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Digitalisierung und AMTS

»Die Rolle des Apothekers wird sich verändern«

Für die Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) wird hierzulande bisher viel zu wenig getan, findet Professor Daniel Grandt, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin am Klinikum Saarbrücken und Mitglied des Vorstands der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). Im Gespräch mit der PZ erläutert er, wie der Einsatz von Technik die Verbesserung der AMTS erleichtern könnte und was das für den Apotheker in seiner Funktion als Arzneimittelfachmann bedeutet.
Christina Müller
17.02.2020  10:35 Uhr

PZ: Wie steht es aktuell um die AMTS in Deutschland?

Grandt: Es ist vergleichbar mit dem Klimaschutz: Immer mehr Menschen wird bewusst, dass wir ein Problem haben, um das wir uns kümmern sollten. Es wird aber noch nicht genug getan, um das Problem tatsächlich in den Griff zu bekommen. Wir haben in einer vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Studie gefunden, dass die ambulante Medikation bei Krankenhausaufnahme bei jedem dritten Patienten vermeidbare Risiken aufweist (DOI 10.1186/s12913-015-0844-x). Hier geht es nicht nur um ungeeignete Kombination von Arzneimitteln, hier geht es um Dosierungsfehler, Arzneitherapie ohne Indikation, Therapie trotz Kontraindikationen und Fortführung einer Arzneitherapie trotz nicht akzeptabler Nebenwirkungen – um nur einige Beispiele zu nennen. Je nach betrachtetem Risiko und Patientenkollektiv sind ein bis zwei Drittel dieser Probleme zu vermeiden.

PZ: Woran liegt es, dass sich das Wissen um bedenkliche Konstellationen in der Arzneimitteltherapie oft nicht in der Versorgungsrealität widerspiegelt?

Grandt: Zunächst einmal ist nicht jedes vermeidbare verordnungsbedingte Risiko ein Medikationsfehler. Manchmal müssen Ärzte und Patienten potenziell vermeidbare Risiken in Kauf nehmen, um ein therapeutisches Ziel zu erreichen. Es geht um die individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung. Die aber ist in Anbetracht der Menge zu berücksichtigender Informationen nicht ohne IT zu gewährleisten: Der Barmer-Arzneimittelreport hat gezeigt, dass die Versicherten im Betrachtungsjahr mit insgesamt 1.860 verschiedenen Wirkstoffen behandelt wurden, wobei über 450.000 unterschiedliche Kombinationen eingesetzt wurden. Das macht elektronische Unterstützung zwingend notwendig, wenn man AMTS erreichen möchte. Aber nicht nur die Verordnungsentscheidung, auch der Behandlungsprozess ist komplexer geworden. Multimorbide Patienten werden in der Regel von drei oder mehr Ärzten medikamentös behandelt und beziehen ihre Medikamente in Durchschnitt in drei Apotheken. IT kann auch dabei helfen, dass erforderliche Informationen zum Patienten sicher verfügbar sind.

PZ: Warum fällt es vielen Ärzten schwer, den Rat des Apothekers in seiner Funktion als Arzneimittelfachmann anzunehmen?

Grandt: Ich glaube, das stimmt nicht. Arzt und Apotheker arbeiten zum Beispiel im Krankenhaus sehr gut zusammen und ich höre nicht nur von meinen Ärzten, dass sie die pharmazeutische Unterstützung sehr wertschätzen. Das hat was mit den Rahmenbedingungen im ambulanten Bereich zu tun: Hier ist es deutlich schwieriger für den Apotheker, den Arzt zu erreichen und ihn dabei nicht in einem Patientenkontakt zu unterbrechen – was weder Patient noch Arzt wertschätzen. Und es ist für den Apotheker schwieriger zu erkennen, welche Risiken für den jeweiligen Patienten klinisch relevant und welche notwendigerweise zu akzeptieren sind. Nichts ist der guten Zusammenarbeit weniger zuträglich, als wenn der Apotheker den Arzt wegen eines klinisch nicht relevanten Risikos bei der Behandlung eines anderen Patienten unterbricht.

PZ: Wie lässt sich das ändern?

