung allen Übels zu bezeichnen. Weil die Götter gelangweilt waren, schufen sie den Menschen, so seine Argumentation. Die Philosophen Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) und Jean-Paul Sartre (1905 bis 1980) teilten Kierkegaards Ansicht. In ihren Augen war eine Welt voller Langeweile eine Welt ohne Bedeutung, berichtet der Psychologe.

Als sich die Psychologie im Laufe des 20. Jahrhunderts als wissenschaftliche Disziplin etablierte, stand die Erforschung der Langeweile zunächst nicht im Fokus. Erst im Jahr 1972 griff der Psychoanalytiker Erich Fromm (1900 bis 1980) das Gefühl wieder auf. Viel positiver als die Existenzialisten bewertete aber auch er es nicht: Für ihn war Langeweile die womöglich ausschlaggebendste Quelle für Aggression und Zerstörungswut in einem Menschen. Erst mit der Verbesserung wissenschaftlicher Messmethoden wurden die lange in Verruf stehende Emotion und ihre Auswirkung auf das menschliche Gemüt genauer erforscht. Bald schon zeigte sich: Wer sich schnell gelangweilt fühlte, neigte auch verstärkt zu Ängstlichkeit und Depressivität, berichtet Van Tilburg. Darüber hinaus zeigten gelangweilte Menschen eine Tendenz zur Aggressivität und stuften ihr Leben als weniger bedeutungsvoll ein als Menschen, die sich nicht so schnell langweilten.

Aus Sicht der Psychologie existiert allerdings auch eine positive Seite der emotionalen Ödnis: »Forscher fanden heraus, dass Langeweile die Suche nach dem Sinn des Lebens anregt, das Erkunden antreibt sowie die Offenheit gegenüber Neuem beflügelt«, so der englische Wissenschaftler. Seiner Auffassung nach verdeutlicht dies, dass Langeweile weit mehr als ein allgemeines Gefühl darstellt, sondern gleichzeitig eine funktionale Emotion ist. Ein Gefühl, das Menschen dazu veranlasst, »zugunsten erfüllender Alternativen ihre aktuelle Situation zu überdenken«. Als Beispiel nennt er die spontane Neigung, die eigene Kreativität zu fördern oder sich sozialer zu verhalten.

Vor diesem Hintergrund scheine es so, als ob die Langweile unser Verhalten reguliert und uns sogar davor schützt, zu lange in eigentlich unerträglichen Situationen auszuharren, resümiert Van Tilburg. Er hält sie daher für eine unterschätzte Emotion, die fälschlicherweise lange als »ein bloßes Leiden der Oberschicht oder als eine existenzielle Gefahr« galt. Stattdessen erachtet er den Leerlauf als ein »wichtiges psychologisches Instrument für Menschen, die nach einem erfüllten Leben streben«.

Chatten, twittern, texten

Das Problem: Der moderne Mensch kennt Langeweile kaum noch, erstickt sie praktisch direkt im Keim, indem er aufkommende Leere mit Chatten, Twittern und E-Mails schreiben füllt. Nur wenige können sie ertragen. Das Nichtstun ist für viele der größte Stress, wie eine Studie um den Psychologen Timothy Wilson von der US-amerikanischen University of Virginia aus dem Jahr 2014 eindrucksvoll deutlich machte (DOI: 10.1126/science.1250830).

Die Studienteilnehmer  versetzten sich Stromschläge, wenn sie eine Zeit lang in einem leeren Raum ausharren mussten. Rund ein Viertel der weiblichen und zwei Drittel der männlichen Probanden drückten innerhalb der ersten 15 Minuten mindestens einmal den Knopf, um den Elektroschock auszulösen. Genau wissen die Forscher nicht, warum es Menschen offenbar so schwerfällt, mit sich und ihren Gedanken allein zu sein. Zumal das Sinnieren über Vergangenheit und Zukunft eine urmenschliche Eigenschaft sei, die uns gerade von anderen Arten unterscheide, heben die Autoren hervor.

Zumindest in der Wissenschaft hat die Langeweile in den vergangenen Jahren einen immer größeren Stellenwert bekommen. In diesem Jahr hat bereits die vierte »International Interdisciplinary Boredom Conference« stattgefunden. Ziel ist es hier, Experten aus möglichst vielen akademischen Disziplinen zusammenzubringen, um sich über die Geschichte, Gründe und Konsequenzen der Fadheit auszutauschen. Vielleicht ist es an der Zeit, der Langweile eine Chance zu geben. 

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