»Die Situation ist ernst« |
Daniela Hüttemann |
09.04.2020 11:12 Uhr |
Die Gründe für Lieferengpässe sind vielschichtig. Die Corona-Pandemie verschärft die Situation durch Exportbeschränkungen und ein Ungleichgewicht bei der Bevorratung. / Foto: Getty Images/ViktorCap
»Wie in den vergangenen Jahren auch sind Lieferengpässe inzwischen ein täglicher Begleiter unserer Arbeit geworden. Die Ursachen sind vielfältig und von mir ebenso wie von vielen anderen hinreichend diskutiert worden. Ein Lieferengpass entsteht prinzipiell dann, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt. Das kann also entweder daran liegen, dass bei gleichbleibender Nachfrage die Produktion zurück geht oder umgekehrt bei konstanten Liefermengen die Verwendung bestimmter Produkte zugenommen hat. Genau das sehen wir aktuell bei einer Reihe von Präparaten, bei denen in der Vergangenheit eigentlich nie ein Mangel geherrscht hat.
Es liegt natürlich auf der Hand, dass bei einer höheren Auslastung von Intensivstationen und/oder der Schaffung weiterer Intensivbetten für Covid-19-Patienten gerade die dort eingesetzten Arzneimittel im Verbrauch zunehmen. Wir haben eine Analyse der Umschlagszahlen verschiedener intensivmedizinisch eingesetzter Medikamente durchgeführt und dabei ein heterogenes Bild bekommen. Für manche Arzneimittel hat sich die durchschnittliche Reichweite halbiert. Das bedeutet, dass unser Lagerbestand gerade mal für die vorgeschriebenen zwei Wochen ausreicht. Andere, ebenfalls im Bereich der Intensivmedizin eingesetzte Medikamente reichen dafür deutlich länger. Das dokumentiert eine klare Verschiebung des therapeutischen Spektrums.
Wir hatten uns allerdings schon im Januar dieses Jahres Gedanken gemacht, ob unsere Sicherheitsreserven ausreichen und deswegen eine sorgfältige Lagerplanung durchgeführt. Dadurch sind wir aktuell noch in der Lage, den spürbar gestiegenen Bedarf unserer Stationen und Funktionseinheiten zu bedienen.
Warum haben wir uns aber bereits im Januar mit diesem Thema auseinandergesetzt? Es ist kein Geheimnis, dass die Produktion von Wirkstoffen (API = Active Pharmaceutical Ingredient) zu einem hohen Maße in China und Indien stattfindet. Es liegt auch auf der Hand, dass es aufgrund des Ausbruchs der SARS-CoV-2-Epidemie in China und den dort ergriffenen Maßnahmen zu einem Abriss des Rohstoffnachschubs kommt. Die später erfolgten Ausfuhrbeschränkungen durch Indien haben die Situation noch verschärft.
Nun sind wir in Freiburg sicher nicht die einzigen, die frühzeitig präventive Maßnahmen ergriffen haben. Viele andere Krankenhäuser haben ähnlich gehandelt, was dazu geführt hat, dass die Lieferreichweite der pharmazeutischen Unternehmen dramatisch abgenommen hat. Die Unternehmen haben dann sehr schnell das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingeschaltet, welches seinen ordnungspolitischen Handlungsspielraum ausgenutzt und eine Lieferbeschränkung auf eine Menge, die einer Reichweite bemessen nach dem Vorjahresverbrauch der jeweiligen Einrichtung entspricht, verordnet hat.
Prof. Dr. Martin Hug ist Direktor der Apotheke des Uniklinikums Freiburg. / Foto: PZ/Alois Müller
Das führt nun in manchen Krankenhäusern zu verzweifelten Situationen. Denn in einem Klinikum der Regelversorgung werden normalerweise keine hohen Mengen an Esketamin, Lorazepam, Propofol und Sufentanil eingesetzt. Wenn nun in solchen Krankenhäusern provisorische Intensivstationen eingerichtet werden, dann reicht der achtwöchige Verbrauch des vergangenen Jahres vielleicht nur für eine Woche. In Krankenhäusern der Maximalversorgung ist die Situation nicht ganz so dramatisch, weil der Mehrverbrauch der Intensivstation zum Teil durch den Rückgang elektiver Eingriffe und den damit geringeren Arzneimitteleinsatz kompensiert wird.
Trotzdem ist die Situation nach wie vor ernst. Für uns ist eine Planung dadurch erschwert, dass es sich bei Covid-19 um eine doch neue Krankheitsentität handelt, bei der wir erst Erfahrungen sammeln müssen. Die für Patienten mit akutem Lungenversagen (Acute Respiratory Distress Syndrome, ARDS) etablierten und dort ohnehin schon komplexen Behandlungspfade lassen sich nicht 1:1 auf die Covid-19 Patienten übertragen. Deshalb ist der Arzneimitteleinsatz bei dieser Patientenklientel in vielerlei Hinsicht ein anderer.
Sicher ist aber, dass derzeit alle Patienten die bestmögliche Arzneimitteltherapie bekommen. Wir haben bisher noch in keinem Fall wegen eines Lieferengpasses auf eine schlechtere oder nebenwirkungsreichere Behandlung wechseln müssen. Ich hoffe, dass es noch lange so bleibt.«
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.