Grandt: Wir brauchen ein Konzept zur Zusammenarbeit von Arzt und Apotheker im ambulanten Bereich, das zwei wesentliche Elemente umfasst: Erstens eine praxistaugliche digitale Lösung für den Zugriff auf die jeweils benötigten Informationen zum Patienten und zur effizienten, digitalen, asynchronen Kommunikation. Und zweitens eine Verständigung darauf, welche Trigger tatsächlich dazu führen sollten, dass der Apotheker den Arzt kontaktiert.

PZ: Das Vorzeige-Modellprojekt der Apotheker ist die Arzneimittelinitiative in Sachsen und Thüringen (ARMIN). Dabei nutzen Ärzte und Apotheker einen elektronischen Medikationsplan, um sich zur Arzneimitteltherapie des individuellen Patienten auszutauschen. Auch die Aufgabenverteilung ist im gegenseitigen Einvernehmen klar definiert. Damit sind beide Probleme, die Sie angesprochen haben, gelöst, oder?

Grandt: ARMIN beinhaltet mindestens zwei Elemente, die jedes Projekt, das Optimierung von AMTS durch Verbesserung der Zusammenarbeit von Arzt und Apotheker anstrebt, aufweisen muss: einen gemeinsamen Zugriff auf die elektronisch gespeicherte Medikation und eine Verständigung über die Aufgaben von Arzt und Apotheker. Die Frage, wie effektiv und wie effizient die hierbei definierten Prozesse und inhaltlichen Regeln Behandlungsqualität und -sicherheit verbessern, wird die Evaluation des Projekts beantworten.

PZ: Aber den Austausch zwischen Arzt und Apotheker zu fördern, begrüßen Sie grundsätzlich?

Grandt: Ja. Es gibt wissenschaftliche Studien aus dem stationären Bereich, die eindeutig belegen, dass der Patient von der Einbindung des Apothekers in den Behandlungsprozess profitiert. Die Evidenz ist hier sehr gut. Diese Evidenzqualität fehlt aktuell noch für den ambulanten Bereich, obwohl es naheliegend ist, dass es für den Patienten höchst sinnvoll ist, die pharmazeutische Expertise des Apothekers strukturiert in den Medikationsprozess einzubringen. Es ist ambulant einfach viel schwieriger, Prozesse zu etablieren, die zu einer reibungslosen Zusammenarbeit und damit zu einem patientenrelevanten Zusatznutzen führen.

PZ: Wie kann die Digitalisierung zur Verbesserung der AMTS beitragen?

Grandt: Die Digitalisierung ist ein entscheidender Faktor, wenn es darum geht, die AMTS zu verbessern: Ohne Digitalisierung kann AMTS nicht erreicht werden. Es ist aber ein Trugschluss zu glauben, dass allein die Nutzung von Elektronik die Verbesserung von Behandlungsqualität und -sicherheit garantiert. Bestehende Abläufe einfach digital abzubilden, ist nicht zielführend und macht den Prozess durch den Einsatz von Elektronik teurer, aber nicht besser. Vielmehr muss der Einsatz von Technik einen patientenrelevanten Zusatznutzen bieten und dazu dienen, Fehler im Medikationsprozess zu vermeiden. Es wäre ja auch niemand von der Schreibmaschine auf den Computer umgestiegen, wenn das nicht Vorteile durch neue Funktionalitäten, wie zum Beispiel eine automatische Rechtschreibkontrolle, mit sich gebracht hätte. E-Health kann verlässlich behandlungsrelevante Informationen verfügbar machen, Entscheidungsunterstützung liefern – zum Beispiel für das Erkennen von Verordnungsrisiken – und die Abstimmung unter am Behandlungsprozess Beteiligten sowie das Monitoring der Therapie erleichtern.

PZ: Wenn sich die AMTS-Prozesse zunehmend digitalisieren, wie sehen Sie künftig die Rolle des Apothekers?

