Die Suche nach dem perfekten Grippeimpfstoff |
Theo Dingermann |
10.03.2023 12:30 Uhr |
Influenzaimpfstoffe enthalten entweder ganze inaktivierte Grippeviren oder die viralen Oberflächenproteine Hämagglutinin (blau) und Neuraminidase (grün), die rekombinant hergestellt werden. / Foto: Adobe Stock/Axel Kock
Impfstoffe gegen die saisonale Grippe enthalten je zwei Influenza-A- und Influenza-B-Viren. In jedem Jahr wird neu überprüft, ob sie voraussichtlich auch vor Viren schützen, die in der bevorstehenden Grippesaison zirkulieren und Krankheiten beim Menschen verursachen werden. Alle aktuellen, in der EU zugelassenen Grippeimpfstoffe enthalten Antigene eines Grippe-A(H1)- und eines Grippe-A(H3)-Virus. Ferner sind Antigene eines Grippe-B/Yamagata-Linie-Virus und eines Grippe-B/Victoria-Linie-Virus enthalten.
Die Auswahl der Impfviren für die bevorstehende Grippesaison ist ein komplexer, international durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) koordinierter Prozess. Zweimal im Jahr organisiert sie eine Arbeitssitzung mit den Direktoren der WHO-Kooperationszentren, Regulierungslaboratorien und anderen Experten, bei der die Empfehlungen zur Zusammensetzung von Grippeimpfstoffen für die kommende Saison erarbeitet werden. Diese Treffen finden im Februar zur Auswahl der künftigen saisonalen Grippeimpfstoffe für die nördliche Hemisphäre und im September für die Grippeimpfstoffe der südlichen Hemisphäre statt. Ende Februar wurde die Zusammensetzung der Impfstoffe für die Nordhalbkugel für 2023/24 festgelegt.
Jeder der vier Impfstämme wird auf Basis folgender Kriterien ausgewählt:
Ein Problem bei der Auswahl sei, dass sie sechs Monate im Voraus zu treffen ist, machte Dr. David Wentworth, Virologe und Leiter der Influenza Division der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC, bei einem WHO-Webinar zu Influenzaimpfstoffen am 1. März deutlich. Erschwert werde sie zusätzlich dadurch, dass Influenzaviren in Form von Viruspopulationen und nicht als Einzelviren zirkulierten. Der Grund ist, dass die Viren ihr Genom so ungenau kopieren: Mit jeder Replikationsrunde entstehen neue Viren, die sich von ihren Elternviren um mindestens eine Mutation unterscheiden. In einem Infizierten wird ein solcher Virusschwarm dann mit dem individuellen Immunsystem konfrontiert, wodurch die Komplexität des Schwarms in diesem Patienten abnimmt. Aber auch dann etabliert sich in jedem Infizierten eine vielgestaltige Viruspopulation.
Um bei dieser komplexen Ausgangslage valide Entscheidungen treffen zu können, bedürfe es vieler guter Daten. Diese Informationen sammelt das Global Influenza Surveillance and Response System (GISRS) der WHO ganzjährig im Rahmen eines Monitorings unter Beteiligung von 144 nationalen Influenzazentren in mehr als 114 Ländern. Dazu werden Tausende von Grippevirusproben von Patienten entnommen, getestet und isolierte Genome sequenziert. Die wichtigsten Daten, die der Impfvirus-Auswahl zugrunde liegen, sind: epidemiologische Daten der Grippeüberwachung, genetische Daten aus den Sequenzierungen, die unter anderem das Erstellen von Stammbäumen zulassen, und Antigendaten (Veränderungen in den beiden Oberflächenproteinen Hämagglutinin und Neuraminidase).
Bei den Virusvarianten wird eine sogenannte antigene Charakterisierung durchgeführt, worüber sich Ähnlichkeiten mit anderen Viren beurteilen lassen. Die antigene Charakterisierung fußt auf Tests mit Seren von Frettchen, die kontrolliert infiziert wurden. Diese Tiere sind immunnaiv, das heißt sie waren zuvor noch nicht mit einem Influenzaantigen in Berührung gekommen. Werden verschiedene zirkulierende Grippeviren (zum Beispiel H1N1-Varianten) von dem gleichen Frettchenserum neutralisiert, gelten diese Viren als dem Testvirus »antigenähnlich«.
In diesem Fall wäre es wahrscheinlich, dass die aktuelle Typ-A(H1)-Impfstoffkomponente auch in der kommenden Saison Schutz bietet und daher nicht aktualisiert werden muss. Wenn im Gegensatz dazu die durch das Testvirus induzierten Antikörper die derzeit zirkulierenden Grippeviren nicht effektiv neutralisieren, dann sind die Viren »antigenisch unterschiedlich« oder »abgedriftet«. In diesem Fall muss die Impfstoffkomponente aktualisiert werden. Antigen-Charakterisierungstests werden für jede der vier Impfstoffkomponenten in den saisonalen Impfstoffen separat durchgeführt.
»Es ist eine verbreitete Fehleinschätzung, dass bei den Arbeitstreffen versucht wird, abzuschätzen, welche Varianten in der kommenden Saison dominant sein werden«, sagte Wentworth. Vielmehr werde ermittelt, welche Virusstämme eine möglichst breite Immunantwort gegen die möglicherweise zirkulierenden Virusvarianten, die ja im Schwarm vorliegen, induzieren.