Grandt: Die Rolle des Apothekers wird sich verändern, ebenso wie die Rolle des Arztes. Was sich aber nicht verändern wird, ist, dass es für die Indikationsstellung und die Auswahl der Therapie inklusive der Medikation der Expertise des Mediziners bedarf. Genauso bleibt die pharmazeutische Expertise ein ganz wichtiges Element im Behandlungsprozess – das in Anbetracht neuer, potenterer, aber auch riskanterer Arzneimittel sogar noch wichtiger werden wird. Die Digitalisierung bietet die Chance, dass Arzt und Apotheker einfacher und besser als heute zusammenarbeiten, um vermeidbare Risiken zu erkennen und zu vermindern. Das scheitert aktuell häufig schon daran, dass das Telefon der einzige zeitnahe, aber denkbar ungeeigneteste Weg ist, um den Arzt zu erreichen – und anachronistisch anmutet in einer Welt, in der zeiteffiziente, asynchrone elektronische Kommunikation in praktisch allen Lebensbereichen Einzug gehalten hat.

PZ: Wie stehen Sie dazu, dass der Kontakt zwischen Patient und Heilberufler sich aktuell zunehmend auf das Internet verlagert – Stichwort Telemedizin und Online-Apotheken?

Grandt: Egal, wie man zum Internet steht: Viele Patienten nutzen es, um sich medizinische Informationen zu beschaffen. Informiert sein ist gut – falsch informiert sein, ist im Bereich der Gesundheitsvorsorge lebensgefährlich. Ich bin sicher, dass es weder vom Patienten gewünscht, noch inhaltlich zielführend wäre, das persönliche Gespräch mit dem Patienten durch Information und Kommunikation per Computer zu ersetzen Das gilt sowohl für die Praxen als auch für die Apotheken. Machen wir uns nichts vor: Der typische Patient ist älter, verunsichert durch seine Erkrankungen und nicht gewohnt, über wichtige Themen ausschließlich elektronisch zu kommunizieren. Er wünscht und er braucht den persönlichen Kontakt um zu verstehen, warum und wie er seine Arzneimittel anwenden sollte.

PZ: Was wird die Einführung des E-Rezepts verändern?

Grandt: Legitimer Anspruch des Patienten und Grundvoraussetzung ist, dass die freie Apothekenwahl uneingeschränkt erhalten bleibt. Das E-Rezept darf nicht nur ein elektronischer Ersatz für das Papierformular werden. Verordnung, ärztliche Aufklärung des Patienten, pharmazeutische Beratung durch Apotheker und Abgabe des Arzneimittels sind wichtige Komponenten des Arzneitherapieprozesses. Heute bei diesen Prozessschritten bestehende Risiken müssen durch Digitalisierung behoben werden. E-Rezept ist daher ein irreführender Begriff, der suggeriert, dass es um Verbesserung von Logistik, nicht aber um Behandlungsqualität und -sicherheit geht. Das aber wäre nicht zielführend.

PZ: Wie könnte die Sicherung der AMTS in fünf Jahren aussehen? Was sind die drei wichtigsten Angriffspunkte?

Grandt: Erstens: Es ist wichtig, dass die Gewährleistung von AMTS nicht als fakultative, von der Verfügbarkeit freier Ressourcen abhängende Behandlungskomponente betrachtet wird, sondern als legitimierende Voraussetzung für die Behandlung mit Arzneimitteln. So sieht es das Sozialgesetzbuch V vor und so erwartet es auch der Patient. AMTS muss erste Priorität bekommen. Primum nihil nocere – zunächst einmal nicht schaden. Das bedeutet auch, dass alle Entscheidungen im Gesundheitswesen – im Krankenhaus, in der Praxis, in der Apotheke und auf Systemebene – immer daraufhin analysiert  und danach bewertet werden müssen, welchen Effekt sie auf die AMTS haben. Dies gilt selbstverständlich auch für alle Schritte der Digitalisierung. Zweitens: Digitalisierung darf nicht zum Selbstzweck werden, sondern Hilfsmittel zum Ermöglichen einer fehlertoleranten neuen Versorgungsform. Drittens: Man muss verstehen, dass Prozessoptimierung nicht am grünen Tisch, sondern schrittweise in der Praxis entwickelt wird. Das gilt für die Einführung von E-Health wie auch für die Verbesserung der Zusammenarbeit von Arzt und Apotheker. Beides hat Potenzial.

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