Heute werden Wentworth zufolge Impfviren-Kandidaten in erster Linie auf Basis der Genotyp-zu-Phänotyp-Analyse ausgewählt, bei der für genetische Mutationen der Effekt auf die Viruseigenschaften analysiert wird. Hauptziel ist die Identifizierung von Antigenen, die eine Immunität gegen verschiedene Viren auslösen, die in Zukunft wahrscheinlich gemeinsam auftreten werden.
Um die Auswahl der Impfstämme zu verbessern, werden auch humanserologische Daten erhoben. Sie ergänzen die Studien mit Frettchenseren insofern, da humane Seren unterschiedliche Konzentrationen von Antikörpern enthalten, die durch frühere Infektionen und Impfungen induziert wurden. Dafür werden in den Influenzazentren Blutproben von Menschen aller Altersgruppen und aus verschiedenen geografischen Gebieten vorgehalten, die sowohl vor als auch nach einer Grippeimpfung entnommen wurden.
Mithilfe von Hämagglutinationshemmtests und Mikroneutralisationsassays lässt sich ableiten, wie gut die durch die Grippeimpfung hervorgerufenen Antikörper die im Umlauf befindlichen Grippeviren erkennen und neutralisieren können. Wenn die durch die Impfung produzierten Antikörper zirkulierende Grippeviren wirksam neutralisieren, ist wahrscheinlich die Zusammensetzung des aktuellen Grippeimpfstoffs geeignet, die Menschen auch während der bevorstehenden Grippesaison zu schützen. Zusätzlich werden für die Bewertung auch Wirksamkeitsstudien von verfügbaren Grippeimpfstoffen unter realen Bedingungen herangezogen.
Mit der Züchtung eines oder mehrerer Impfviren können die Hersteller von Grippeimpfstoffen meist schon beginnen, bevor die WHO ihre offizielle Empfehlung ausgesprochen hat. Die eigentliche Produktion des Impfstoffs beginnt dann erst, sobald die WHO die empfohlene Zusammensetzung bekannt gegeben hat. Derzeit dauert es mindestens sechs Monate, um große Mengen an Grippeimpfstoff herzustellen. Die Produktionszeiten hängen dabei stark von der Methode ab, die zur Herstellung der Impfstoffe eingesetzt wird. Prinzipiell kommen drei verschiedene Verfahren zur Anwendung: Grippeimpfstoff auf Eibasis, auf Zellkulturbasis oder rekombinanter Grippeimpfstoff.
Der Großteil der Grippeimpfstoffe wird nach wie vor in Hühnereiern produziert. / Foto: GSK
Die gebräuchlichste Methode zur Herstellung von Grippeimpfstoffen ist die Virusanzucht in Hühnereiern, die seit mehr als 70 Jahren etabliert ist. Hierbei werden die Impfviren in befruchtete Eier injiziert, wo sie die Embryonen infizieren und sich vermehren. Nach mehreren Tagen Inkubation werden die Viren entnommen und durch Hitze und Chemikalienzusätze inaktiviert. Anschließend wird das Virusantigen gereinigt. Diese Produktionsmethode erfordert eine enorm große Anzahl von Hühnereiern und kann länger dauern als andere Methoden. Derzeit werden noch mehr als 90 Prozent des Grippeimpfstoffs weltweit mithilfe von Eiern produziert.
Seit 2020 ist in der EU auch der zellkulturbasierte Grippeimpfstoff Flucelvax® Tetra von Seqirus zugelassen. Für die Produktion werden die Impfviren zusammen mit Säugetierzellen kultiviert. Nach einigen Tagen werden die Viren dann geerntet und die Virusantigene gereinigt. Da zwischenzeitlich alle vier für die Herstellung tetravalenter Impfstoffe eingesetzten Viren ausschließlich in Zellkulturen gezüchtet werden, ist der Impfstoff vollständig hühnereiweißfrei.
Im Vergleich zur Anzucht in Hühnereiern wird mit der Zellkultur-basierten Produktion eine höhere Übereinstimmung mit den zirkulierenden Viren und ein besserer Impfschutz erzielt.
Eine dritte Produktionstechnologie für Grippeimpfstoffe wurde 2013 zugelassen und basiert auf rekombinanten Technologien. Hier wird gar nicht mehr mit Viren gearbeitet, stattdessen werden die Antigene gentechnisch hergestellt. Dafür werden die Hämagglutinin-Gene (HA-Gen) der Impfviren in das Genom eines Baculovirus integriert. Das Baculovirus infiziert eine geeignete Wirtszelllinie, in der das HA-Antigen sehr effizient produziert wird. Derzeit wird nur der Grippeimpfstoff Supemtek® von Sanofi Pasteur nach diesem Verfahren produziert. Er wurde im November 2020 in der EU zugelassen.
Einen Fortschritt könnten in Zukunft die mRNA-basierten Grippeimpfstoffe darstellen, die sich derzeit in der Entwicklung befinden. Zu jeweils einem Kandidaten von Biontech/Pfizer und von Moderna läuft bereits eine Phase-III-Studie.
Moderna stellte am 16. Februar vorläufige Daten aus der Zulassungsstudie seines tetravalenten Impfstoffs mRNA-1010 in einer Mitteilung vor. Demnach fielen die Immunantworten gegen die Influenza-A-Stämme besser oder genauso gut aus wie nach einer Impfung mit einem regulären Grippeimpfstoff. Bei den zwei Influenza-B-Stämmen waren die Reaktionen aber schlechter als bei dem Vergleichsimpfstoff. Moderna hat noch vier weitere Grippeimpfstoff-Kandidaten in der Pipeline.